Fallanalysen aus demselben Erhebungskontext:

Detig, Laura: Lernen beobachten – Lisa

Falldarstellung (mit interpretierenden Abschnitten)

Die Kinder sitzen an vier Gruppentischen, die im Quadrat vor der Tafel angeordnet sind. Ich sitze an Tisch vier, rechts vor der Tafel, dort sitzen: Lukas, Ahmed, Lena, Lisa, Karin und Sandra (wobei Karin und Sandra während des erstens Protokolls wegen Krankheit gefehlt haben).
Im hinteren Teil des Klassenraums gibt es den sogenannten ‚Bananenkreis’ (Schaumstoffkissen, die zu einem Kreis geformt sind), mit anschließender ‚Klassenbücherei’. Dort finden der Morgenkreis, das Lesen von Geschichten, Diskussionen etc. statt. Daneben ist die Computerecke mit zwei Computern.
Wenn Frau W. vorhat, etwas eingehend an der Tafel zu erklären, sagt sie den Kindern, dass diese in den ‚Kinositz’ kommen sollen, d.h. alle nehmen ihre Stühle und setzen sich in drei bis vier Reihen vor die Tafel.
Durch die ganze Klasse sind Wäscheleinen gespannt, an denen Babykleider hängen (später erfahre ich, dass das Anschauungsmaterial für den Sexualkunde Unterricht ist, der in der dritten Klasse auf dem Stundenplan steht).
Weitere Besonderheiten sind der Klassentiger Kurti, ein Kuscheltier, das mit den Kindern vor drei Jahren eingeschult worden ist und den Frau W. manchmal als „Negativbeispiel“ benutzt (er ist der schlechteste „Schüler“ der Klasse). Des Weiteren wird von halb- bis kurz nach zehn Uhr zusammen in der Klasse gefrühstückt. Während dieser Zeit ist es üblich, dass ein bis zwei Kinder der restlichen Klasse etwas vorstellen können, was sie von zu Hause mitgebracht haben. Um diese Zeit komme ich immer in die Klasse.

Protokoll (Februar ’ 05):
Die Kinder frühstücken. Heute hat Lukas einen kleinen Globus mitgebracht, der gleichzeitig ein Spitzer ist. Er setzt sich vorne vor die Tafel.

Lukas: „Ich weiß nicht, wie das heißt, aber ich finde es sehr schön, weil die Länder an der richtigen Stelle sind und man außerdem damit spitzen kann.“

Frau W. sagt ihm, dass das ein Globus ist. Sebastian meldet sich, Lukas nimmt ihn dran.

Sebastian: „Woher hast du den denn?“

Lukas: „Von Mc Paper.“

Sabine meldet sich, Lukas nimmt sie dran.

Sabine: „Ich habe das gleiche in groß mit einer Lampe drin.“

Lukas reagiert nicht darauf und Frau W. sagt ihm, dass er sich wieder hinsetzen kann. Frau W. will, dass jetzt die Frühstücksachen weggeräumt werden und fragt welche Tischgruppe wohl damit als erstes fertig ist. Meine Tischgruppe fängt an sich zu beeilen. Lukas schmeißt seine Brotverpackung quer durch den Raum in Richtung Mülleimer, der während dem Frühstück in der Mitte der Klasse steht. Er trifft nicht und rennt hinterher um sie hinein zu werfen.
Frau W. sagt, dass sie jetzt mit den Kindern üben will, wie man mit Wörterbüchern arbeitet und erklärt, dass das für die unangekündigten Diktate wichtig ist, die seit einigen Wochen regelmäßig stattfinden. (bei diesen dürfen die Schüler Wörterbücher benutzen). Immer zwei Kinder bekommen ein Wörterbuch. An meinem Tisch arbeiten jeweils Lukas und Ahmed und Lena und Lisa zusammen. Frau W. erklärt, dass sie anfängt und ein Wort sagt und welche Zweiergruppe es als erstes findet, sagt „Stopp!“. Lukas instruiert Ahmed wer was zu machen hat.

Lukas: „Du guckst immer auf der Seite, ich auf der anderen.“

Frau W. will das die Kinder ‚Holland’ suchen. Sebastian ruft „Stopp“ und sagt die Seitenzahl. Er darf sich das nächste Wort aussuchen und wählt ‚Grammatik’. Lukas hat sich das Wörterbuch gegriffen und es sieht aus, als würde er suchen. Melanie findet es zuerst.

Lukas: „Welches Wort überhaupt?“

Lisa: „Oh Mann ‚Grammatik’, es ist doch schon vorbei…“

Lukas: „Ach so…“

Melanie sucht sich ‚Pfirsich’ aus. Lukas lässt Ahmed nicht mit ins Buch schauen.

Ahmed: „Ey, lass mich doch auch mal…“

Lukas behält das Buch.

Lukas: „Wo ist ‚Ph’?“

Sedef hat das Wort gefunden.

Lukas zu sich: „ Das gibt es überhaupt nicht…“

Sedef will, dass jetzt nach ‚Notarzt’ gesucht wird. Lukas und Ahmed streiten sich um das Wörterbuch.

Ahmed: „ Du machst ja gar nichts, gib her!“

Frau W. mischt sich ein und sagt, dass Lukas das Buch in die Mitte legen soll.

Lisa findet ‚Notarzt’ zuerst und sucht sich ‚Schwein’ aus. Lukas und Ahmed lachen. Lukas nimmt sich wieder das Wörterbuch und sucht allein.

Lukas: „Wir müssen nach ‚Sch’ Suchen.“

Ahmed: „Das ist aber bei ‚S’…“

Lukas: „Es gibt kein ‚Sch’!“

Arne findet ‚Schwein’.

Lukas: „ Es gibt kein ‚Sch’ – ich kann das nicht!“

Frau W. setzt Ahmed zu Lena und Lisa zu Lukas- sie soll ihm suchen helfen. Arne sucht sich ‚Leopard’ aus. Lukas macht ein wütendes Gesicht, kippelt mit seinem Stuhl und lässt Lisa suchen. Dann macht er doch wieder mit. Lena findet das Wort. Lukas schiebt das Wörterbuch zu Lisa und sagt ihr, dass er das nicht kann. Lisa zuckt mit den Schultern.

Lisa: „ Ich auch nicht.“

Lukas: „Aber besser wie ich.“

Er fängt an kreuz und quer im Wörterbuch herumzublättern. Lena will, dass nach ‚Schwalbe’ gesucht wird. Lisa und Lukas suchen angestrengt. Sebastian ruft Stopp.

Lukas: “Oooohh Mann!!!”

Lisa: “Wir habens überblättert…”

Frau W. will jetzt ein anderes Spiel spielen. Und zwar soll sich von jeder Tischgruppe einer oder eine vor die Tafel setzen und dann wird um Punkte gespielt. Die anderen Kinder sollen auch nach dem Wort suchen, dürfen aber im Moment nichts sagen. Lukas will mitmachen und meldet sich, Lisa nicht.

Lukas: „Du bist aber doch die beste vom Tisch, du musst mitmachen.“

Lisa schüttelt den Kopf, Lukas meldet sich weiter. Frau W. nimmt Ahmed für Tisch vier dran. Sie teilt die vier Kinder vor der Tafel in zwei Gruppen Sebastian und Sedef von Tisch eins und zwei sind Gruppe eins und Sophie und Ahmed von Tisch drei und vier sind Gruppe zwei. Das erste Wort, das Frau W. sagt ist ‚Hose’. Lukas kippelt wieder mit seinem Stuhl, überlässt Lisa das Wörterbuch. Sophie findet das Wort zuerst deswegen bekommt Gruppe zwei den ersten Punkt.

Lukas: „Jaaaaa, gut Sophie!“

Frau W. lässt jetzt nach ‚Tulpe’ suchen. Lukas spielt mit seinem Spitzer-Globus, die Lehrerin sagt, er solle das lassen sonst sei er (der Globus) weg. Lisa findet ‚Tulpe’ und zeigt es Lukas. Er wird ganz aufgeregt und meldet sich, Frau W. kommt und nickt. Danach sitzt Lukas da und sieht gelangweilt aus. Sedef findet ‚Tulpe’, ein Punkt für Gruppe eins. Das nächste Wort ist ‚Ranzen’. Lukas fordert Sophie und Ahmed auf schneller zu suchen.

Sophie: „Halt die Klappe!“

Wieder findet Sedef das Wort. Die Kinder von Tisch drei und vier ärgern sich. Ahmed findet das nächste Wort (‚Wanze’), es herrscht wieder Gleichstand. Lukas klatscht. Jetzt soll wieder die ganze Klasse mitmachen. Tisch zwei findet das Wort zuerst- Gruppe eins hat gewonnen. Lukas ärgert sich.

Lukas: „Wir haben gewonnen, wir haben uns mehr Mühe gegeben!“

Frau W. teilt ein Arbeitsblatt aus. Darauf stehen wieder Wörter, die Kinder nachschauen sollen. Lisa setzt sich wieder zu Lena und Ahmed zu Lukas. Frau W. sagt, die letzten sechs Wörter auf dem Arbeitsblatt seien besonders und fragt warum. Arne meldet sich und sagt, die Wörter seien in der Vergangenheit geschrieben. Frau W. bejaht das und fragt weiter, was man beachten muss, wenn man diese im Wörterbuch nachschlagen will. Sabine meldet sich und sagt, man müsse sich überlegen, wie sie in der Grundform heißen. Frau W. bejaht auch das und will, dass die Kinder jetzt anfangen wieder in Zweiergruppen das Blatt zu lösen. Lukas und Ahmed finden die ersten drei Worte ohne Probleme. Lukas freut sich und sagt den Mädchen am Tisch die Lösung für die dritte Aufgabe.

Lena: „Wir hätten es auch gleich gefunden, auf der nächsten Seite steht es…“

Lukas findet das nächste Wort nicht und behauptet, das gäbe es nicht. Ahmed und er finden es dann doch und Lukas sagt den Mädchen eine falsche Seitenzahl. Lisa guckt irritiert.

Lisa: „Das geht doch gar nicht ‚B’ ist doch ganz weit vorne!“

Lukas: „Ich wollte euch verarschen!“

Lisa: „…funktioniert aber nicht!“

Die Mädchen sind inzwischen weiter und decken ihre Ergebnisse mit einem Blatt ab. Lukas überlässt das Wörterbuch wieder Ahmed und baut aus seinem und Ahmeds Mäppchen eine Mauer zwischen dem Tisch der Mädchen und dem von ihm und Ahmed. Er fängt wieder an mit seinem Stuhl zu kippeln und schlägt Ahmed vor, bei dem nächsten Wort einfach irgendeine Zahl zu schreiben. Frau W. fragt, wem es jetzt leichter fällt Wörter zu finden. Die meisten melden sich.

Lukas: „Ich aber nicht!“

Analyse
Lukas hat etwas mitgebracht dessen doppelte Bedeutung er versteht, dessen (eine) Begrifflichkeit er aber nicht kennt. U.a. lässt sich das daraus ablesen, dass er nicht das ihm geläufige Wort ‚Welt’ benutzt; er weiß, dass er die Welt nicht mitbringen kann. Außerdem weiß er, dass „die Länder an der richtigen Stelle sind“. Dass er sich für den Begriff ‚Globus’ nicht zu interessieren scheint, könnte daran liegen, dass dieses Objekt in erster Linie ein „schöner“ Spitzer für ihn ist und erst nachrangig die Form eine Rolle spielt.
Der andere interessante Aspekt an dieser Situation ist, dass sie ihn – mit Erlaubnis und Unterstützung der Lehrerin – in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt; etwas Interessantes (der Globus), macht auch ihn interessant. Das könnte auch der Grund sein warum er auf Sabines Einwurf, sie hätte das gleiche in groß zu Hause, nicht reagiert.
Von Anfang an übernimmt er selbstverständlich die „Macht“ über das Wörterbuch, Ahmed bekommt es nur, wenn ihn andere Dinge ablenken oder es ihm ausdrücklich von der Lehrerin gesagt wird. Sein Einwurf ist immer wieder, dass es den Anfangsbuchstaben des zu suchenden Wortes gar nicht gäbe, bis er beim fünften Wort (‚Schwein’) sagt, er könne das nicht. Darauf reagiert Frau W. indem sie Lisa neben ihn setzt. Mit dieser Hilfe (oder ist es eine Sanktion?) ist er erst mal gar nicht einverstanden, weiß aber, dass sie die Aufgabe besser beherrscht, sagt ihr das auch und überlässt ihr resigniert das Wörterbuch.
Die nächste Aufgabe ist das „Gruppenspiel“ vor der Tafel. Man merkt, Lukas möchte mitspielen, es ist ihm aber auch wichtig, dass seine Gruppe gewinnt. Deswegen sagt er Lisa, sie solle mitspielen, da sie „die beste vom Tisch“ sei- ohne jedoch aufzuhören, sich zu melden. Er ist derjenige, der das Lernspiel zu einem Wettkampf werden lässt – er feuert die Kinder seiner Gruppe an und ärgert sich am lautesten, wenn die andere Gruppe einen Punkt macht. Er überlässt während dieser Zeit das Wörterbuch völlig Lisa und behauptet trotzdem, als die andere Gruppe gewinnt, dass seine Gruppe sich mehr Mühe gegeben habe.
Die Arbeit mit den Arbeitsblättern (ohne Zeitdruck) fällt ihm um einiges leichter. Er freut sich, schneller zu sein als die beiden Mädchen und teilt ihnen das mit, in dem er ihnen eine Lösung sagt. Sie reagieren nicht mit Dankbarkeit sondern mit Ablehnung. Daraufhin „verarscht“ er sie bei der nächsten Lösung. Als er merkt, dass die Mädchen wieder schneller sind und das Wörtersuchen ihm wieder schwerer fällt, verliert er das Interesse. Sein abschließender Kommentar spiegelt bestimmt zum Teil die Erfahrungen dieser Stunde wieder, auf der anderen Seite aber auch seine Rolle in der Klasse und wieder sein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit

Aus dem Verlauf des Protokolls bzw. aus dem Aktionsmuster von Lukas lässt sich heraus lesen, dass er den ‚heimlichen Lehrplan’ bereits verinnerlicht hat; mit seinem „störenden“ Verhalten versucht er seine mangelhaften schulischen Leistungen zu kompensieren. Dass die Aufmerksamkeit, die ihm dadurch entgegengebracht wird, überwiegend negativ ist, ist für ihn nachrangig. Er ist nicht der einzige, der Schwierigkeiten hat, unter diesem Zeitdruck die vorgegebenen Wörter zu finden, aber er ist der einzige, der das immer wieder mitteilt und sich dadurch der Aufmerksamkeit seiner Mitschüler und der Lehrerin versichert.
Wenn hier ein Lernprozess stattfand, würde ich ihn als negativ bezeichnen. Er hat gelernt „Angst“ vor Wörterbüchern zu haben und von der Lehrerin keine Unterstützung erwarten zu können. Bemerkenswert finde ich allein den Inhalt dieser Stunde. Bereits Kinder in der dritten Klasse eignen sich hier kein Wissen an, sondern lernen lediglich ein „Werkzeug“ kennen das Wissen bereitstellt.

Protokoll (März’ 05):
Wieder komme ich während des Frühstücks. Till liest gerade etwas aus einem Band der ‚drei Fragezeichen’ vor. Die Klasse ist nicht besonders aufmerksam. Lukas läuft auf Zehenspitzen zum Mülleimer, um sein Schokoladenriegelpapier zu entsorgen. Das machen dann auch noch zwei andere Kinder. Die Lehrerin weist auf die Abmachung hin, niemand solle aufstehen, wenn jemand liest. Sie schaut Lukas an. Er schüttelt den Kopf. Till ist fertig mit Lesen, es wird geklatscht. Lukas macht so etwas wie ‚huu, huu’. Frau W. erklärt die Frühstückszeit für beendet. Die Kinder sollen sich nun im ‚Kinositz’ vor die Tafel setzten. Kurti der Klassentiger, erzählt Frau W., sei letzte Woche mit seinen Freunden Tom und Möpper Pizza essen gewesen und würde nun gern wissen, wie es geht, die einzelnen Preise zusammen zurechnen. Sie schreibt drei Blöcke mit jeweils drei Dezimalzahlen an die Tafel (für Pizza, Eis und Getränke), dann will sie wissen, was an diesen Zahlen anders ist. Lukas und Till flüstern.

Melanie: „Die haben ein Komma…“

Lukas: „…vorne ist Euro und hinten die Cent.“

Frau W. will, dass sich Lukas von Till wegsetzt. Er schiebt seinen Stuhl zurück. Jetzt ruft die Lehrerin nacheinander drei Kinder auf, die an der Tafel jeweils die drei Blöcke zusammenrechnen sollen. Und dann ein viertes, das die Gesamtsumme ausrechnet. Lukas kippelt mit seinem Stuhl, plumpst dann abrupt nach vorne und meldet sich. Nach kurzer Zeit senkt er den Arm wieder und stellt den vorderen Teil seiner Füße hinten auf Tills Stuhl.

Till: „Hör zu!“

Lukas nickt, seine Füße nimmt er aber nicht von Tills Stuhl.

Till (laut zu Frau W.): „Der Lukas tritt die ganze Zeit gegen meinen Stuhl und schiebt mich.“

Lukas nimmt seine Füße vom Stuhl und schiebt sich noch mal ein gutes Stück von Till weg. Frau W. fragt ob die beiden einen Wasserstand brauchen . Beide schütteln den Kopf. Frau W. löst den Kinositz auf und verteilt ein Arbeitsblatt mit Dezimalrechenaufgaben. Sie will wissen, welche Tischgruppe am leisesten sein kann.
Lukas schreibt die Zahlen, die in einer Reihe geschrieben sind untereinander auf den dafür vorgesehenen Platz. Immer wenn er den Strich unter die letzte Zahl im Zahlenblock zieht, dreht er das Blatt um 90° und schiebt es zurück, um dann wieder das Ergebnis auszurechnen. Nach einer Weile lehnt er sich auf seinem Stuhl zurück, zieht die Stirn in Falten und sagt: „Ach, Mann“, er fragt etwas leise in die Tischrunde, aber die anderen Kinder reagieren nicht. Er schaut bei Ahmed, dann konzentriert er sich wieder.
Ich sehe, dass er mit der zweiten Zeile anfängt. Er murmelt vor sich hin, legt seinen Kopf auf seinen Arm und schreibt so weiter. Dann richtet er sich wieder auf, legt sich dann wieder hin und schielt zu Lena herüber. Er schaut, wo Lisa ist und stößt ein „Huu“ aus. Sie fängt mit der vierten Zeile an. Frau W. unterbricht und bittet die Kinder, kurz die Stifte hinzulegen, weil sie gesehen habe, dass es bei einigen Probleme mit 10ern und 1ern, bei Cent und Euro gäbe. Sie erklärt es noch einmal. Lukas ist der einzige, der während dieser Zeit seinen Stift nicht weglegt und einfach weiterrechnet, es sieht aus, als wolle er aufholen. Er liegt wieder auf dem Tisch, kommt hoch, dreht sein Blatt um 90°, dreht es zurück, legt sich wieder hin. Ich sehe, er ist bald fertig. Er schaut wie weit die anderen Kinder sind und beeilt sich. Währenddessen liegt er wieder mit dem Oberkörper auf dem Tisch.

Lisa: „So jetzt bin ich fertig.“

Lena: „Warte ich auch gleich.“

Lena steht auf.

Lukas: „Im Blatt sind keine Löcher.“

Er geht zu Frau W., die fragt ihn erstaunt, ob er fertig sei.

Lukas: „Ja, aber das Arbeitsblatt hat keine Löcher.“

Frau W. gibt ihm den Locher und sagt, er solle ihn vor die Tafel auf den Boden stellen und dann den Computer anmachen. Zur Klasse gewendet bittet sie die, die fertig sind, ihr Blatt umzudrehen – sie würden später die Lösungen vergleichen.

Analyse
Lukas läuft auf Zehenspitzen zum Mülleimer. Ich habe nicht den Eindruck er tue das, um keine Geräusche zu machen, damit Till nicht beim Lesen gestört wird. Es ist in der Klasse sowieso nicht leise. Er weiß, Frau W. will nicht, dass während dieser Zeit aufgestanden wird, das zeigt er indem er auf den Zehen geht. Gleichzeitig ist es eine vorweggenommene „Besänftigungstaktik“, was sich an seinem Kopfschütteln zeigt, als Frau W. ihn dafür zurechtweist.
Bei der Rechnung vor der Tafel wechseln sich Konzentration und Ablenkung ständig ab: Er meldet sich zwar einmal, als ihn Frau W. aber dann nicht aufruft, lenkt er sich (und Till) wiederum ab bzw. nimmt Kontakt zu Till auf, indem er seine Füße hinten auf Tills Stuhl „ablegt“. Während der Arbeitsphase am Platz wirkt Lukas fahrig und gestresst: Er wiederholt immer wieder die gleiche Abfolge von Bewegungen; Abschreiben, Blatt-drehen, Blatt-zurück-drehen, den-Kopf-auf-den-Arm-legen und die Aufgabe-ausrechnen. Diese Abfolge unterbricht er, um zu schauen, wie weit seine Tischnachbarn sind. Beides „kostet“ ihn Zeit. Es ist ihm anzusehen, dass es ihn unter Druck setzt, langsamer zu sein als die anderen. Lukas arbeitet weiter, als Frau W. unterbricht. Er nutzt als einziger diese Phase des wiederholten Erklärens, um weiterzurechnen – mit dem Erfolg, dass er als einer der ersten fertig ist und Frau W. damit erstaunt.
Erstaunt hat mich sein Umgang mit diesem Erfolg. Statt stolz seine Schnelligkeit zur Schau zu stellen, geht er zu Frau W. mit der Feststellung, es seien keine Löcher im Arbeitsblatt. Ich hatte den Eindruck, dass Lukas ganz bewusst, in der Phase, in der eigentlich Zuhören gefordert war, weiterrechnete. So hatte er in dieser Stunde ein Erfolgserlebnis und fiel „positiv“ auf, indem er etwas ignorierte, was die Lehrerin für wichtig hielt. Lernte er dadurch selbstbestimmt zu handeln?
Über seine Reaktion, am Ende der Stunde, mutmaße ich dass er – da ihm bewusst war dass er nur durch „Schummelei“ so schnell fertig war – nicht direkt mit einem „ich bin fertig“ zu Frau W. gehen konnte, sondern sich über das ungelochte Arbeitsblatt die Anerkennung für seine Leistung geholt hat. Drei der sechs Jungen aus der Klasse haben jeweils ein Plakat auf dem ein Wasserglas abgebildet ist. Stören sie die Lehrerin zu sehr, steigt der Wasserstand. „Läuft“ das Wasserglas über, müssen sie mit einer Strafe rechnen.

Interpretation (zusammenfassend)

Vorab soll erwähnt werden, dass ich Frau W. als sehr engagierte und den Kindern zugewandte Lehrerin erlebt habe. Sie macht sich viele Gedanken um ihre SchülerInnen und sucht nach kindgerechten Methoden, um die zu vermittelnden Lerninhalte zu transportieren. Hier möchte ich auf eine von ihr angewandte Methode – die „Wettkampfspiele“ – eingehen, und zwar weil diese für mich sehr gut den Charakter von Schule verdeutlicht: Anpassung und Selektion. Frau W. verknüpft die Vermittlung von Lernzielen mit Spielen, bei denen immer dazugehört, gewinnen zu können. Sie versucht die SchülerInnen auf diesem Weg zu motivieren. Das scheint ihr zunächst auch zu gelingen. Eine Folge dieses Angebots ist aber, dass es auch Verlierer gibt. Gewinnen und verlieren ist stets mit persönlicher Anerkennung oder persönlicher Abwertung verbunden. Die, die verlieren, müssen in diesen Lernphasen zweierlei können: Sie müssen die Lerninhalte trotzdem beherrschen und sie müssen ihr „versagen“ verarbeiten. Ein Kind mit einem geringeren Selbstwertgefühl, dessen Wünsche nach Anerkennung und Akzeptanz in großen Teilen unerfüllt sind, gerät in während den „Lernspielen“ schneller unter Stress. Es verhält sich fahriger und unkonzentrierter – für es steht der Aspekt „gewinnen“ höher als das Lernen und Verstehen der Aufgaben.
Und so erfüllt sich, unbeabsichtigt „hinter dem Rücken“ der Lehrerin, ein zweites Lernziel (der ‚heimliche Lehrplan’): „Um Beachtung zu erhalten, muss ich andere Mittel einsetzten als Lernen, denn darin sind die anderen besser. Ich bin ein Loser.“
So muss Lukas durch Stören, durch laute Äußerungen auffallen. Auch muss er Tricks anwenden, um doch mal zu „den Guten“ zu gehören. Er rechnet heimlich weiter, als die Lehrerin die Kinder dazu auffordert, die Stifte hinzulegen. Dieser Zeitvorteil führt dazu, dass er als einer der ersten fertig wird.
Lukas (hinterfragt auch, aber auf eine völlig andere Art. Er) meldet sich zu den Spielen, obwohl er weiß, dass er keine Chance hat. Sagt während dem Melden aber zu Lisa, dass sie das machen soll. Ihm geht es um das Spiel. Seine Gruppe soll gewinnen und versucht Lisa dafür einzuspannen. Er setzt sich für „höhere Ziele“ ein, für den Sieg der eigenen Gruppe. Dabei entlarvt er den didaktischen Ansatz der Lehrerin. Er schafft Sportplatzatmosphäre und macht ihn damit zu dem was er ist: Ein Wettkampf. So persifliert er das „pädagogische“ Konzept der Lehrerin.
Die Hospitation, wie auch die Diskussionen im Seminar, haben mir gezeigt wie eng und festgelegt der „Spielraum“ von Schule ist; eine Folgeerscheinung die zwangsläufig entsteht in einer Institution, die davon ausgeht das Lernen produzierbar ist.

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