Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
- Akustische Räume – hören und gehört werden
- Visuelle Räume – sehen und gesehen werden
- Haptische Räume – anfassen und angefasst werden
- Akustische Räume – Stimme der Lehrerin
- Akustische Räume – „Ich hab´s nicht.“
- Klassenräume – Ethnographischer Feldzugang
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Die folgende Untersuchung wird die „vier Wände“ des Klassenzimmers nicht verlassen (vgl. Fälle 1-7 Breidenstein-Klassenräume), aber der Klassenraum, der uns zunächst die situative Einheit des Unterrichtsgeschehens zu verbürgen scheint, wird sich bei genauerer Analyse in eine Vielzahl einander überlagernder, sich durchdringender und überschneidender Räumlichkeiten auflösen.
Neben der Ausrichtung des eigenen Verhaltens am Blickverhalten der zentralen Institution der Lehrerin gilt im Klassenzimmer die potentielle wechselseitige Beobachtung aller durch alle. Unter den räumlichen Bedingungen des Klassenzimmers gibt es keine echten Verstecke: Was den Blicken der Lehrerin verborgen wird, findet sicher die Aufmerksamkeit irgendeines Mitschülers – oder zum Beispiel des Ethnographen.
Als es darum geht, Beschreibungen zu Bildern aus dem Buch in das Heft zu übernehmen, sagt Valerie zu Agnes: „Schreibst wohl alles ab?“ Diese entgegnet: „Müssen wir doch, als Begründung!“ – „Ja, zusammenfassen. In Stichworten.“ Agnes meint: „Das ist dann so abgehackt“. Damit wendet sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Valerie streckt ihr die Zunge raus, was sie allerdings nicht sehen kann, da sie auf ihr Heft blickt. Valerie gefällt offenbar die Konstellation, dass Agnes nicht merkt, wie sie ihr die Zunge rausstreckt, während ich es beobachte. Sie steigert ihre Grimassen hinsichtlich der Expressivität, als sie dasselbe noch zwei oder drei Mal wiederholt.
Der Reiz für Valerie ist ein doppelter: Selbstverständlich muss sie darauf achten, dass ihre beleidigenden Grimassen nicht von der Lehrerin bemerkt werden. (Diese Kontrolle des Lehrerinnenblicks geschieht hier offenbar so routiniert und beiläufig, dass sie vom Ethnographen nicht eigens vermerkt wird.) Die Pointe dieser Inszenierung besteht jedoch darin, dass das Opfer der Schmähungen, Agnes, diese gar nicht wahrnimmt – und sich infolgedessen auch nicht dagegen zur Wehr setzen kann. Die Konstellation wäre allerdings witzlos, wenn es nicht einen Zeugen gäbe, den Ethnographen, von dem Valerie sogar weiß, dass er ihr raffiniertes Spiel gewissenhaft notieren wird! (Wer diese kleine Szene sonst noch beobachtet, wissen wir nicht.)
Ineinander verschachtelte Räume: Valerie führt etwas auf, das sowohl den Blicken der Lehrerin als auch ihrer Freundin Agnes verborgen bleiben soll, dem Ethnographen hingegen gezeigt wird. Die räumliche Situation sei zur Verdeutlichung skizziert:
Diese Situation stellt nur eine Momentaufnahme dar. Eine geringfügige Kopfbewegung einer der beteiligten Personen kann die räumliche Konstellation grundlegend verändern. Valerie misst gewissermaßen die Dauer der für sie reizvollen Konstellation durch mehrfache Wiederholung der Aktivität aus.
Es gibt durchaus Versuche, der potentiellen permanenten Sichtbarkeit im Klassenzimmer durch die Errichtung von Sichtbarrieren zu entkommen und so etwas wie „Privaträume“ wenigstens für eine kurze Dauer zu schaffen.1 Die visuelle Abschirmung kann in weit vornüber gebeugten Köpfen und ‚heruntergelassenen‘ Haaren von Mädchen bestehen oder etwa in aufgestützten Armen und Händen. Ein verbreitetes Mittel besteht darin, das gerade in Gebrauch befindliche Lehrbuch aufgeklappt senkrecht auf den eigenen Tisch zu stellen, so dass der eigene Arbeitsplatz vor den Blicken der Nachbarn geschützt ist. Doch auch diese Praxis ist prekär und umkämpft: das aufgestellte Buch ist von Mitschülern schnell umgestoßen und bei manchen Lehrern auch nicht erlaubt. Das Abschirmen des eigenen Arbeitsplatzes scheint einerseits im Rahmen der offiziellen Unterrichtsdoktrin legitimierbar, insoweit es das „Abschreiben“ verhindert und die geforderte „Eigenständigkeit“ von Schülerleistungen verspricht, andererseits scheint es einem impliziten Gebot zu widersprechen, das die permanente (potentielle) Sichtbarkeit allen Geschehens im Klassenzimmer verlangt.
Wir halten fest: Auf dem Gebiet der Visualität ist es außerordentlich schwer, sich der Öffentlichkeit des Geschehens zu entziehen und „Privaträume“ zu errichten, wenn man außer den Blicken der Lehrperson auch die der Mitschülerinnen und Mitschüler einbezieht.
Fußnoten
(1) Ähnliches beschreibt auch schon Zinnecker (1978, S. 95): „Da sie sich in einem Raum mit Wächterautorität befinden, müssen die Schüler Sicht- und Hörbarrieren improvisieren, die den gut überschaubaren und kontrollierbaren Ort in eine unübersichtliche Landschaft kleiner ökologischer Nischen und persönlicher Depots verwandelt.“
Literatur
Zinnecker, J.: Die Schule als Hinterbühne oder Nachrichten aus dem Unterleben der Schüler. In: Reinert, G.-B./Zinnecker, J. (Hrsg.): Schüler im Schulbetrieb. Reinbek 1978, S. 29-116.
Mit freundlicher Genehmigung des Budrich Verlages.
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