Falldarstellung

Nicole war ein Mädchen mit einem hübschen, aber etwas maskenhaft wirkenden Gesicht. Sie trug langes schwarzes Haar, mit dem sie im Unterricht gerne spielte. Nicole war erst 16 Jahre alt und lebte doch bereits von ihren Eltern getrennt. Seit einem halben Jahr war sie mit ihrem Freund zusammen. – Alle Mitschüler waren mit Nicoles „Geschichte“ bestens vertraut. Nicole blieb im Unterricht von der ersten Stunde des Schuljahres an konflikthafter Mittelpunkt im Ethikkurs, an dem zehn weitere Schüler und Schülerinnen teilnahmen: drei Jungen und sieben Mädchen. In den z.T. heftigen Auseinandersetzungen mit Nicole in den ersten Unterrichtsstunden des Schuljahres ging es immer um etwas scheinbar Belangloses, auch für mich zunächst Unverständliches: Nicole wollte auf der warmen, geheizten Bank neben dem Fenster sitzen und inszenierte regelrechte Anfälle, wenn das Fenster auch nur einen Spalt geöffnet war. Je aktiver die Auseinandersetzung mit Nicole verlief, desto passiver wurden die Schüler. Trance und Tagträumereien standen dann oft allzu deutlich auf den Gesichtern der Schüler. Ich hatte mitunter die Phantasie, als wären alle „in einen Honigtopf“ gefallen, aus dem herauszukommen ihnen nun schwer fiel; irgendetwas an der Auseinandersetzung mit Nicole hatte den Geist flügellahm gemacht. Die wachsende Sanftheit der Mitschüler bildete zu den aufgeregten Konfliktszenen mit Nicole einen fast grotesk wirkenden Gegenpol.
Nach drei Wochen – als ich die Szene zu verstehen begann – durfte Nicole dann auf der Fensterbank sitzen, und ich konnte die Fenster öffnen, ohne dass Nicole solche Anfälle bekam.
Der Unterricht begann ohne diese stereotype Szene. Doch jetzt wurde rasch deutlich, dass es bei diesen, z.T. sehr heftigen Auseinandersetzungen zwischen Nicole und dem Lehrer offenbar nicht nur um Nicole ging. Ein Vakuum entstand.
Das Lehrplan-Thema der folgenden Unterrichtseinheit im Ethikkurs lautete: „Autorität und Konflikt“. Eine typische „Szene“ wurde als Fallbeispiel anhand eines Textes ausgewertet und nun sollten die Schüler sich über weitere, typische Konfliktfelder Gedanken machen. Der Kurs lieferte hierzu zunächst einige Einfälle: Auseinandersetzungen mit den Eltern um Kleider und Frisuren, Ärger wegen zu lauter Musik, die Ordnung des eigenen Zimmers, Hilfe im Haushalt, die Einmischung der Eltern in die eigenen Freundschaftsbeziehungen …
Beim letzten Thema wurde Erika, eine bis dahin sehr stille Schülerin, plötzlich sehr erregt. Als wäre sie nicht mehr im Unterricht, sprudelt sie los: Sie möchte die Geschichte einer „Auseinandersetzung mit ihrem Vater“ erzählen. Ich unterbreche sie, da ich die allzu große Intimität der Erzählung zu spüren glaube, und schlage vor, eine solche Szene im Rollenspiel zu inszenieren. Eine Gruppe von Schülern soll den von Erika angedeuteten Konflikt so darstellen, wie sich der Konflikt ereignet haben könnte. Der Vorschlag beruhigt Erika. Sie gewinnt wieder innere Distanz zum eigenen Erleben. Jene Schüler, die sich freiwillig für das Rollenspiel gemeldet haben, spielen nun eine Szene, in der das Drama von „Bindung“ und „Ausstoßung“ in der Familie durchaus zu spüren ist.
Doch nun, in der Nachbesprechung, also beim Versuch das in Szene gesetzte Erleben in Worte zu fassen, gerät der Dialog wieder unter die Normen des früheren Unterrichts. Die Schüler bleiben wieder „flügellahm“ wie in der Zeit der Auseinandersetzungen mit Nicole, verstecken sich hinter ihrer Schülerrolle, zögern eine Besprechung, so gut es geht, hinaus.

Interpretation

Es gelingt nicht mehr, das eben agierte Drama von „Bindung“ und „Ausstoßung“ in Worte zu fassen oder gar zu klären.
Die schwer zu ertragende Bedrohung der Adoleszenten, sich von der Familie nun nicht nur ablösen zu müssen, sondern möglicherweise von den Eltern auch „ausgestoßen“ zu werden – zu rasch ein eigenes Leben führen zu müssen – wurde am Schicksal Nicoles spürbar. In der Schule suchte sie nun Schutz und Wärme. Doch die Abwehr dieses Konfliktes, mit dem sich auch die anderen Schüler identifizierten, machte alle „flügellahm“.
Über Ich-Regression und Ich-Progression müsste sich ein adoleszentes Entwicklungsthema auch im Unterricht entfalten können (Hirblinger 1991, 1992, 1999). Adoleszente Strukturbildung kann nur gelingen, wenn dabei im Wechsel von Ich-Regression und Ich-Progression die symbolische Einheit des emotionalen Erlebens auch im schulischen „Setting“, d.h. im Unterricht, zumindest in Ansätzen erhalten bleibt.
Doch der Lehrer und die Schule? – Vielleicht ist diese Schule keine Schule für Adoleszente, also für die „Umgestaltungsprozesse der Pubertät“? Vielleicht sind Lehrer und Schüler nur auf Latenzzeitkinder eingestellt, die noch in einer natürlichen und stabilen Familienübertragung lernen können? – Vielleicht ist diese Schule gar nicht vorbereitet auf die adoleszente Dialektik von „Konflikt und Ablösung“?

Was zeigt sich? Die Fallbeispiele [vgl. auch Perikles, der große Politiker“, „Das gezeichnete Ich“] verweisen gerade über die in Erscheinung tretenden „Fehlleistungen“ auf defizitäre Bedingungen des schulischen Rahmens für Lernen.
Die amerikanische Psychoanalytikerin McDougall (1988, S. 26) unterscheidet zwischen zwei Quellen für traumatisch wirkende Erfahrungen. Auch Störungen im Unterricht entstehen vermutlich entweder durch den Versuch, seelischen Schmerzen zu entfliehen oder aber durch den Versuch, unzusammenhängenden Mitteilungen der „Eltern“ einen Sinn abzugewinnen.
Im Diskurs der psychoanalytischen Pädagogik wurde bisher möglicherweise der Aspekt einer neurotischen Disposition der Schüler für Unterrichtsstörungen zu sehr betont. Die Abweichung des Verhaltens, der Schmerz, der weitergereicht wird, die Kränkung, kann so zwar möglicherweise besser verstanden werden. Diese einseitige Suche nach „Störungen“ im Sinne „neurotischer Abweichung“ im Unterricht verstellt jedoch den Blick für die eigentlich viel subtilere Wirkung des in vielen Bereichen auf Desintegration basierenden gesamten psychischen Raumes. – Traumatisierend wirkt die Schule nicht zuletzt durch die vielen völlig „unzusammenhängenden Mitteilungen“ und den Wirrwarr, den sie als gesellschaftlicher Ort „organisierter Bildung“ den Schülern zumutet.
Hierzu abschließend nur einen Gesichtspunkt: Der Erfahrungsprozess im Unterricht ist bisher darauf abgestellt, dass zweckrationales Lernen und konflikthaftes Erleben praktisch völlig getrennt nebeneinander existieren. Insbesondere Lehrer am Gymnasium verstehen sich nach wie vor als „Fachkollegen“, die sich mit pädagogischen Fragen eigentlich nicht zu befassen haben. In einer ganz fundamentalen Weise mutet die Schule so den Adoleszenten zu, das völlig unzusammenhängende Nebeneinander von kognitiven und emotionalen „Mitteilungen“ in solchen Lernprozessen zu verarbeiten. Zweckrationale Orientierungen und ästhetisch-moralische Praxis (vgl. Hirblinger 1999) können in der Schule so kaum in Ansätzen – wie von der Verfassung eigentlich gefordert – vermittelt werden. Auf die Auswirkungen dieser organisierten Spaltung des Erlebens auf den Identitätsbildungsprozess der Adoleszenten kann ich hier jedoch nur hinweisen: Es geht darum, dass die beiden elementaren Pole adoleszenter Stukturbildung, die Integration und die Differenzierung zweier Existenzformen, die im „Being-“ und „Doing“ (Erlich 1993) begründet sind, nicht mehr als Einheit erlebt werden können.
Solange Lehrer im Umgang mit Adoleszenten ihre „antipsychotische Abwehr“ (Fürstenau 1992, S. 99), d.h. ihre ausschließliche Orientierung an der Logik von Macht und institutionalisierten Dreierbeziehungen aufrechterhalten, um ihrerseits traumatische Erfahrungen mit der Schule abzuwehren, sind sie aus strukturellen Gründen kaum in der Lage, sich auf die Erfahrungsmodi des „frühen Ich“ einzulassen. Der gesamte Bereich der Spaltungsprozesse, der unbewussten Delegation, der manischen Schuldverleugnung, der überkompensierenden Reaktionsbildung tritt dann jedoch auch nicht in den Horizont ihrer pädagogischen Praxis.

Literaturangaben:

Erlich, S.H.: Verleugnung in der Adoleszenz. Einige widersprüchliche Aspekte. In: Psyche 44 (1990), S. 218-239

Erlich, S.H.: Phantasie und Realität in der Adoleszenz. In: Leuzinger-Bohleber, M. u. Mahler, E. (Hg.): Phantasie und Realität in der Spätadoleszenz. Opladen. 1993, S. 115-128

Freud, S.: Das Ich und das Es. In: Studienausgabe Bd. III, Frankfurt a.M. 1980, S. 273-330

Hirblinger, H.: Über Symbolbildung in der Adoleszenz. In: Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 3, Mainz. 1991, S. 90-117

Hirblinger, H: Pubertät und Schülerrevolte. Mainz (Matthias-Grünewald) 1992 Hirblinger, H.: Erfahrungsbildung im Unterricht. Die Dynamik unbewusster Beziehungskonflikte im unterrichtlichen Beziehungsfeld. Weinheim und München. 1999

McDougall, J.: Theater der Seele. Stuttgart. 1988

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