Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Unterrichtsstörungen und Missverstehen – Kathrin

Unterrichtsstörungen und Missverstehen – Janka

Unterrichtsstörungen und Missverstehen – Samuel

Unterrichtsstörungen und Missverstehen – Roman

Falldarstellung

Deborah schreibt nicht

Die Kinder sollen eine Geschichte zum Bilderbuch „Nisses neue Mütze“ schreiben. Auf einem Bild ist der Junge Nisse zu sehen, der ausgerutscht und auf den Po gefallen ist.

Deborah: Wie schreibt man Aua?
Student: Was?
Deborah: Aua.
Student: Was willst du denn schreiben, Deborah?
Deborah: Aua, Nisse ist auf’n Aua gefallen.
Student: Ist auf den Aua gefallen? Das gibt’s doch gar nicht. Überleg dir doch erstmal genau, was du schreiben willst. (…)
Student: Deborah, wie wär’s, wenn du mal schreibst?
Deborah: Nein, aber ich weiß nicht, was ich schreiben soll.

Interpretation

Deborah schreibt nicht. Soviel zum Resultat. Zu Beginn der Sequenz aber hat Deborah eine Schreibidee. Sie will das Bild beschreiben. Deborah bittet den Studenten um Hilfe. „Wie schreibt man Aua?“ Der Student geht von seinem begrifflichen Wissen aus. Er belehrt Deborah aus einer „Erwachsenenperspektive“, was es gibt und was es nicht gibt. Er geht weder auf ihre Frage ein noch achtet er Deborah und ihre Begrifflichkeit. Vielleicht sieht Deborah die Bezeichnung „Po“ als einen Ausdruck an, der in der Schulsprache keinen Platz hat – und schon gar nicht in schriftlichen Texten – während sie „Aua“ angemessen findet. Wie oft bekommen auch noch Schulkinder zu hören: „Hast du Aua gemacht?“ Doch nun gibt es „Aua“ nicht mehr. Zudem unterstellt der Student, Deborah habe nicht überlegt, was sie schreiben wolle. Er lässt sich weder auf ihr begriffliches Wissen ein, noch geht er davon aus, dass Deborah aufgrund einer misslungenen kommunikativen Verständigung nicht schreibt. Er erwartet von Deborah Verstehen, er erwartet (einseitig) eine empathische Zuhörerin. In vielen Unterrichtssituationen sollen Kinder bzw. Lernende die generelle Bereitschaft zum Verstehen aufbringen. Dass der Lehrende (oder hier der Student) keine Bereitschaft zur (gelungenen) Kommunikation aufbringt, wird häufig nicht reflektiert. Die Pädagogik ist eine Wissenschaft vom Menschen und nicht vom Kinde. Der Student behandelt Deborah als ein zu belehrendes Kind, als unfertigen Menschen.

Durch die „freie“ Schreibaufgabe wird Deborah zudem suggeriert, sie dürfe ihre persönlichen Ideen aufschreiben. Der Student nimmt ihr aber diese Illusion, indem er von ihr seine Konventionen fordert. Noch beherrscht Deborah das „Spiel der Schule“ nicht vollständig. Sie kann nicht so tun, als hätte sie absichtlich „Blödsinn“ gesagt. Aufgrund ihres begrifflichen Wissens kann sie allerdings nicht das Erwartete aufrufen. Als Konsequenz schreibt sie nicht. Und der Student wird vermutlich über die Passivität Deborahs klagen.

Lehren

Nimmt man die These der mangelnden sprachlichen Verständigung als eine Erklärung für erschwertes Lernen an, so hat dies Konsequenzen für die Lehre. Prinzipiell sollte immer von einem generellen Missverstehen ausgegangen werden, d.h. es sollte überprüft werden, inwieweit mangelndes Verstehen Resultat für Schwierigkeiten sein kann. Eine weitere Konsequenz ist das Akzeptieren der individuellen begrifflichen Welt der Kinder. Auch wenn Fibeln und Lehrwerke laut Untersuchungen „Durchschnittswörter“ in Bezug auf den Bekanntheitsgrad benutzen und Lehrende um eine „verständliche“ Sprache bemüht sind, heißt dies nicht, dass alle Kinder diese Wörter kennen und schon gar nicht, dass sie damit ein für den Lernerfolg taugliches Wissen verbinden.

In Bezug auf das Beispiel Deborah wäre wünschenswert, wenn der Student Deborahs Wort akzeptiert hätte, indem er ihr sagt, wie man es schreibt, zugleich ihr aber auch eine Alternative angeboten hätte, die sie annehmen oder auch ablehnen kann. Dies auszuhalten muss auch gelernt werden.

Auch im Beispiel Sebastian unterlässt die Lehrerin eine Erweiterung seines begrifflichen Wissens. Statt angemessen auf seine Äußerung einzugehen und ihm anzubieten (und einzuhalten!), nach der Stunde dieses – für ihn wichtige – Thema aufzunehmen, akzeptiert sie seine Welt nicht.

Im Beispiel Janka gibt Janka dem Studenten immer wieder Vorgaben, durch die eine Kommunikation über den Gegenstand aufrechterhalten werden kann, ohne dass Janka von der Sache etwas verstehen muss, und der Student geht darauf nicht ein. Er gibt ihr keine Hilfen, sondern behindert sie durch seinen „Unterricht“ (vgl. Peschel in diesem Band). Würde der Student Janka und ihre Worte ernst nehmen, könnte er ihr das Wort aufschreiben, ihr anbieten, das „richtige“ Wort mit dem ihrigen zu vergleichen etc.

Die Lehrperson im Beispiel Samuel ignoriert Samuels sprachliche Kompetenzen. Für sie steht das Sozialverhalten im Vordergrund. Es liegt nahe, dass die Lehrerin deshalb „vergisst“, Samuel den Inhalt des Homonyms „Schlange“ deutlich werden zu lassen. Hätte es sich um das Wort „Rotationsmaschine“ gehandelt, ein Wort, das für die Lehrerin schwierig erscheint, wäre die Lehrerin viel eher bereit, das Wort zu erklären. Das hat jedenfalls die Untersuchung der Unterrichtsprotokolle

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gezeigt (vgl. Osburg 2002).
(…)

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