Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Schülerprobleme und Problemlösungsversuche
In […] Interviews wurden zunächst verschiedene mögliche Problemfelder des Schulalltags thematisiert (Lernprozesse und Lerninhalte, Leistungsanforderungen und -bewertungen, Sozialbeziehungen zu Lehrern und Mitschülern). […]
An die von den Schülern artikulierten Probleme schlossen sich Interviewerimpulse an, die auf die Problemlösungsversuche, also auf den Umgang mit dem berichteten Problem, abzielten (z. B. „Was macht Ihr denn dann?“ – „Wie reagiert Ihr darauf?“ – „Was habt Ihr dann unternommen?“).
Beispiel 1:(1)
Interv.: „Was macht Ihr eigentlich, wenn eine schwierige Arbeit oder ein Test bevorsteht?“
Anne: „Wir setzen uns dann schon mal nachmittags mit Schülern zusammen, die in dem Fach gut sind.“
Jürgen: „Oder wir machen während der Arbeit was. Wir lassen einen Zettel rumgehen, wo die Ergebnisse draufstehen, von jemandem, der dies einigermaßen kann.“
Axel: „Die meisten hier machen sich ’n Mogelzettel.“ (9:34.11)
Beispiel 2:
Interv.: „Ja, was sind denn Eure Taktiken, mit sowas fertig zu werden – wenn Ihr einen Unterrichts¬stoff vorgesetzt bekommt, der Euch langweilig ist?“
Günter: „Wir bleiben zuhause.“
Interv.: „Ihr bleibt zuhause!?“
Ute: „Dann machen wir nicht mit. Dann zieht sich die Unterrichtsstunde so weit hinaus, daß das noch langweiliger wird, als wenn wir jetzt alle mitmachen würden.“
Interv.: „Das ist mir zu allgemein, wenn Du sagst, das zieht sich so lang hinaus. Was macht Ihr denn dann?“
Rainer: „10 Mann machen dann vielleicht Unterricht und der Rest pennt dann ein, macht Quatsch oder liest Micky-Maus-Heftchen, oder irgend sowas.“
Interv.: „Ja, und wie ist es mit Quatsch, was spielt sich da so ab?“
Markus: „Ja, die reißen Witze. Wenn jetzt die Hälfte nicht mitmacht – der eine reißt seine Witze und die anderen lachen darüber. Da kann nachher die ganze Klasse keinen Unterricht mehr machen.“ (1.7.39)Diese Beispiele zeigen, dass für die Bewältigung bestimmter Problemsituationen im Schulalltag den Schülern offenbar nicht nur konforme, sondern auch abweichende Problemlösungsversuche notwendig erscheinen. Schwierige Leistungsprüfungen werden durch gemeinsames Üben, aber auch mit unerlaubten Hilfsmitteln bewältigt. Der Schulunterricht wird von den Schülern sehr häufig mit der Kategorie „Langeweile“ beschrieben. Die Folgen eines uninteressanten Unterrichts können in „Selbst-Engagement“ (z. B. Hefte lesen, mit anderen Quatsch machen) oder „geistiger Absenz“ („einpennen“, träumen) bestehen (vgl. Heinze 1980, S. 83 ff.).
Schülerprobleme – etwa mit Leistungsabforderungen oder Lernprozessen – können also durchaus Auslöser für abweichende‘ Verhaltensmuster sein.
Situationsdefinitionen als Handlungsbegründungen für abweichendes Verhalten
Zusammenhänge zwischen schulstrukturell bedingten Schülerproblemen und abweichenden Handlungen werden noch viel deutlicher mit dem umgekehrten methodischen Vorgehen: Als zweite Methode in den Gruppeninterviews wurden zunächst schulspezifische Normen und Verhaltensregeln sowie entsprechende Regelverstöße der Schüler (in Bezug auf Schulbesuchspflicht, Unterrichtsdisziplin, Arbeitsverhalten, Schulordnungsregeln, Verhalten zu Mitschülern) thematisiert. Die Schüler nahmen darauf einerseits zu den schulischen Verhaltensregeln Stellung, andererseits berichteten sie über eigene abweichende` Handlungen. Über bestimmte Interviewerimpulse (z. B. „Woran liegt das?“ – „Wie kommt es eigentlich, daß Schüler … ?“) wurden die Schüler dann aufgefordert, zu den ,abweichenden` Handlungen Situationsdefinitionen in Form von Handlungsbegründungen und Erklärungen abzugeben. Dazu einige Beispiele:
Beispiel 3:
Interv.: „Wie kommt es, daß Schüler im Unterricht einfach sprechen?“
Ralf: „Vielleicht Langeweile. Wenn der Unterricht zu langweilig ist, oder so.“
Frank: „Also wenn man sich jetzt so lange meldet und man kommt nicht dran, dann labert man mit dem Nachbarn.“
Jutta: „Wenn man dann zum Beispiel, was mich betrifft, man hat jetzt da vorne echt so ‚en Lehrer, … also, der läßt nicht mit sich reden und er erklärt einem das nicht ein paar Mal, . . . dann fragt man auch seinen Nachbarn, also, was da überhaupt vorgegangen ist und der Stoff, der
geht ja auch immer weiter und dann kriegt man das halt alles nicht mit. Dann schickt man sich halt auch mal Briefchen, wo Aufgaben draufstehen, oder was über sein Privat¬leben …“
Bernd: „Also, ich find‘, man spricht auch manchmal mit dem Nachbarn, wenn der Unterricht zu ein¬tönig gestaltet wird. Zum Beispiel in Englisch, wenn man so Stücke gemacht hat, so Texte, Rollenspiele, in dem Buch, das haben wir dann 10-20mal wiederholt, also das kam einem richtig langweilig vor. Und dann kam immer wieder dasselbe, weil man es ja kannte. Das konnte man grad schon auswendig.“
Manfred: „Manchmal ist das auch so, wenn man sich im Unterricht so verabreden will, oder so, für nachmittags, dann sagen die Lehrer: ‚Macht Eure Geschäfte doch nach der Schule.’ Aber wenn man sich dann gerade verabreden möchte, und danach muß man sofort nach Hause, was weiß ich, vielleicht ’ne Verabredung oder so, manche müssen auch sofort nach Hause, weil gegessen wird, dann geht das ja gar nicht anders, wenn die Pausen schon alle ‚rum sind, in der letzten Stunde.“ (3.7.21)
Ralf: „Das liegt auch an den Pausen, wenn die zu kurz sind, also in fünf Minuten kann man nichts anfangen. Also da kann man sich nicht unterhalten, und wenn dann Hofpause ist, so zwanzig Minuten, da ist kaum jemand da, mit dem man sich unterhalten kann, die sind alle verstreut auf dem Schulhof. Und da hat man gar keine Chance, da muß man sich ja im Unterricht unterhalten.“
Bernd: „Und außen ist das vielleicht auch ’ne kleine Ablenkung, wenn man jetzt die ganze Zeit paukt, paukt, paukt, also dann muß man sich auch schon irgendwann mal ablenken . . .“
Werner: „Abreagieren.“
Bernd: „… Deswegen kloppe ich mich auch öfters in den Pausen …“ (5.40.10)
Die hier abgegebenen Situationsdefinitionen verdeutlichen, dass Reden im Unterricht und Beschäftigung mit unterrichtsfremden Inhalten zum Teil Problemlösungsversuche der Schüler sind: der Schüler wird vom Lehrer nicht am Unterricht beteiligt, der Lernstoff wird nicht verstanden, der Unterricht erscheint langweilig, die Pausen sind zu kurz für Unterhaltungen, die ‚Zwangskonzentration‘ im Unterricht wird mit „Ablenken“ und „Abreagieren“ beantwortet. Zum Teil interpretieren die Schüler ihre Handlungen aber auch als – völlig natürlich und normal erscheinende – Aneignung schulischer Lebenswelt: die Schule wird als Ort für die Einlösung von Kommunikationsbedürfnissen mit Gleichaltrigen, mit Mitschülern gesehen.
Beispiel 4:
Interv.: „Wie kommt’s denn eigentlich, daß Schüler mogeln oder daß man was abgucken muß?“
Sven: „Vorher üben ja die meisten und vielleicht haben sie eins nicht geübt, weil da müßte man ja fast das ganze Heft durchüben und das kommt dann grade in der Arbeit vor. Und dann weiß man das nicht und dann will man nur gucken, wie das sozusagen, wie der Rechenweg geht, oder was anderes.“
Ilona: „Alles kann man ja auch nicht wissen, ne, und wenn der Nachbar das nun gerade weiß und man sieht das dann, dann guckt man dann eben ab.“
Werner: „Wenn man abguckt und man weiß das ja nicht 100%ig genau, also man kann ja nicht 100%ig genau üben, was in der Arbeit vorkommt. Wenn die uns jetzt ‚en Text zum Üben gegeben haben, dann wird der ja sowieso wieder umgewandelt und anders geschrieben und so. Da kann man überhaupt nicht genau üben und dann muß man schon mal ein Wort oder was wissen.“
Markus: „Und dann guckt man auf die Uhr und denkt: Mensch du hast nicht mehr viel Zeit, beeil dich und wenn man sich das selbst so einredet, dann kommt man gar nicht weiter.“ (7.10.30)
Dieses Beispiel zeigt, dass illegale Methoden der Leistungserbringung aus der Sicht der Schüler als eine von möglichen problemlösenden Strategien angesehen wird, um den Leistungsabforderungen der Schule nachzukommen. Gleichzeitig enthalten die Schüleräußerungen Hinweise darauf, dass die von ihnen geforderten Leistungen sich nicht immer unmittelbar aus dem zuvor erlernten Stoff ableiten.
Beispiel 5:
Interv.: „Wie kommt es eigentlich, daß Schüler schon mal Sachen beschädigen und kaputtmachen, an der Einrichtung usw.?“
Klaus: „Wenn die Schüler vorher mit dem Lehrer Ärger hatten, daß die dann ihre Wut an Sachgegenständen auslassen.“
Ulrike: „Oder wenn man eine Arbeit wiederbekommt, einmal hatte ich auch ’ne 6 bekommen und da hab‘ ich alles auseinander genommen, was mir in die Quere kam.“
Jörg: „Also, die Wut, die staut sich auch im Unterricht dann auf. Wenn der Lehrer zum Beispiel schlechte Laune hat, oder so, dann hat man selber auch schlechte Laune und kriegt auch Wut auf den Lehrer und dann wird halt am Ende der Stunde, oder in der Pause, da wird dann die Wut halt an den Toiletten, oder halt am Klassenraum, oder an den Gegenständen, die rumstehen, ausgelassen.“
Monika: „… oder auch an den Mitschülern.“
Michael: „Ich find‘, daß man manchmal auch Aggressionen hier auch auf’m Tisch ausläßt, wenn man sauer ist oder so, daß man hier überall draufmalt und die Löcher draufmacht.“ (3.13.30)
Selbst Beschädigungen und Zerstörungen in der Schule müssen – wenn auch als Problemlösung untauglich – als Versuche der Problemverarbeitung und Schulalltagsbewältigung durch Schüler verstanden werden. In allen bisherigen Beispielen haben die Schüler durch ihre Situationsdefinitionen ihr Handeln nicht nur in eindrucksvoller Weise plausibel und für jeden nachvollziehbar erklärt, sondern auch normalisierbar gemacht. Die in der Regel seitens der Schule als ‚abweichend’ definierten Verhaltensweisen stellen sich hier also als völlig normale – durch die Schulsituation sozial erzeugte – Phänomene dar. Damit werden aber die betreffenden sozialen Verhaltensregeln in der Schule selbst fragwürdig, was die Schüler auch in ihren Stellungnahmen zu verschiedenen Regeln und ihrer Anwendung durch Formen sozialer Kontrolle zum Ausdruck bringen.
Schülertaktiken als Reaktion auf die Anwendung der Regeln
Schüler geraten nur allzu oft mit einem Teil ihrer Verhaltensweisen in der Schule mit schulspezifischen (nicht selten auch mit nicht-schulspezifischen) Regeln in Konflikt. Diesem Dilemma könnte der Schüler bestenfalls dadurch entgehen, wenn er sich in perfekter Weise konform verhielte, das heißt, alle Regeln zu jeder Zeit einhalten, was jedoch aufgrund der Fragwürdigkeit und Widersprüchlichkeit vieler Regeln illusionär erscheint. Denn – wie die bisherigen Beispiele zeigen – den Schulalltag zu bewältigen, ohne Beschädigung eigener Identität zu ‚überleben’ heißt, auch hin und wieder Regeln zu übertreten. Dies ist jedoch nicht ganz problemlos möglich: Schüler machen selbst oder am ‚Schicksal’ von Mitschülern alltäglich die Erfahrung, dass man es sich keineswegs leisten kann, oft wegen ‚abweichender’ Handlungen aufzufallen. Denn Regelverstöße haben – soweit sie auffallen – zumeist Kontrollreaktionen in Form von ‚Devianzzuweisungen’ zur Folge: Durch die interpretative Arbeit des Lehrers werden die Schülerhandlungen auf die geltenden Normen bezogen, also die Regeln angewendet (vgl. hierzu Hargreaves u. a. 1981, S. 104 ff.). Mit diesen Devianzzuweisungen sind fast immer Sanktionsdrohungen bzw. direkt Sanktionen verbunden. Wie später noch zu zeigen sein wird, machen Schüler auch die Erfahrung, dass solche Devianzzuweisungen unter bestimmten Umständen Prozesse in Gang setzen können, die zur Zuschreibung eines Abweichler-Status führen.
Was tun also Schüler, um einerseits Regeln auch übertreten zu können, andererseits aber möglichst nicht aufzufallen? Sie sind gezwungen, besondere Problemlösungs- und Anpassungsstrategien zu entwickeln, um Regeln und ihre Anwendung unterlaufen, Sanktionen entgehen und Etikettierungen abwehren zu können. Diese ‚identitäts- und statussichernden Maßnahmen’ der Schüler können am besten mit dem Begriff „Taktiken“ umschrieben werden (vgl. Heinze 1980). Durch den Einsatz situationsspezifischer Taktiken werden unerlaubte Handlungen praktisch möglich gemacht, in erster Linie durch
- Abschirmung, Tarnung und Verschlüsselung unerlaubter Vorgänge;
- Konformitätsdemonstration, Vortäuschung von Konformität und Ablenkung von Normverstößen (z. B. Lügen, dem Lehrer schmeicheln, Konzentration und Mitarbeit vortäuschen);
- Anwendung illegitimer Mittel zur Einhaltung einer (anderen) Norm (z. B. Mogeltechniken, Hausaufgaben abschreiben);
- Manipulation von Normen und Regeln, z. B. durch Boykott, kollektive Aktionen (vgl. Zinnecker 1978, S. 94 ff.; Glötzl 1979, S. 117 ff.; Heinze 1980, S. 83 ff.).
Das geltende Regelwerk der Schule wird dabei nicht öffentlich und offiziell angezweifelt, sondern heimlich unterlaufen: die Formen der Regelbefolgung sind zum Teil nur rein äußerlich, begleitet von subversiven Aktionen und Strategien, die mit der Zeit immer mehr verfeinert werden. Im Hinblick auf solche Taktiken führt der Schüler quasi ein „Doppelleben“ in der Schule (hierzu Zinnecker 1978, S. 31 ff.).
In den Gruppeninterviews wurde versucht, solchen Schülertaktiken nachzuspüren:
Beispiel 6:
Interv.: „Was macht Ihr denn, wenn es so langweilig wird?“
Bernd: „Schlafen … Schiffe versenken, spielen …“
Ralf: „Reden, wir versuchen uns selbst zu unterhalten.“
Interv.: „Und das sieht keiner?“
Ralf: „Wir machen das unter dem Tisch, da sieht das keiner.“
Jürgen: „Da gibt es ja auch genügend Wege, daß irgendwas gemacht wird, daß es die Lehrer nicht sehen . . .
Interv.: „Wie ist das zu verstehen?“
Peter: „Man hat das Buch auf dem Tisch stehen und kann dahinter was machen. Oder man kann einfach so tun, als guckt man die Lehrer dauernd an. Dann sehen se, daß man anscheinend fleißig mitmacht und da kann man mal weggucken, dann denken die Och der macht ja noch mit`.
Interv.: „Und wenn man drankommt?“
Jürgen: „Ja, he . . ., dann … entweder muß man beim Spielen so nebenbei ’n bißchen mithören, wenn man nich‘ dran is‘ oder so … und dann überlegen und sagen ‚Ich weiß nich‘ ganz genau’.“
Ralf: „Oder man sagt dann irgendwas so in der Art, was da so in etwa hinkommt, was in die Rich¬tung geht. Und wenn man das auch genau nicht weiß, dann kann man ja wirklich so überle¬gen und so tun, als wenn man sich unheimlich anstrengt und dann weiß man nix. Das darf man natürlich nicht drei, vier Mal machen, dann fällt’s auf.“ (5.6.26)
Mit Taktiken der Abschirmung ihres unerlaubten Engagements bzw. der Ablenkung von tatsächlichen Normverstößen täuschen die Schüler Konformität vor. Daneben haben sie Strategien entwickelt, als abweichend geltende Problemlösungsversuche oder lustvolle Beschäftigungen gleichzeitig mit konformem Handeln (z. B. Zuhören, Mitarbeiten) zu verbinden.
Zinnecker (1978, S. 29 ff.) weist darauf hin, dass sich in der Schule – im Hinblick auf solche Schülertaktiken – ein „Unterleben“ (2) bzw. eine „Hinterbühne“ für das subkulturelle Engagement der Schüler etabliert, und zwar besonders unter Ausnutzung „kontrollarmer Gelegenheiten“ bzw. „ökologischer Nischen“ (z. B. Flurbereich, Toiletten, unter Abschirmung und Tarnung im Unterricht). Dabei können die – zumeist regelwidrigen – „Nebenengagements“ der Schüler in gar nicht so seltenen Fällen zum „Hauptengagement“ werden, die „Vorderbühne“ (offizieller Unterricht) wird zur „Hinterbühne“ verwandelt.
Schülertaktiken dürfen nicht mit ‚blinden Reaktionen’ auf Problemsituationen verwechselt werden; sie stellen sich eher als – aus jahrelangen Schulerfahrungen entwickelte – durchaus überlegte und daher raffinierte Anpassungsformen dar, wie auch das nächste Beispiel zeigt:
Beispiel 7:
Regina: „Aber wenn ich keine Lust hab‘, in die Schule zu gehen, dann denk‘ ich: Ach gehst du zwei Stunden hin, dann gehst du wieder.“
Interv.: „Geht das denn?“
Regina: „Ja, da sagt man: Ja, ich muß zum Arzt, mir ist schlecht. Aber nach ’ner Zeit, da glauben die Lehrer dat nicht mehr; … Ich fehl‘ unheimlich oft, aber dann krieg‘ ich ’ne Entschuldi¬gung …“
Interv.: „Also, es gibt manche Entschuldigungen, die ziehen dann noch.“
Regina: „Ja, wie zum Beispiel, wenn meine Mutter jetzt schreibt, ich lag im Bett, Grippe oder so was. Oder ich geh‘ zum Arzt, sag dem, ‚ich kann nicht zur Schule, mir tut der Arm so weh’, dann reicht das.“
Karin: „Die Lehrer können ja nicht nachweisen, ob der jetzt wirklich Grippe hat oder so, das ist für uns Schüler praktisch gut; wenn die Eltern dann noch Entschuldigungen ausstellen.“
Interv.: „Machen die das?“
Claudia: „Ja, meine Mutter ja. Es kommt auf die Eltern an, ob die Eltern streng sind, oder nicht. Aber ich glaub, die meisten Eltern machen das.“
Barbara: „Meine Mutter schreibt ’ne Entschuldigung, ob ich Grippe hab oder nicht. Die schreibt mir immer eine.“
Regina: „Ich bin letztes Jahr sitzen geblieben, weil die Beteiligung nicht so gut war. Da war ich mehr Tage zuhause als in der Schule.“
Interv.: „Aber dann passiert da nichts?“
Regina: „Na ja, dann kann das Jugendamt mit eingeschaltet werden und so, ne, also dar kann hoch gehen, ’ne Strafe kriegen, alles, ne, aber wenn man jetzt nicht länger wie drei Tage fehlt, ’ne Entschuldigung dahinschickt oder vorbeibringt, dann ist dat nit direkt so, aber wenn man jetzt nur fehlt, nach zwei Wochen in die Schule kommt, ohne Entschuldigung, ach die hab‘ ich vergessen, dat geht dann immer weiter so, dann wird dat Jugendamt eingesetzt.“ (2.21.19)
Beide Beispiele zeigen, dass die Schüler offenbar genau wissen, worauf es ankommt, um bei Regelverstößen mit den Taktiken erfolgreich zu sein. Sie kennen auch zum Teil die Grenzen ihrer Taktiken und antizipieren mögliche Folgen für den Fall, dass ihre Taktiken durchschaut und damit auch die Normverstöße auffallen. Es kann davon ausgegangen werden, dass die vielen verschiedenen situationsspezifischen Taktiken Bestandteile genereller Anpassungsmuster und -strategien (vgl. dazu Bühlow u. a. 1977, S. 289 ff.; Heinze 1.980, S. 57 ff.; Goffman 1967 und 1972, S. 169 ff.) sind, welche möglicherweise auf – im Laufe der Schulzeit herausgebildeten – Alltagstheorien der Schüler zur Anpassung an die Institution Schule zurückgehen.
Die Notwendigkeit für Schüler, solche Strategien und Taktiken zu entwickeln und einzusetzen, ergibt sich daraus, dass einerseits ihre Problemlösungsversuche und Aneignungsformen mit dem schulischen Regelsystem oft nur schwer verträglich sind, ihnen andererseits aber die Mitbestimmungschancen und Machtmittel zur Durchsetzung alternativer Situationsdefinitionen in der Schule fehlen. (3)
Subjektive Wirkungen sozialer Kontrolle und Etikettierung
Was die soziale Kontrolle in der Schule anbetrifft, so sollten die bisherigen Ausführungen lediglich deutlich machen, mit welchen Problemlösungsversuchen bzw. Taktiken Schüler auf – die von ihnen als problematisch wahrgenommenen – Verhaltensnormen und -regeln reagieren und wie sie dem sozialen Kontrollsystem der Schule begegnen. Damit bleibt aber eine weitere Frage noch ungeklärt: Welche subjektiven Wirkungen stellen sich bei Schülern ein, die selbst konkrete Erfahrungen mit sozialen Kontrollreaktionen der Lehrer machen mussten, also Schüler, die bei Regelverstößen aufgefallen sind und deren Verhalten als ,abweichend’ definiert wurde? Aus den Gruppeninterviews geht hervor, dass Devianzzuweisungen und Sanktionierungen für die meisten Schüler ein zentrales Konfliktfeld darstellt, vor allem, weil ein Teil der Lehrerreaktionen psychische und affektive Wirkungen hervorruft:
Beispiel 8:
Interv.: „Welche Lehrerreaktionen oder Strafen machen Euch denn am meisten zu schaffen?“
Karin: „Die können einen psychisch fertig machen. . . die schreien einen so an, da hat man schon ’n bißchen Angst. Oder wenn man zu spät kommt zum Beispiel, dann wollen die ’ne Erklärung. Man weiß nicht, was man sagen soll, wenn man wirklich früh genug gegangen ist. Denn blamieren die einen vor der ganzen Klasse. Das ist einem ganz peinlich.“
Brigitte: „Oder wenn die Lehrer so zweideutige Bemerkungen machen, das is‘ so ’ne ganz fiese Tour.“
Ute: „Ich hab‘ auch erlebt, da haben die Lehrer Schüler einfach nach hinten gesetzt: Du sagst ja sowieso nichts`. Und wenn die mal ein Wort zum Unterricht gesagt haben, sagte der Lehrer: ,Ach die labern sowieso nur Scheiß`, laß ihn mal reden , . . Dann wurd‘ man für doof abgestempelt, egal wat man gesagt hat. Da wurd‘ man von den Lehrern richtig angeekelt.“ (2.32.1)
Solche und ähnliche Reaktionen auf abweichendes Verhalten können zwar in vielen Fällen eine Kontrollwirkung ausüben, indem die betreffenden Schüler abgeschreckt werden und zukünftig bestimmte Verhaltensweisen vermeiden (vgl. Peuckert/Asmus 1979, S. 158 ff.). Empirische Schulforschungen, welche dem Labeling-Ansatz folgen, zeigen jedoch, dass über Typisierungs- und Stigmatisierungsprozesse bei ‚aufgefallenen’ Schülern auch andere, nämlich problemverstärkende und devianzfördernde Wirkungen hervorgerufen werden können: Lehrer typisieren nicht nur die Handlung eines Schülers, sondern schließen schrittweise auf die Identität des Schülers (dazu ausführlich: Hargreaves u. a. 1981, S. 134 ff.). In die Typisierung eines Schülers fließen auch soziale Stereotype ein, also Merkmalskomponenten, die mit den zunächst wahrgenommenen bzw. vermuteten Eigenschaften und Verhaltensweisen objektiv nichts gemeinsam haben (vgl. Brusten/Hurrelmann 1976, S. 67 ff.; Ulrich/Mertens 1973, S. 60 ff.). Die anderen Interaktionspartnern (z. B. anderen Lehrern, Mitschülern) bekanntgewordene Typisierung wird als Stigmatisierung oder Etikettierung bezeichnet. (4)
Etikettierte Schüler erhalten mit dem Etikett einen neuen sozialen Status, welcher gravierende Konsequenzen für künftige Interaktionsprozesse nach sich zieht. „Alle Handlungen erscheinen seinen Interaktionspartnern von nun an in einer neuen Perspektive; eine generelle Umdefinition bisheriger Annahmen, Bewertungen und Vorstellungen ist die Folge“ (Brusten/Hurrelmann 1976, S. 31). Das gesamte Verhalten des Etikettierten wird nun tendenziell auf das Stigma bezogen und von diesem her interpretiert.
In den Gruppeninterviews sollte festgestellt werden, inwieweit Schüler die Etikettierung als Abweichler wahrnehmen und wie sie diese Statuszuschreibung verarbeiten (,Statusmanagement‘). (5)
Beispiel 9:
Marion: „Wenn ein Schüler dauernd auffällt, immer bei dem gleichen Lehrer, dann kriegt der Lehrer ja auch immer mehr Vorurteile gegen denjenigen und dann ist der Schüler auch bei dem unten durch. Und der erzählt das auch immer weiter und dann bekommen die anderen Leh¬rer dann auch noch Vorurteile von dem Schüler. Dann sagen sie: ‚Ja, der ist schlecht und so’.“
Interv.: „Gibt’s denn Schüler, die einen richtig schlechten Ruf haben bei den Lehrern, oder ist das anders?“
Michael: „Also das gibt es schon. Da ist jetzt ein Junge bei uns in die Klasse reingekommen, anfangs des Schuljahres. Und dann kam mal der Direktor rein, da war der am reden und da hat der gesagt: ‚Gerade Du mußt Dir das erlauben zu reden’. Und dann andere Lehrer auch noch,
die haben ihn angemotzt, unsere Kunstlehrerin, die hat gesagt: ‚Du kannst Dir das grad‘ erlauben und so, fliegst gleich raus, wegen Dir ist sowieso schon ’ne Schulkonferenz!’“
Interv.: „Also meinst Du, da sind Schüler, die sind schon so in eine Schachtel reingepackt?“
Michael: „Ja, ja, die sind schon alle abgestempelt, praktisch.“
Interv.: „Abgestempelt, meinst Du?“
Michael: „Ja, das heißt, die sehen das Negative praktisch, was passiert ist und was der an Positivem macht nicht. Das stört die auch gar nicht, wenn der sich bessert. Die sind praktisch darauf abgefahren, was der gemacht hat.“ (3.27.1)
Jutta: „Oder wenn jetzt einer echt ein paar mal aufgefallen ist, ne, erstmal wird auf den ein Auge geworfen, ne, man kann sich überhaupt nichts mehr erlauben, man kann nicht mehr quatschen, man fällt direkt auf. Und wenn jetzt irgendwas ist, wo derjenige überhaupt nichts mit zu tun hat, dann sind die Lehrer direkt dran: ‚Ach der war das‘. Wenn man dann sagt: ‚Nein ich war das nicht’, dann glauben die einem das nicht, naja, und dann ist es aus.“ (2.24.18)
Die Äußerungen der Schüler bestätigen die Annahmen der Labeling-Theoretiker: Lehrer und zum Teil auch Mitschüler entwickeln mit der Zeit „eine selektive Sensibilität in bezug auf solche Handlungen, die die zugeschriebene Typisierung (master status) bestätigen, während gegenteilige Informationen ignoriert oder uminterpretiert werden“ (Peuckert 1979, S. 76). Mögliche interaktionelle Folgen der Etikettierung bestehen darin, dass die betroffenen Schüler in selektiver Weise Verdächtigungen ausgesetzt sind, schärfer kontrolliert und sanktioniert, im Hinblick auf soziale Kontakte ausgeschlossen und isoliert und im Lern- und Leistungsbereich benachteiligt werden (vgl. Hargreaves 1979, S. 147 ff.). Von den als ,abweichend’ Etikettierten wird nun erwartet, dass sie sich auch entsprechend abweichend verhalten; verhalten sie sich – entgegen den Erwartungen – nicht-abweichend, kann ihr Verhalten möglicherweise als hinterhältige ‚Täuschung’ oder als ‚Zufall’ interpretiert werden. Es wird dem Etikettierten also immer schwerer gemacht, eine andere Rolle als die ihm angesonnene und zugebilligte Abweichler-Rolle einzunehmen, wie auch das folgende Beispiel deutlich macht:
Beispiel 10:
Interv.: „Ja, und wie reagierst Du da drauf? Was machst Du dagegen?“
Rolf: „Ja, ich ärgere die Lehrer. Da mach‘ ich was, was die ärgert, damit ich denen das zurückzah¬len kann.“
Interv.: „Ich hab‘ noch ’ne Frage dazu: was kann man denn überhaupt machen, um einen schlechten Ruf bei den Lehrern überhaupt wegzukriegen? Kann man da überhaupt was gegen machen, oder was kann man dagegen machen?“
Andreas: „Ich glaub‘, da kann man gar nichts gegen machen. Wenn man den einmal hat, dann bleibt der. Oder es müßte ein neuer Lehrer kommen, der das nicht so weiß, wie einer ist. Und wenn dann da ’ne Rüge ist, dann hat der bei dem keinen schlechten Ruf. Aber bei denen, die bleiben, da behält der glaub‘ ich den schlechten Ruf.“
Guido: „Ich wollte nur sagen, wenn jetzt einer bei einem neuen Lehrer einen guten Ruf hat, dann erzählt der das den anderen Lehrern. Dann meinen die, der hätte sich gebessert und so. Man kann das auch wegmachen. Wenn man sich mal ein halbes Jahr anstrengt, gute Noten bekommt, dann ist das glaub‘ ich weg.“
Interv.: „Ja, meint Ihr, das geht?“
Gabi: „Ja, wie der schon gesagt hat: Man muß sich eine ganze Zeit lang ruhig verhalten, immer mitmachen, damit man gute Noten bekommt.“
Ingrid: „Ja, wenn man mal einen Ruf hat, dann ist es auch schwer, den wieder weg zu kriegen, vor allem, weil das ja auch mit den Noten ist. Wenn man jetzt einmal ’ne sechs, oder mehrmals ’ne sechs geschrieben hat, dann kriegt man die auch schlecht weg. Man muß dann vielmehr als die anderen aufpassen und so … Ich glaub‘ der Thomas wird das nicht schaffen. Da muß man schon wirklich clever sein, um den wieder weg 2u kriegen.“ (7.24.40)
Wenn es zutrifft, dass etikettierte Schüler – von Ausnahmen abgesehen (,Cleverneß’, ,übernormales Verhalten`) – wenig Chancen haben, einen Etikettierungsprozess in einem fortgeschrittenen bzw. eskalierten Stadium rückgängig zu machen, dann werden sich diese Schüler letztlich zur Übernahme der Rolle des Abweichlers gezwungen sehen. Soziale Etikettierungen verändern nach und nach die Bedeutung abweichenden Verhaltens im Leben des Schülers mit Auswirkungen auf seine ‚Selbstdefinition’ und seine weiteren Handlungsorientierungen, was empirische Belege bestätigen (vgl. Brusten/Hurrelmann 1976, S. 97 ff.; Lösel 1974; Hargreaves 1979, S. 150 ff.; Peuckert/Asmus 1979, S. 155 ff.). Der Etikettierte entwickelt mit der Zeit durch Übernahme der Fremddefinition ein abweichendes Selbstbild und erfüllt in Bezug auf sein Verhalten immer mehr die Erwartung, ein Abweichler zu sein. (6) Auch hierzu lieferten die Gruppeninterviews eindrucksvolle Deutungsmuster:
Beispiel 11:
Interv.: „Wie ist das, wenn man als abgestempelt gilt, als Störer?“
Ingo: „Ja, dann nehmen die mich kaum noch dran und so, wenn ich mich mal melde, und dann hab‘ ich auch schon gar keine Lust mehr mitzumachen, dann hör‘ ich auf. Dann geht das ja immer so weiter; dann erzählen die das den anderen Lehrern, daß der keine Lust heute hat und so und dann achten die direkt auf einen.“
Interv.: „Was machst Du denn dann, wie reagierst Du denn?“
Ingo: „Ja, dann hab‘ ich gar keine Lust. Dann nehme ich meine Mappe, kipp sie aus, räum‘ sie bi߬chen auf. Oder meinen Tornister, ich hab‘ ja so ein Eisending da und dann mach‘ ich den immer auf und zu, um die Lehrer zu ärgern. Damit das ein bißchen laut wird.“
Interv.: „Also, Du wehrst Dich, indem Du die Lehrer irgendwie ärgerst.“
Ingo: „Ja, oder ich schrei ‚was in der Klasse rum. Wenn irgendjemand was sagt, dann geb‘ ich ‚en dummen Kommentar dazu. Dann fängt alles an zu lachen… dann ist wieder ein bißchen Zeit gewonnen.“
Werner: „Manchmal werde ich auch für nicht ganz voll genommen, dann tu ich auch so, als sei ich nicht für voll zu haben.“
Interv.: „Ja, wie äußert sich das denn?“
Werner: „Ja, dann werd‘ ich so, wie man mich beschreibt, dann tue ich das auch. Damit sie recht haben, dann beschreiben sie mich dann wieder schlimmer.“
Interv.: „Also, machst Du dann extra, oder?“
Werner: „Ja, klar!“ (7.23.42)
Die von Etikettierungen betroffenen Schüler fühlen sich nicht nur ungerecht behandelt, sondern auch machtlos, um etwas an ihrer Situation zu ändern; eine Besserung würde aufgrund verfestigter Lehrerurteile sinnlos und ohne Erfolg sein. So begehen sie als Reaktion auf verfestigte Statuszuschreibungen weitere abweichende Handlungen („sekundäre Devianz“) (7), welche aus der Sicht des Handelnden als (sekundäre) Problemlösungsversuche erscheinen und in Resignation, Aggression, Ausweichen, ,Aus-dem-Felde-Gehen‘, Rückzug, Absentismus etc. bestehen können (vgl. Glötzl 1979, S. 118 ff.; Brusten/Hurrelmann 1976, S. 20). Solche Reaktionen werden von Lehrern und auch von Mitschülern in der Regel jedoch als Bestätigung ihrer vorgenommenen Typisierung aufgefasst. Eine abweichende Schulkarriere ist bei den betroffenen Schülern damit vorprogrammiert.
Fußnoten:
(1) Die Beispiele in diesem Beitrag bestehen aus Dialogen, die den Tonbandprotokollen verschiedener Gruppeninterviews mit Schülern entnommen sind. Die etwa 70minütigen Interviews wurden mit Schülergruppen von jeweils 10-14 Schülern verschiedener Schulformen (Haupt-, Real-, Gesamtschule, Gymnasium) anhand eines Interview-Leitfadens durchgeführt und auf Tonband aufgezeichnet. Die Namen der Schüler wurden geändert. Die angegebenen Ziffern bezeichnen die Fundstelle im Protokoll. Es sind hier vor allem typische Beispiele ausgesucht worden, sie stehen also meist für eine größere Anzahl ähnlicher Schüleräußerungen in verschiedenen Interviews. Was die Gruppeninterviews anbetrifft, so danke ich besonders G. Schmidt und P. Malinowski, die mich auf verschiedene Art unterstützt haben.
(2) Goffman (1972) beschreibt als „Unterleben“ in totalen Institutionen, wobei die geschilderten Reaktionsformen und Anpassungsmuster der „Insassen“ nicht selten mit den Verhaltensmustern bzw. Taktiken von Schülern in der Schule übereinstimmen (S. 169 ff.; vgl. auch Heinze 1980).
(3) Brusten/Hurrelmann (1976) nennen zwei Gruppen von Schülern, die in besonderem Maße Schwierigkeiten haben, die schulischen Leistungs- und Verhaltensstandards zu erfüllen: „Schüler mit unterschichtspezifischen Sozialisationsstrukturen und Sozialcharakteren und Schüler mit spezifischen affektiven Sozialisationsdefiziten“ (S. 21 f.). Um nicht Gefahr zu laufen, in der Schule dauernd negativ aufzufallen, werden vor allem die genannten Gruppen gezwungen sein, Taktiken der beschriebenen Art zu entwickeln. Die Existenz bzw. die Arten von Schülertaktiken werden somit möglicherweise schichtspezifisch verschieden sein. Die Chancen, nicht als Abweichler zu gelten, sind für Schüler aus unteren sozialen Schichten aber offenbar gering: Brusten/Hurrelmann (1976, S. 61 ff. und 134 ff.) und Lösel (1974) konnten empirisch nachweisen, dass solche Schüler häufiger als ‚abweichend’ typisiert werden, obwohl sie – nach eigenen Angaben – nicht mehr ‚Delikte’ begehen als andere Schüler.
(4) Für die betroffenen Schüler gibt es vor allem zwei Möglichkeiten, eine ‚erfolgreiche’ Etikettierung frühzeitig abzuwenden: Sie können sich aufgrund sozialer Kontrollreaktionen erstens konform verhalten; dies werden vor allem solche Schüler sein, die die schulspezifischen Normen und Werte weitgehend internalisiert haben und bei Regelverstößen Schuldgefühle und Ängste verspüren. Schüler können aber auch zweitens versuchen, „Techniken der Normalisierung und Neutralisierung“ (Hargreaves 1979, S. 146) einzusetzen, um das drohende Stigma abzuwehren, wie z. B. Leugnung, Rechtfertigung, Ablehnung der Verantwortung, Ablehnung der Norm, Diskreditierung des Geschädigten oder des Stigmatisierenden (vgl. hierzu Sykes/Matza 1968).
(5) Die Verarbeitung und Bewältigung des zugeschriebenen Abweichler-Status durch die Betroffenen wurde bislang selbst in Forschungen zum Labeling-Ansatz nur unzureichend angegangen. So kann hier nur auf die Ausführungen von Goffman (1967) zu „Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“ verwiesen werden. Ammann/Peters (1981) griffen diesen Ansatz auf und untersuchten „Bewältigungsargumentationen“ von Sonderschülern.
(6) Hargreaves (1979, S. 141 ff.) nennt vier Faktoren, die einen Einfluss darauf haben, ob Schüler letztlich das Etikett annehmen oder nicht: 1) die Häufigkeit der Etikettierung, 2) das Ausmaß, in dem der Schüler den Lehrer als signifikanten ‚anderen’ sieht, dessen Meinung zählt, 3) das Ausmaß, in dem andere (Lehrer, Mitschüler, Eltern) die Etikettierung stützen, 4) der Grad der Öffentlichkeit der Etikettierung.
(7) Lemert (1975) trifft im Hinblick auf abweichendes Verhalten eine Unterscheidung zwischen „primärer“ und „sekundärer Devianz“: Mit „primärer Devianz“ bezeichnet er solche Verhaltensweisen und Eigenschaften, welchen verschiedene Ursachen zugrunde liegen können und über die Anwendung von Regeln durch die Interaktionspartner als ,abweichend’ definiert werden (vgl. dazu Kap. 2 [siehe Literaturangabe der Falldarstellung]). Der Begriff „sekundäre Devianz“ bezieht sich dagegen auf das ,Endstadium’ eines Eskalationsprozesses: Auf die Etikettierung als Abweichler reagiert der Etikettierte mit abweichenden Handlungen.
Literaturangaben:
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Brusten, M./Hurrelmann, K.: Abweichendes Verhalten in der Schule. Eine Untersuchung zu Prozessen der Stigmatisierung, München 1976, 3. Aufl.
Bühlow, G./Clemens, W./Müller, G./Preuss-Lausitz, U./Weissbach, H. J.: Integration und Selektion in der Gesamtschule. Soziale Erfahrungen von Gesamtschülern Teil II, Weinheim 1977
Glötzl, H.: Das habe ich mir gleich gedacht. Der Einfluß von Lehrerverhalten und Schulsystem auf die Ausprägung und Verfestigung abweichenden Verhaltens, Weinheim 1979
Goffman, E.: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt/M. 1967
Goffman, E.: Asyle. Über die Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt/M. 1972
Hargreaves, D. H.: Reaktionen auf soziale Etikettierung. In: H.-J. Asmus/R. Peuckert (Hrsg.), a.a.O., 1979, S. 141-154
Hargreaves, D. H./Hester, St. K./Mellor, F. J.: Abweichendes Verhalten im Unterricht, Weinheim/Basel 1981
Heinze, T.: Schülertaktiken, München 1980
Lösel, F.: Lehrerurteil, implizite Devianztheorie und erfragte Delinquenz. In: Kriminologisches Journal 6/1974, S. 47-60
Peuckert, R.: Neuere Studien zum Problembereich „Stigmatisierungsprozesse in der Schule“. In: H.-J. Asmus/R. Peuckert (Hrsg.), a.a.O., 1979, S. 65-82
Peuckert, R./Asmus, H.-J.: Subjektive Wirkungen sozialer Etikettierungen. In: H.-J. Asmus/R. Peuckert (Hrsg.), a.a.O., 1979, S. 155-169
Ulrich, D./Mertens W.: Urteile über Schüler. Zur Sozialpsychologie pädagogischer Diagnostik, Weinheim/Basel 1973
Zinnecker, J.: Die Schule als Hinterbühne oder Nachrichten aus dem Unterleben der Schüler. In: G.-B. Reinert/J. Zinnecker (Hrsg.), Schüler im Schulbetrieb, Reinbek 1978, S. 29-121
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