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Falldarstellung

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen in nicht allzu großem Abstand zwei Karikaturen von Teresa Habild (1), mit denen sie sich Absurditäten des deutschen Schulsystems vornimmt. Das Interessante an diesen Karikaturen ist, dass deren Pointen sich auf den zweiten Blick gegen die Zeichnerin wenden und als Ausdruck eines Ressentiments kenntlich werden. Die Karikaturen legen nicht den Finger in eine Wunde, stellen nicht etwas selbstverständlich Gewordenes verfremdet dar, um so humorvoll das an ihm Falsche sichtbar zu machen. Vielmehr bleibt ein schaler Geschmack zurück. Das Lachen kippt um in Verärgerung. Worin diese Wirkung beschlossen liegt, soll im Folgenden gezeigt werden.

Dass diese Darstellung des (Frankfurter) Schulsystems kein Ausrutscher der Karikaturistin war, zeigt eine weitere Zeichnung (vgl. Karikatur Jornitz 1), die in dieselbe Kerbe schlägt. Nun nimmt sich die Zeichnerin die aus der Unterschicht stammenden Eltern vor, die ihr Kind partout aufs Gymnasium schicken wollen. Wiederum stehen sich zwei Einheiten gegenüber: Auf der einen Seite findet sich das klischeehafte Bild einer Grundschullehrerin mit Lesebrille, einfachem Haarschnitt und unmodischer Bluse. Sie sitzt im leeren Klassenzimmer hinter ihrem Lehrerinnenpult und hält Elternsprechstunde ab. Ob sie die Zeit zwischen den Besuchen nutzt, um Schülerarbeiten zu korrigieren oder dabei ist, sich Notizen zum Elterngespräch zu machen, bleibt unklar. Einzig die roten Striche auf dem Blatt Papier verweisen auf die korrigierenden Eingriffe ihrer Lehrtätigkeit.
Ihr gegenüber hat sich die Triade Vater, Mutter, Kind aufgebaut. Alle drei sind körperlich massig dargestellt. Sie werden über Körperform und Kleidung als derbe Vertreter der Unterschicht charakterisiert, die zwar nicht gänzlich verwahrlost in der Bildungsanstalt erscheinen, aber körperliche Attribute zur Schau stellen, die sie unmittelbar als tump, brutal und frech zeigen. Die Frau trägt Leoparden-T-Shirt und hat eher rot lackierte Krallen als Fingernägel, die sie in die Schultern ihres Zöglings gräbt. Der Mann trägt ein seine Muskelkraft kommentierendes Pit Bull-T-Shirt und der Junge zeigt über seinen verblödeten Gesichtsausdruck und die unnatürlich nach außen gedrehten Hände, dass er tat- sächlich von einem anderen Stern kommt, der der Erde den Krieg erklärt hat. Aliens hätten nicht besser dargestellt werden können.
Dieses Horrorbild einer Familie nimmt nun die Elternsprechstunde der gutbürgerlichen Lehrerin wahr und wendet sich an sie mit den Worten: „Nur weil Sie doofe Kuh nach vier Jahren immer noch nicht kapiert haben, wie superschlau unser Kevin ist, lassen wir uns doch von Ihnen nicht seine Karriere als Astrophysiker versauen!“
Die Ausdrucksweise des Vaters entspricht dem Klischee des kulturlosen Proleten, der nicht nur seinem Nachkömmling einen modischen, aus einem amerikanischen Blockbuster-Film entlehnten Vornamen gegeben hat und damit zu verstehen gibt, wes‘ Geistes Kind er ist, sondern er wendet sich auch in unangemessener, beschimpfender und aggressiver Weise an die Lehrerin. Er missachtet damit ihren Status als Vertreterin einer Bildungseinrichtung, der vermeintlich Respekt gebührt. Der Vorwurf der Eltern greift die professionelle Beurteilung der Lehrerin über das Kind als Schüler an. Die Karikatur gibt zu verstehen, dass die Eltern meinen, ein Genie, einen zukünftigen Astrophysiker zum Sohn zu haben, vielleicht weil er täglich viele Stunden „Starwars“ guckt. Sie verlangen drohend, dass das Kind von der Grundschullehrerin eine Empfehlung für das Gymnasium ausgesprochen bekommt.
Der der Karikatur beigegebene Kommentar „Immer mehr Eltern zwingen Kinder aufs Gymnasium“ zeigt erneut, wohin die freie Schulwahl der Eltern, die nicht mehr an die Empfehlung der Grundschule gebunden sind, führt: Unterschichtseltern als Exemplare der Unkultur maßen sich an, den Bildungsstand ihrer Kinder besser einschätzen zu können als die Repräsentantin der Bildungseinrichtung, die Lehrerin. Gegen solche rohe, verbale Gewalt scheint die verschreckt dreinblickende Lehrerin vollkommen ohnmächtig.
Die Pointe wendet sich auch hier gegen die Karikatur. Dass Eltern, egal welchen eigenen Bildungsabschluss sie aufweisen, für eine Empfehlung ihrer Kinder auf das Gymnasium eintreten, scheint der Karikaturistin bereits als problematisch. Der Wunsch wird dargestellt als eine unberechtigte Forderung der Unterschicht, die nicht ernst genommen werden kann. Dass eine solche Anmaßung überhaupt möglich geworden ist, hänge mit der Preisgabe der alleinigen Entscheidungsbefugnis der Grundschule und der Einführung der freien Schulwahl zusammen. Die Zeichnerin erheischt bei den Betrachtenden Einverständnis in ihre Sicht auf die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen und die Liberalisierung der Bildungswege. Wer das dulde, was die Zeichnung als typisch zeigt, der schaufele sich sein eigenes Grab. Indem Bildungsaspiration von unten verknüpft wird mit der Imaginerie einer dreisten Unterschicht, geht der Witz erneut zynisch auf Kosten der hier Karikierten, während sich die bessere Gesellschaft belustigt auf den Schenkel klopfen kann.

Inhaltlich plädieren beide Zeichnungen für eine Aufrechterhaltung homogener Milieus und schreiben so gesellschaftliche Zuschreibungen fort. Dabei steht dem zivilisierten Bürgertum eine unzivilisierte und unzivilisierbare Horde gegenüber, vor der es sich nur durch Abschottung schützen kann. Das Beste, was getan werden kann, um das Bürgertum nicht zu (ver)stören, ist, die Ghettoisierung weiter zu betreiben. Mit dieser Reaktion könnte versucht werden, die Zeichnungen zu retten. Vielleicht ist es das Kalkül der Zeichnerin, dass das Lachen über die Karikaturen diejenigen kenntlich macht, die da lachen. Sollte also eine subversive Absicht in der Nutzung der Klischees und Ressentiments liegen? Kann davon ausgegangen werden, dass den Leserinnen und Lesern das Lachen im Halse stecken bleibt, weil sie sich bei ihren Vorurteilen ertappen?
Dass dem wohl nicht so ist, zeigt sich, wenn gedankenexperimentell Ober- und Unterschicht in den Karikaturen vertauscht werden. Für die erste Karikatur bedeutete dies, dass nun eine anpassungsbereite Unterschichtsfamilie ihr Kind in einer vorbildlichen Schule mit lern- und wissbegierigen Schülerinnen und Schülern anmeldet und abgibt. Nichts wäre daran witzig, sondern als beispielhaft würde angesehen werden, dass sich Eltern ohne höheren Bildungsabschluss der Bedeutung eines solchen bewusst sind und dafür Sorge tragen, dass ihre Kinder diesen erreichen. Die Orientierung für die Kinder nach oben funktioniert; die nach unten degeneriert zum Ausflug in einen Zoo.
Bei der zweiten Karikatur verhält es sich ähnlich. Tauchten die Eltern aus dem Westend nun bei der Elternsprechstunde vor dem Pult der Lehrerin auf, so wäre die Betrachterin geneigt, sich auf die Elternseite zu schlagen und gegen die eingeschränkte Sichtweise der Lehrerin zu polemisieren. Auch hier wäre nichts daran witzig und auch hier würde sympathisiert mit denjenigen, die das höhere Bürgertum verkörpern. Mit der Vertauschung von Oben und Unten taugen die Karikaturen noch nicht einmal zum schlechten Witz. Sie affirmieren niedere Abgrenzungsgefühle und -bedürfnisse, klären sie aber nicht über diese auf. Ihre Wirkung lebt davon, dass sie im Medium der Karikatur erlauben, ungehemmt auszusprechen, was ansonsten political correct besser ungesagt bleibt.
Das Nicht-Zünden der Karikaturen liegt vor allem im falschen Verständnis von Gleichheit begründet. Während die Karikaturen für eine Ungleichheit plädieren, die sich auf die Seite der „besseren“ Gesellschaft stellt und sie darin bestärkt, ihre Nachkommenschaft vor den Übergriffen der bildungsfernen Schichten zu sichern, lassen sie unthematisiert, dass es vor allem um die Anerkennung der Unterschiede auch in den Schulklassen geht und diese je eigene Formen des Umgangs und der Hilfe bedürfen. Der Schulklasse im Gallus muss kulturelle Vielfalt nicht vermittelt werden; sie ist tagtäglich Teil von ihr. In dieser Vielfalt muss jedoch erst ein gemeinsames Verständnis von Unterricht hergestellt werden. Dieses Verständnis bringt die Schülerin aus dem Westend augenscheinlich schon mit; ihr wiederum fehlt ein Verständnis von anderen Lebens- und Kulturformen.
Nichts anderes liegt bei der zweiten Karikatur vor. Die Überlegenheit gegenüber Menschen, die sich der Situation nicht angemessen ausdrücken, wird nicht dadurch harmlos, indem man sie als Witz inszeniert. Für die Partizipation ihrer Kinder an höheren Schulabschlüssen einzutreten, ist nicht unanständig, sondern Ausdruck einer demokratischen Gesellschaft.

Fußnote:

1) Die Karikatur ist von Teresa Habild und erschien abgedruckt am 12.4.2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Das Copyright aller Bilder liegt bei Teresa Habild. Für eine weitergehende Nutzung der Karikatur, die über die übliche Verwendung der Quelle (Pädagogische Korrespondenz (2008) 38, S. 98-104) hinausgeht, wenden Sie sich bitte an Teresa Habild (info@h-bild.de).

Mit freundlicher Genehmigung von Budrich UniPress
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