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Falldarstellung

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen in nicht allzu großem Abstand zwei Karikaturen von Teresa Habild(1), mit denen sie sich Absurditäten des deutschen Schulsystems vornimmt (Karikatur Jornitz Teil 2). Das Interessante an diesen Karikaturen ist, dass deren Pointen sich auf den zweiten Blick gegen die Zeichnerin wenden und als Ausdruck eines Ressentiments kenntlich werden. Die Karikaturen legen nicht den Finger in eine Wunde, stellen nicht etwas selbstverständlich Gewordenes verfremdet dar, um so humorvoll das an ihm Falsche sichtbar zu machen. Vielmehr bleibt ein schaler Geschmack zurück. Das Lachen kippt um in Verärgerung. Worin diese Wirkung beschlossen liegt, soll im Folgenden gezeigt werden.

Auf den ersten Blick präsentiert die abgebildete Karikatur in der ihr eigenen überspitzenden Weise das Tohuwabohu einer Schulklasse. Als extremer Kontrast werden uns die hoch toupierte Lehrerin mit Brille, das brave Schulmädchen mit Faltenrock und Schulranzen sowie die Klassenkameraden und die Schmierereien an Wand und Tafel gezeigt. Die gesammelten Erzählungen über das, was hinter den ansonsten verschlossenen Schulklassen passiert, hat die Zeichnerin drastisch, dabei aber künstlerisch bescheiden und kompositorisch phantasielos ins Bild gesetzt. Schnell ist nicht nur ein Mangel an poetisch vermittelter Nähe die Hans Traxlers Schulszenen so bezwingend machen; vgl. PÄK 19 zu bemerken, sondern eine affektive Distanz der Zeichnerin gegenüber der dargestellten Realität. Das Bild wirkt schnell in der Übertreibung platt, seine Pointe fällt auf die Karikaturistin selbst zurück.
Die gezeichnete Szenerie spielt auf zwei verschiedene Stadtteile in Frankfurt am Main an. Die an der Wand hängende Girlande links zeigt, dass es sich um eine (Grund-)Schulklasse im Gallus-Viertel handelt, in die die neue Schülerin aus dem Westend-Viertel von der Lehrerin eingeführt wird. Damit stehen sich das Gallus als Stadtteil mit einem hohen Migrantenanteil und einer tendenziell gering verdienenden Bevölkerung und das gutbürgerliche, wohlhabende Westend gegenüber. Beides sind Stadtteile, die nah an Frankfurts Innenstadt liegen. Das Gallus gilt als einer der „sozialen Brennpunkte“ Frankfurts, der sich in unmittelbarer Nähe zu den besten innerstädtischen Wohnlagen und den Bankentürmen befindet. Der das Gallus südlich begrenzende Westhafen ist inzwischen zu einem der teuren Wohn-Viertel samt Familien mit kleinen Kindern geworden.
Die Karikatur zeigt, dass Eltern aus dem Westend ihre Tochter in die neue Schule schicken. Sie tun das nicht wegen des Zwangs, das eigene Kind in die Schule des Viertels zu schicken, sondern aus pädagogisch-politischer Überzeugung. Die Eltern stehen im Türrahmen der Klasse und winken freundlich der Tochter zum Abschied zu. Diese ist schon vollkommen in der Obhut der Lehrerin angekommen und blickt ebenfalls freundlich und erwartungsfroh in die Klasse, d.h. in die Gesichter ihrer neuen Mitschülerinnen und Mitschüler. Die Künstlerin zeichnet das Mädchen als wohlbehütete höhere Tochter: Sie trägt Rock, weiße Bluse und Pullunder und gibt damit zu erkennen, dass sie modisch nicht auf der Höhe ist, sondern von ihren Eltern wie für den sonntäglichen Verwandtenbesuch gekleidet wurde. Sie repräsentiert das Idealbild einer gesitteten Schülerin, die mit Ranzen und Kuscheltier vielleicht doch nicht wirklich gut für den ersten Schultag in der neuen Klasse ausgerüstet ist.
Den Übergang zwischen ihr und der Klasse vermittelt die hinter ihr stehende Lehrerin, die fürsorglich die Hände auf die Schultern des Mädchens legt. Diese beiden stehen der anderen Einheit der Schulklasse des Gallus‘ gegenüber. Nichts von der Freundlichkeit des Mädchens und der Lehrerin findet sich auf der anderen Seite wieder. Hinter den in Reihen aufgestellten Schultischen schaut der pädagogischen Dyade ein Panoptikum des Grauens entgegen. Dargestellt sind der „Neger“ mit dickem schwarzen Haar und dicken Lippen, die Kopftuch tragende Muslima, der negativ dargestellte „typisch“ türkische, chinesische und wohl auch deutsche Mitschüler, der Zigarre rauchende Langhaarige, der kotzende Punker, der Blätter bzw. Schulhefte zerreißende und der Papierkugeln werfende Schüler. Es werden Tornister ausgeschüttet und die Beine auf dem Tisch gelegt oder einfach auf den Armen sich zum Dösen nieder gelassen.
Die Karikaturistin lässt kein Klischee aus: weder eines die Nationalität betreffend, noch eines über deviantes Schülerinnenverhalten. Über diese beiden Dimensionen werden die Schülerinnen und Schüler als Horde unzivilisierter Rabauken gekennzeichnet. Kein einziges der Kinder lässt sich mit dem Bild eines lernbegierigen und nach Bildung strebenden Schülers vermitteln. Hier scheint nur noch Roland Kochs Ruf nach einem Erziehungscamp zu helfen.
Dass die Schüler dennoch etwas in der Schule gelernt haben, zeigen die Kommentierungen an Wand und Tafel. Die Zeichnung suggeriert, dass das, was der Schülerschar einfällt, wenn sie die Kulturtechnik des Schreibens anwendet, bloße, gegen Institution und Mitschülerin gerichtete Beschimpfungen sind.
Die Karikaturistin liefert in zweifacher Weise Text zum Bild. Zum einen lässt sie die Lehrerin die Szene kommentieren. Diese erklärt der Schulklasse, dass „Die kleine Sophie aus dem Westend […] eine neue soziale Herausforderung“ suche. Sie bedient sich dabei einer „politisch korrekten“ und damit zugleich die Situation ironisierenden Formulierung. Eine größere Diskrepanz als die zwischen der Szenerie in der Klasse und dem hölzern pathetisierten Spruch lässt sich schwer denken.
Eine Herausforderung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie der Weiterentwicklung der Person und ihres Könnens dient; dass es sich um ein erstrebenswertes Ziel handelt. Das, was hier als Herausforderung von der Lehrerin bezeichnet wird,
wird jedoch als selbstmörderisches Unternehmen dargestellt. Die Tochter aus gutem Hause soll lernen, sich mit den Kindern auseinander zu setzen, die offensichtlich eine andere Kinderstube erlebt haben. Die ihr zugemutete Herausforderung zielt auf den Umgang mit der atomisierten Schar ungezogener, unzivilisierter Kinder, denen man bereits jede Schandtat zutrauen möchte. Soll sie also Schule als ein Suvival Camp erleben, soll sie die Mitschüler zivilisieren helfen? Oder ist sie nur das Opfer des elterlichen Gutmenschentums, der naiven Nachhut der multikulturellen Gesellschaft?
Nichts spricht auf dem Bild dafür, dass es eine wechselseitige Herausforderung wird. So wie die Karikatur angelegt ist, wird das Kind aus dem Westend durch den Willen der Eltern in eine Mördergrube geworfen. Damit wäre klar, an wen sich der Witz adressiert, wer hier aufgespießt werden soll: die dummen, weil integrationsseligen Eltern.
Des Weiteren fügt die Künstlerin der Karikatur einen Untertitel bei, der da lautet: „Individuelle Förderung durch freie Schulwahl“. Sie greift damit einen Slogan der hessischen Landesregierung und deren damaliger Kultusministerin auf, der gegen die sozialistische Einheitsbeglückungsschule gerichtet war. Bezogen auf die Grundschule ergibt sich mit ihm freilich gemeinhin ein anderes Problem. Es besteht darin, wie die im Viertel übrig gebliebene oder neu hinzugezogene deutsche Mittelschichtsfamilie es verhindern kann, dass ihr Kind in die Schule eingewiesen wird, die uns die Zeichnung zeigt. In der Wirklichkeit geht es vom „Gallus“ ins „Westend“. Die Zeichnerin stellt also die Verhältnisse auf den Kopf.
Der Kommentar besagt, dass die Freiheit der Entscheidung zu unverantwortlichem pädagogischen Handeln der Eltern führt. Der Klientel der FAZ
wird das Zerrbild der Integration zur Belustigung vorgeworfen: Es gibt gut betuchte Eltern, die die Vermengung von sozialen Gruppen zum Nachteil der eigenen Kinder betreiben. Sie werfen sie den Wilden zum Frass vor, indem sie die Konfrontation der Tochter mit kultureller Vielfalt unter ihren Altersgenossen als Gewinn für ihre Tochter betrachten, wo das sehende Auge nur Unkultur erblickt. Um die Dummheit dieser Mittelschicht kenntlich zu machen, greift die Karikaturistin zu Zynismus und Rassismus gleichermaßen.
Der Skandal liegt für die Zeichnerin darin, dass Eltern entgegen den guten Absichten der freien Schulwahl, diese Möglichkeit nicht zum Besten ihrer Kinder verwenden, sondern zu deren Nachteil. Dabei bleibt der tatsächliche Skandal, dass das Schulsystem es nicht schafft, seiner Bildungsaufgabe für Kinder aller Nationalitäten und Schichten nachzukommen und umzusetzen, unthematisiert. Vielmehr enthält die Karikatur eine Festschreibung und ein stilles Einverständnis in die gesellschaftlichen Gegebenheiten. So ist es eben: Es gibt Schulen und Stadtteile, die der Verwahrlosung preis gegeben sind. Davon sollen sich die besser Gestellten und deren Nachkommen fernhalten. Die Welt soll so bleiben wie sie ist, eingeteilt in Society und Prekariat.

Inhaltlich plädieren beide Zeichnungen für eine Aufrechterhaltung homogener Milieus und schreiben so gesellschaftliche Zuschreibungen fort. Dabei steht dem zivilisierten Bürgertum eine unzivilisierte und unzivilisierbare Horde gegenüber, vor der es sich nur durch Abschottung schützen kann. Das Beste, was getan werden kann, um das Bürgertum nicht zu (ver)stören, ist, die Ghettoisierung weiter zu betreiben. Mit dieser Reaktion könnte versucht werden, die Zeichnungen zu retten. Vielleicht ist es das Kalkül der Zeichnerin, dass das Lachen über die Karikaturen diejenigen kenntlich macht, die da lachen. Sollte also eine subversive Absicht in der Nutzung der Klischees und Ressentiments liegen? Kann davon ausgegangen werden, dass den Leserinnen und Lesern das Lachen im Halse stecken bleibt, weil sie sich bei ihren Vorurteilen ertappen?
Dass dem wohl nicht so ist, zeigt sich, wenn gedankenexperimentell
Ober- und Unterschicht in den Karikaturen vertauscht werden. Für die erste
Karikatur bedeutete dies, dass nun eine anpassungsbereite Unterschichtsfamilie ihr Kind in einer vorbildlichen Schule mit lern- und wissbegierigen Schülerinnen und Schülern anmeldet und abgibt. Nichts wäre daran witzig, sondern als beispielhaft würde angesehen werden, dass sich Eltern ohne höheren Bildungsabschluss der Bedeutung eines solchen bewusst sind und dafür Sorge tragen, dass ihre Kinder diesen erreichen. Die Orientierung für die Kinder nach oben funktioniert; die nach unten degeneriert zum Ausflug in einen Zoo.
Bei der zweiten Karikatur verhält es sich ähnlich. Tauchten die Eltern aus dem Westend nun bei der Elternsprechstunde vor dem Pult der Lehrerin auf, so wäre die Betrachterin geneigt, sich auf die Elternseite zu schlagen und gegen die eingeschränkte Sichtweise der Lehrerin zu polemisieren. Auch hier wäre nichts daran witzig und auch hier würde sympathisiert mit denjenigen, die das höhere Bürgertum verkörpern. Mit der Vertauschung von Oben und Unten taugen die Karikaturen noch nicht einmal zum schlechten Witz. Sie affirmieren niedere Abgrenzungsgefühle und -bedürfnisse, klären sie aber nicht über diese auf. Ihre Wirkung lebt davon, dass sie im Medium der Karikatur erlauben, ungehemmt auszusprechen, was ansonsten political correct besser ungesagt bleibt.
Das Nicht-Zünden der Karikaturen liegt vor allem im falschen Verständnis von Gleichheit begründet. Während die Karikaturen für eine Ungleichheit plädieren, die sich auf die Seite der „besseren“ Gesellschaft stellt und sie darin bestärkt, ihre Nachkommenschaft vor den Übergriffen der bildungsfernen Schichten zu sichern, lassen sie unthematisiert, dass es vor allem um die Anerkennung der Unterschiede auch in den Schulklassen geht und diese je eigene Formen des Umgangs und der Hilfe bedürfen. Der Schulklasse im Gallus muss kulturelle Vielfalt nicht vermittelt werden; sie ist tagtäglich Teil von ihr. In dieser Vielfalt muss jedoch erst ein gemeinsames Verständnis von Unterricht hergestellt werden. Dieses Verständnis bringt die Schülerin aus dem Westend augenscheinlich schon mit; ihr wiederum fehlt ein Verständnis von anderen Lebens- und Kulturformen.
Nichts anderes liegt bei der zweiten Karikatur vor. Die Überlegenheit gegenüber Menschen, die sich der Situation nicht angemessen ausdrücken, wird nicht dadurch harmlos, indem man sie als Witz inszeniert. Für die Partizipation ihrer Kinder an höheren Schulabschlüssen einzutreten, ist nicht unanständig, sondern Ausdruck einer demokratischen Gesellschaft.

Fußnote:

(1) Die Karikatur ist von Teresa Habild und auf der Webseite der Künstlerin unter folgender URL herunterladbar: http://www.h-bild.de/fazl2.html. Das Copyright aller Bilder liegt bei Teresa Habild. Für eine weitergehende Nutzung der Karikatur, die über die übliche Verwendung der Quelle (Pädagogische Korrespondenz 2008, 38, S. 98-104) hinausgeht, wenden Sie sich bitte an Teresa Habild (info@h-bild.de).

Mit freundlicher Genehmigung von Budrich UniPress
http://www.budrich-journals.de/index.php/pk

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