Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

(…)

I

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Doppelrolle Ausbilder/Prüfer die Ausbildungsinteraktion potentiell belastet. Denn sie wirft die Frage auf, ob nicht die Art und Weise, wie ich mich als Referendar in den Ausbildungssituationen verhalte, im Studien- oder Fachseminar oder im Gespräch mit den Mentoren, negative Folgen für meine Beurteilung hat. Selbstverständlich, übrigens ganz in Übereinstimmung zur schulisch- unterrichtlichen Situation, führt die Doppelrolle, sei es direkt (z.B. in Form von schriftlichen, nicht formalisierten Beurteilungen), sei es indirekt (durch subkutane, latente Effekte bei der formalisierten Benotung) zu einem Zuwachs an Diffusität und damit zu einer Abnahme formaler Kontrollierbarkeit der Leistungssituation; und das heißt wiederum, dass, mit Bourdieu gesprochen, habituelle Dispositionen zu einem Parameter der Beurteilung werden.

Dieser Prozess und seine Zusammenhänge sind bestens bekannt. Ich ha­be angedeutet, dass er auch im schulischen Kontext anzutreffen ist. Aber na­türlich finden wir diese Phänomene in allen Situationen der Leistungsbeurtei­lung, die sich nicht auf einen unpersönlichen, universalistischen Formalismus (wie etwa in zentralen schulischen Leistungsvergleichstests) beschränken. In­sofern ist die Beurteilungssituation im Referendariat, jedenfalls in ihren strukturellen Grundlagen, alles andere als außergewöhnlich; und dasselbe gilt von den mit dieser Situation verbundenen Belastungen. Die sozialpsycholo­gischen Kosten des Referendariats und seiner Ausbildungs- und Prüfungssi­tuation sind zunächst diejenigen, die wir in allen gesellschaftlichen Bereichen des Zugangs zu Berufspositionen qua Ausbildungszertifikat finden.

Die formale Struktur der personalen Ungeschiedenheit von Ausbilder­ und Prüfungsrolle kann als solche kaum in überzeugender Weise als Grund für eine referendariatsspezifische Belastung angeführt werden. Wenn diese Situation dennoch als besonders problematisch angesehen wird, so können dafür nicht die äußeren Bedingungen verantwortlich sein; der Grund für die Unzufriedenheit muss vielmehr in ihrer materialen Ausgestaltung gesucht werden. Nicht die Tatsache, dass die Ausbilder zugleich eine Prüferrolle ein­nehmen, sondern der Umstand, wie dies erfolgt, würde dann die besondere Situation des Referendariats charakterisieren. Denn die Doppelrolle kann nur dann Anlass zu einer besonderen Belastung werden, wenn es nicht gelingt, die institutionalisierte personale Ungeschiedenheit kommunikativ abzufe­dern. Dazu gehört beispielsweise das Vertrauen darauf, dass die Diffusität der Ausbildungssituation nicht zu einer „indiskreten“ Beobachtungssituation de­generiert, dass also Ausbilder und Referendare dazu in der Lage sind, im wechselseitigen Austausch einen prüfungsindifferenten Bezug zur Sache her­zustellen. Umgekehrt würde eine Ausbildungskultur, der dies nicht gelingt, sowohl die Sache als auch die sich auf sie beziehende Interaktion auf Prü­fungsrelevanz hin reduzieren. Sie betonte gegenüber dem Modell einer kolle­gial vermittelten Kooperation die Asymmetrie der Ausbildungsinteraktion. Erst die Unfähigkeit oder das fehlende Vertrauen in die Fähigkeit zur Tren­nung von Ausbildungs- und Prüfungspragmatik verleiht der Doppelrolle ihre die Kooperativität und antizipierte Kollegialität der Ausbildungssituation un­terminierende Wirkung.

In der personalen Ungeschiedenheit der Ausbildungs- und Beurteilungszu­ständigkeit tritt uns genau jener Strukturzusammenhang entgegen, in dem ein formales, leicht zu identifizierendes Merkmal der Ausbildung für ein Prob­lem verantwortlich gemacht wird, das sich erst auf materialer Ebene ergibt. Dort nimmt das Problem aber eine nur unscheinbare und unspektakuläre Ge­stalt an. Es ist auf der materialen Ebene schwer zu identifizieren und liefert kaum den Stoff für jene Empörung, die ihm der Sache nach zukäme. Hilflos versucht sie sich, auf der formalen Ebene Ausdruck zu verschaffen und macht sich dabei unglaubwürdig.

Wir werden uns in den folgenden Fallstudien der materialen Ebene zu­wenden. In explorativer Absicht soll an einigen Sequenzen aus schriftlichen Beurteilungen von Referendaren überprüft werden, ob sich empirische Evi­denzen für die These latenter Probleme kollegialer Kooperation finden las­sen. Im Kontext der Doppelrolle und des Prüfungsproblems eröffnet dieser Materialzugriff eine interessante Perspektive. Die Form der schriftlichen Be­urteilung zwingt die Gutachter nämlich dazu, über eine notenförmige Bewer­tung (die uns als solche hier gar nicht interessieren soll [1]) hinaus ihre Erwar­tungen an die Referendare zu artikulieren. Darin sind nicht nur die Kriterien der jeweiligen Beurteilung enthalten; darüber hinaus dokumentieren schriftli­che Beurteilungen grundlegende Haltungen zu der Ausbildungssituation und ihren Ansprüchen und vor allem auch eine (implizite und explizite) Selbstthematisierung der Rolle des Ausbilders/Gutachters; auch in Bezug zu den zu beurteilenden Referendaren. Die berufs- und ausbildungskulturellen Selbst­verortungen, die in einer schriftlichen Beurteilung notwendig vorgenommen werden müssen, verweisen über das eigene Rollenverständnis hinaus auf die Komplementärrolle der Auszubildenden und damit, wenn auch nur indirekt, auf das Ausbildungsverhältnis selbst.

So erwarten wir von der schriftlichen Beurteilung jenseits ihrer vorderg­ründigen und offiziellen Pragmatik Auskunft nicht über die zu beurteilende Person, sondern Auskunft über eine praktizierte Ausbildungskultur.

II

Die kurzen Sequenzen, die zwei Gesamtbeurteilungen entnommen sind,[2] sind im thematischen Feld von „(Selbst-)Reflexion“ und „Diskussion“ ange­siedelt. Es geht jeweils um Fragen der geistigen und diskursiven Bearbeitung pädagogischer Praxis. Dabei kommt aber nicht die Orientierung an einem Modell einer kollegial-diskursiven Berufskultur zum Ausdruck. Vielmehr scheint die dominante Orientierung einer konformistischen Berufskultur ge­schuldet zu sein, wobei sich heuristisch zwischen autoritativem, infantilisierendem und technokratischem Konformismus unterscheiden lässt.

(3) Technokratischer Konformismus

In den Unterrichtsreflexionen konnte die Studienreferendarin die Stunde hin­sichtlich Methodik, Lernpsychologie und Kommunikation meist umfassend einschätzen. Auch hier zeigten sich Probleme beim Einschätzen des Zielas­pekts. Hinweise nahm Frau B. an, wenn sie von deren Richtigkeit überzeugt war. Hier möchte ich hervorheben, dass Frau B. sehr gewissenhaft nachfrag­te. Es ging ihr stets darum, sich nicht überreden, sondern überzeugen zu las­sen. Wenn sie dann von der Richtigkeit überzeugt war, setzte sie diese Ge­danken meist in einer der darauffolgenden Stunden um. [3]

Auch in dieser Textpassage geht es thematisch um Unterrichtsreflexion. Die Beurteilung nennt die Dimensionen, in denen sich die Reflexion vollziehen soll: Methodik, Lernpsychologie, Kommunikation und Zielaspekt. Hinsicht­lich der ersten 3 Dimensionen wird die Reflexionskompetenz der Referenda­rin positiv eingeschätzt: sie konnte die Stunde meist umfassend einschätzen. Damit ist die praktische Urteilskompetenz thematisch. Etwas einschätzen zu können bedeutet, Sachverhalte und Vorgänge auf Motive und Interessen, auf Folgen und Nebenfolgen hin analytisch würdigen zu können. Es handelt sich dabei um eine evaluative, beurteilende oder diagnostische Kompetenz.

Eindeutig ist damit ein Berufsverständnis zum Ausdruck gebracht, das der Unmittelbarkeit der beruflichen Handlungspraxis eine distanzierte Beur­teilung (Einschätzung) dieser Praxis zur Seite stellt. Insofern stehen wir vor einem Konzept der Reflexivität. Allerdings wird hier eine technologische, zweckrationale Reflexivität in Anspruch genommen. Die der Referendarin bescheinigte Reflexionskompetenz läuft darauf hinaus, dass sie dazu in der Lage ist, im Nachhinein richtiges von falschem Handeln zu unterscheiden, dass sie einschätzen kann, was sie gut gemacht hat und was sie schlecht ge­macht hat. Der praktische Fokus dieser Operation besteht darin, das Gute bei­zubehalten, das Schlechte in Zukunft zu ändern.

Wichtig bleibt festzuhalten, dass damit ein Verständnis von Unterrichts­reflexion, das über die technologisch-zweckrationale Reflexivität hinaus gin­ge, ausgeschlossen ist. Die Infragestellung etwa von Zwecken selbst ist in diesem Modell nicht vorgesehen. Trotz der beanspruchten reflexiven Kompe­tenz bleibt es hier bei einem handwerklichen Modell schulpädagogischen Handelns. Aus der Perspektive der berufssozialisatorischen Kollegialität ist in diesem Modell das Symmetrie-Asymmetrieverhältnis umfangslogisch de­finiert. Es basiert auf der Vorstellung einer vollständigen Kompetenz, die es in der Ausbildung zu erwerben gilt. Die Symmetrierelation ist dabei durch den Bestand der schon angeeigneten Fähigkeiten gegeben, die Asymmetriere­lation durch die noch nicht angeeigneten Fähigkeiten. Wie im ersten Fallbei­spiel (s.o. Ausbildungskultur im Referendariat – Beurteilungen, Falldarstellung 1) taucht hier ein Kompetenz-Performanz-Problem auf. Statt auf die grundsätzliche Kompetenz hinzuweisen (Die Referendarin ist dazu in der Lage, …adäquat einzuschätzen), wird hier ein Häufigkeitsausdruck gewählt: meistens konnte sie es, manchmal konnte sie es nicht. Wir stehen also vor derselben Figur, die oben ein noch nicht immer feststellte. Deren Konkretis­mus wiederholt sich nun in dem umfassend. Substanzielle, material gesättigte Urteilsdimensionen bezüglich einer beruflichen Handlungskompetenz werden also systematisch durch umfangslogische Kategorien ersetzt; Quantitäten tre­ten an die Stelle von Qualitäten.

Auch hier zeigten sich Probleme beim Einschätzen des Zielaspekts.

Unter den vier Kompetenzdimensionen gibt der Zielaspekt Anlass zu einem negativen Urteil. Diesbezüglich zeigten sich Probleme. Gemeint ist wohl, dass die Einschätzung des Zielaspekts der Referendarin Probleme bereitet. Sie tut sich diesbezüglich schwer. In der Beurteilung aber verschwindet sprachlich ein Handlungssubjekt. Wenn wir im Kontext des Kfz-Handwerks etwa die Formulierung finden: auch hier zeigten sich Probleme beim Aus­wechseln der Bremsscheiben, so verweist das auf ein technisches Problem der Bremsanlage, nicht auf die Unfähigkeit der Mechaniker. An diesem ein­fachen Gedankenexperiment mag der technokratische Duktus der gewählten Beurteilungsformulierung deutlich werden. Das Einschätzen des Zielaspekts – der materiale Ort der Unterrichtsreflexion – erscheint sprachlich verding­licht.

Hinweise nahm Frau B. an, wenn sie von deren Richtigkeit überzeugt war.

Explizit wird nun der Aspekt des Konformismus ins Spiel gebracht. Denn dem Annehmen von Hinweisen steht das Ablehnen gegenüber. An der Negativform zeigt sich deutlich eine abermalige sprachliche Schieflage. Denn streng ge­nommen ist ein Hinweis nicht Gegenstand des Annehmens oder Ablehnens. Hinweise kann man aufgreifen, aufnehmen, beachten oder berücksichtigen, und man kann sie ignorieren, missachten oder unberücksichtigt lassen.

Wie ist die sprachliche Verschiebung, die hier vorliegt, zu verstehen? Wenn wir nach Kandidaten für ein Annehmen suchen, die dem Hinweisen ähnlich sind, dann stoßen wir auf den Rat. Einen Rat kann man annehmen oder ablehnen (oder nicht annehmen). Anders als ein Hinweis zielt ein Rat auf eine bestimmte Handlungspraxis. Der Hinweis als solcher zielt dagegen nicht auf eine Handlungspraxis, sondern auf die Objektwelt bzw. die Welt propositionaler Gehalte. Wir können uns die Differenz an einem einfachen Alltagsbeispiel deutlich machen. In Vorbereitung einer langen Autoreise kann mir ein Freund raten, die Reise durch eine Zwischenübernachtung zu unterbrechen. Treffe ich nun am Abend des ersten Reisetages auf ein Hin­weisschild am Straßenrand, das ein Hotel ankündigt, so kann ich diesen Hin­weis nicht ablehnen. Ich kann dann den Rat meines Freundes annehmen. Ha­be ich mich dazu entschlossen, auf eine Übernachtung zu verzichten, dann habe ich den Rat meines Freundes abgelehnt (oder: nicht angenommen). Das Hinweisschild aber habe ich unberücksichtigt gelassen.

Dieses Gedankenexperiment zeigt, welche Verwechselung in der Beur­teilung vorliegt. Der Hinweis wird selbst schon als praktische Handlungsan­leitung verstanden. Die Hinweise, die die Referendarin annimmt, sind eigent­lich Ratschläge. Nun wird man vielleicht einwenden, dass solche Hinweise im Rahmen von Nachbetrachtungen des Unterrichts kaum anderes sein kön­nen als Ratschläge. „Sie sprechen sehr leise“ bedeutet: „Sie sollten lauter sprechen“. „Sie sind etwas früh dazu übergegangen, ein neues Thema einzu­führen“ bedeutet: „Sie hätten den Wiederholungsübungen mehr Raum geben sollen“ usw. Und in der Tat stellen Hinweise solcher Art nichts anderes als Ratschläge im Sinne praktischer Handlungsanleitungen dar. Bemerkenswert dabei ist aber, dass die Möglichkeit eines Hinweises, der nicht zugleich In­struktion ist, gar nicht vorgesehen ist. Unterrichtliche Handlungsprobleme, die sich nicht durch eine einfache Handlungsanweisung lösen lassen, und darin besteht die Pointe der Interpretation dieser Textsequenz, sind als Ge­genstand der Unterrichtsreflexionenerst gar nicht vorgesehen.

Das Problem eines unterrichtstechnologischen Berufsverständnisses wird damit offensichtlich. Es besteht nicht in der Anwendung von Techniken. Nichts spricht gegen die Annahme, dass im Unterricht sich bestimmte Hand­lungsprobleme durch die Anwendung von Techniken lösen lassen und dass demzufolge die Aneignung dieser Techniken ein Ziel der zweiten Phase der Lehrerausbildung darstellt. Technokratisch wird dieses Berufs- und Ausbil­dungsverständnis dann, wenn es die allumfassende problemlösende Zustän­digkeit der Unterrichtstechnologie proklamiert. Genau dies vollzieht sich hier. Von einem technokratischen Habitus können wir deshalb sprechen, weil die technologische Kritik die Unterrichtsreflexion monopolisiert. Dass die Reflexion auf unterrichtliche Problemstrukturen stoßen kann, deren Lösung durch praktische Handlungsanweisungen nicht zu bewerkstelligen ist, ist von vornherein ausgeschlossen.

Die Feststellung, dass die Referendarin die Hinweise dann und nur dann annahm, wenn sie von deren Richtigkeit überzeugt war, bringt eine Ambiva­lenz zum Ausdruck. Der ausbildungslogische Funktionsablauf: Hinweise ge­ben, annehmen, umsetzen, ist durch ein subjektives Moment vermittelt. Bei dieser Referendarin kommt er nur dann zu Stande, wenn sie von der Richtig­keit der Hinweise überzeugt ist. In dieser Feststellung ist eine deutliche Kritik an der Referendarin enthalten. Sie macht die Einnahme ihrer Auszubilden­denrolle von ihren Überzeugungen abhängig. Liegen diese nicht in Überein­stimmung zu den Hinweisen des Ausbilders, dann finden diese keine Berück­sichtigung, bleiben nutzlos und ungehört. Setzen wir voraus, dass der Ausbil­der seinerseits von der Richtigkeit seiner Hinweise überzeugt ist, so hat er es, jedenfalls aus seiner Perspektive, mit einer ziemlich „störrischen“ Referenda­rin zu tun. Andererseits betont der Beurteilungstext in dieser von ihm diag­nostizierten partiellen und bedingten Kooperativität eben den Kooperations­aspekt. Immerhin: Wenn die Referendarin seine Hinweise annimmt, ist dies von echter Überzeugung getragen.

Wir treffen hier auf ein durchaus wohlwollendes und optimistisches, den subjektiven Standpunkt einbeziehendes Ausbildungsverhältnis. Diese Bezug­nahme ist typologisch zwischen dem Autoritatismus des ersten Fallbeispiels und einem kollegial-diskursiven Modell angesiedelt. Die technokratisch ver­mittelte Asymmetrie ist gepaart mit einer verständnisvollen Haltung gegen­über den subjektiven Einflussfaktoren. Diese werden nicht autoritativ ver­dammt, sondern akzeptiert und toleriert. Allerdings wird der Subjektivismus nicht positiv eingebunden in ein Modell des diskursiven Austauschs. Ausbil­dungslogisch bleibt es bei einem einseitigen Übernahmemodell (An- bzw. Übernahme von Hinweisen). Der Subjektstatus der Referendarin gründet sich in einer Selektions- und Filterinstanz. Er bleibt eine geduldete, wohlwollend tolerierte Störgröße in einem technisch vermittelten Funktionszusammen­hang, in dem kein Platz ist weder für das Moment der subjektiven Aneignung (im Unterschied zu An- und Übernahme) noch für das Moment der ausbil­dungslogischen Rückvermittlung im Sinne reziproker Interaktion.

Hier möchte ich hervorheben, dass Frau B. sehr gewissenhaft nachfragte. Es ging ihr stets darum, sich nicht überreden, sondern überzeugen zu lassen. Wenn sie dann von der Richtigkeit überzeugt war, setzte sie diese Gedanken meist in einer der darauffolgenden Stunden um.

Die Beurteilung erläutert nun den vorangegangenen Satz. Wir erfahren, wie es zu der Überzeugung kommt und was es heißt, dass Frau B. Hinweise an­nahm.Die oben rekonstruierte Ambivalenz wird überdeutlich. Fast empha­tisch nimmt der Beurteilungstext die Referendarin gegen das eigene Urteil in Schutz: „Nein, bei Frau B. handelt es sich keinesfalls um eine störrische Per­son. Sie beharrt nicht auf ihren Überzeugungen, sondern ist bereit, sich über­zeugen zu lassen. Gelingt dies nicht, ist das nicht ihrer Uneinsichtigkeit, son­dern vielmehr ihrer Aufrichtigkeit zu verdanken, die sie gegen rhetorische Manipulationen feit.“

Allerdings wird hier die Anerkennung, die der Referendarin gezollt wird, mit eben jener Infantilisierungslogik erkauft, auf die wir oben schon gestoßen sind. Die Subjektivität wird nicht als Autonomie der gedanklichen Erschlie­ßung konzipiert, sondern als Bemühen um einen sehr gewissenhaften Nach­vollzug. Die Referendarin erscheint nicht als autonome Diskurspartnerin, sondern als aufrichtig um gedankliche Assimilation bemühte Person. Ist diese Assimilation erst geglückt, dann ist das Ausbildungsziel fast schon erreicht; dann ist die Umsetzung des Gedankens, meist jedenfalls, gewährleistet. So bleibt das Ausbildungsmodell, auch wenn es den „Funktionsstörungen“ mit Verständnis und Sympathie begegnen kann, gefangen in der Logik der An- und Übernahme von Handlungsanweisungen.

III

Keine der analysierten Sequenzen verweist sinnstrukturell auf ein Modell einer Ausbildungskultur im Geiste eines kollegialen Austauschs. Der kleinste gemeinsame Nenner der hier betrachteten Textstellen kann vielmehr in einem auf Unterwerfung und Anpassung beruhenden Ausbildungsverständnis gese­hen werden. Bezüglich dem einleitend thematisierten Problem der Asymme­trie der Ausbildungssituation und der Doppelrolle, die sich herstellt, indem die Ausbilder zugleich als Prüfer erscheinen, erlauben die Befunde der Inter­pretation wichtige Modifikationen. Zunächst verdeutlichen sie, dass die pragmatisch erzwungene Asymmetrie der Ausbildungssituation nicht schon den Stil der Ausbildung vorentscheidet. Die Art und Weise, in der die Beur­teilungen berufliche Adäquanzmodelle mobilisieren, entlang derer sie zur Einschätzung der zu Beurteilenden gelangen, kann sich nicht auf das bloße Vorliegen der Asymmetrie berufen. Die autoritativen, infantilisierenden und technokratischen Orientierungen, die in den interpretierten Beurteilungsse­quenzen aufscheinen, sind weder durch die Ausbildungs-, noch durch die Be­urteilungspragmatik prädeterminiert. Sie können sich nicht darauf berufen, eine notwendige Folgeerscheinung eines qua Institutionalisierung erzeugten Handlungsproblems zu sein. Das Obwalten des hier angetroffenen Konfor­mismus vollzieht sich gleichsam im Schutze der ausbildungspragmatischen Asymmetrie. Sie ist dabei allenfalls als Bedingung der Möglichkeit der kon­formistischen Adressierung zu sehen; nicht als deren kausale Verursachung. Deshalb müssen wir die interpretatorischen Befunde auf theoretischer Ebene als Ausdruck berufs- und ausbildungskultureller Dispositionen, nicht als Ausdruck institutionalisierter Gegebenheiten in Rechnung stellen. Die Dele­gation des Problems an institutionalisierte Strukturen verdeckt den Blick auf die problemerzeugenden, ausbildungshabituellen Strukturen. Und die fälsch­licherweise vorgenommene kausale Attribuierung an die institutionalisierten Verhältnisse verhindert nicht nur eine „Linderung“ durch eine angemessene Problembearbeitung; sie trägt darüber hinaus zur Reproduktion des Problems bei.

Unsere explorativen Fallrekonstruktionen lassen nicht nur eine institutio- nalisierungskritische Problemdeutung als fragwürdig erscheinen; sie geben auch keinen Anlass dazu, ausbildungsmisanthrope Ressentiments zu schüren. Der konformistische Geist, der uns in unterschiedlichen Facetten begegnet ist, wäre falsch verstanden, würde er mit Missgunst gleichgesetzt werden. Wir haben oben argumentiert, dass die Diffusität der Prüfungssituation ein Problem der formalen Kontrolle aufwirft. Den Referendaren steht eine formalisierbare Berufungsinstanz nicht zur Verfügung. Sie müssen auf die materiale Angemessenheit ihrer Beurteilung vertrauen. Die Befürchtung, dieses De­fizit formaler Kontrolle führe zu einer „unfairen“ Beurteilung, erweist sich im Lichte der hier analysierten Beurteilungssequenzen als unbegründet. Nichts deutet darauf hin, dass die Ausbilder ihre superiore Position in einer gleich­sam sadistischen Weise[4] ausnutzen wollen. Im Gegenteil. Die Texte sind eher von Wohlwollen als von Missgunst gegenüber den zu Beurteilenden gekenn­zeichnet. Die Gutachter sind sichtlich bemüht, die Stärken herauszustreichen und die Schwächen nicht überzubetonen. Es ist zwar vorstellbar, dass die so Beurteilten inhaltlich der Einschätzung ihrer Stärken und Schwächen nicht zustimmen und sich tatsächlich durch die Beurteilungen ungerecht behandelt und benotet fühlen. Aber auch wenn wir diese Möglichkeit nicht ausschlie­ßen können, geben die analysierten Texte keinen Anlass zu der Befürchtung, die Ausbilder formulierten ihre Beurteilungen in einer überkritischen oder gar schädigenden Weise.

Die konformistische Anpassungs- und Unterwerfungslogik ist, auch in der oben rekonstruierten autoritativen Variante, keine Tyrannei. Aber sie installiert eine Ausbildungskultur, die nicht nur die Erwartungen an eine intel­lektuell anspruchsvolle, diskursive und kollegiale Ausgestaltung des Referendariats nicht erfüllt. Sie bleibt auch deshalb unbefriedigend, weil sie den Ansprüchen, die sie selbst im Munde führt – Selbstreflexivität und diskursi­ver Austausch spielen ja in den Beurteilungen inhaltlich eine große Rolle -, nicht nachkommt. Sollten die im Dienste der Prägnanz ausgewählten Fallbei­spiele und Sequenzstränge nicht eklatante Ausnahmen darstellen, dann zeu­gen sie sehr wohl von der Idee einer reflexiven und diskursiven Ausbil­dungskultur. Diese Idee scheint aber mehr als legitimatorisches Sprachinven­tar vorzuliegen denn als lebendige Kultur. Als bloße Floskeln erinnern die Beurteilungssequenzen an ein Modell kollegialer Anerkennung im Modus des diskursiven Austauschs, dem sie selbst nicht folgen.

Das ausbildungskulturelle Defizit, das in den interpretierten Texten zum Ausdruck kommt, besteht im wesentlichen darin, dass ein Ausbildungsverhält­nis gesetzt wird, das nicht von dem Geist getragen ist, dass die erfolgreiche Ausbildung zu einer Statusgleichheit zwischen Ausbilder und Auszubildendem fuhrt. Das eben würde die Ausbildungskultur als kollegiale charakterisieren. Schulisch, nicht nur in derjenigen Sequenz, die sich umstandslos als Verbalbe­urteilung lesen ließ, erscheinen uns die Texte umgekehrt deshalb, weil sie selbst dort eine kollegiale Anerkennung strukturell verweigern, wo diese als Sprechakt der Beurteilung der Form nach erteilt wird. So heißt es in dem mit 11 Punkten bewerteten Fall: „In der Summe aller für den Lehrerberuf einzuschät­zenden Qualifikationen bleibt festzustellen, dass [Referendar] für die Lehrertä­tigkeit über alle notwendigen Voraussetzungen verfügt und seine Eignung in vollem Maße gegeben ist.“ In der Beurteilung der mit 8 Punkten bewerteten Referendarin heißt es zurückhaltender: „Meines Erachtens ist Frau G. für den Lehrerberuf geeignet.“ Die Beurteilungsdifferenz wird in den Formulierungen unmittelbar ersichtlich. Aber wie Schülern oder untergebenen Mitarbeitern at­testiert ihnen der Beurteilungstext alles mögliche; aber er vollzieht nicht jene kollegiale Anerkennung, in der die Asymmetrie des Ausbildungsverhältnisses kontrafaktisch aufgehoben ist. Auf diese Anerkennung muss auch derjenige Referendar verzichten, der sich über das Urteil: „Eignung in vollem Maße ge­geben“ inhaltlich freuen kann. So wie ein im Geiste einer kollegialen Ausbil­dungskultur die schlechtere Bewertung nicht ein Weniger an Kollegialität dar­stellen würde, so kann hier die bessere Beurteilung nicht über die in die Beur­teilung eingeschriebene Unkollegialität hinwegtrösten.

Gerade die letzte Überlegung könnte darauf hinweisen, dass die ausbil­dungskulturellen Probleme der zweiten Phase der Lehrerbildung durch Be­fragungen nicht ohne weiteres zum Vorschein kommen. Denn aus der Pers­pektive eines rein strategischen Interesses an der Beurteilung gibt das Referendariat wohl wenig Anlass zur Klage. Mehr noch: die Logik der konformis­tischen Anpassung bietet ja durchaus strategische Vorteile für das Ziel eines erfolgreichen Ausbildungsabschlusses. Kehrseitig müsste eine Kritik an der Ausbildungskultur somit u. U. in Kauf nehmen, den strategischen Interessen am äußeren Ausbildungserfolg zuwider zu laufen. Im Namen eines materialen Interesses an einer kollegial angemessenen Ausbildungskultur müssten die Referendare dazu bereit sein, ein Wohlwollen etwa als Ausdruck einer infantilisierenden Adressierung zu kritisieren, das zugleich aber ihren strategi­schen Interessen entgegen kommt. Die häufig gerade an standardisierte Be­fragungsmethoden herangetragene Erwartung, aus den Äußerungen der Refe­rendare eine Problemdiagnose der zweiten Phase zu gewinnen, erscheint an­gesichts dieser Interessensfalle allzu optimistisch.

Sollten, was zu prüfen wäre, unsere sehr punktuellen Beobachtungen von allgemeiner Bedeutung für die ausbildungskulturellen Gegebenheiten der zweiten Phase der Lehrerbildung sein, dann steht dieser Ausbildungsab­schnitt unter einem eigentümlichen Vorzeichen. Die Einsozialisierung in den Lehrerberuf erfolgt nicht dadurch, dass die Referendare, wenn auch im Status eines Noviziats, kollegiale Anerkennung erfahren, sondern dadurch, dass sie (wieder) zu Schülern gemacht werden. In dem programmatischen Ablauf­muster, das einer wissenschaftlichen Ausbildung eine berufspraktische folgen lässt, situiert sich das Referendariat nicht als Vermittlung, nicht als berufs­praktisch orientierte Progression der wissenschaftlichen Ausbildung, sondern als Regression. Auf die universitäre Sozialisation folgt nicht die kollegiale. Die Ausbildungskultur im Referendariat scheint vielmehr darauf gerichtet zu sein, die Umorientierung der universitären Sozialisation (gegenüber der schu­lischen) rückgängig zu machen. Die viel zitierte Initialadressierung der Refe­rendare: „Vergessen Sie alles, was Sie im Studium gelernt haben“, würde dann primär nicht auf die Differenz der Ausbildungsabschnitte abheben („Sie lernen hier etwas, was Sie dort nicht gelernt haben“), sondern würde jenem regressiven Moment Ausdruck verleihen, dem das universitäre Intermezzo nur störend ist auf dem berufssozialisatorischen Weg der Rückgewinnung der Schülerrolle. Interpretieren wir das Referendariat als berufliche Initiations­phase, dann folgt es nicht der Logik der Aufnahme in den Kreis der Kolle­gen, sondern der Logik der letztmaligen Herabwürdigung als berufliche Ein­trittskarte.

Fußnoten:

1) Die im Folgenden interpretierten Sequenzen entstammen „Gesamtbeurteilungen“ durch den Hauptseminarleiter (Brandenburg). Diese Gesamtbeurteilungen erfolgen auf der Grundlage von Beurteilungen durch die Ausbildungslehrkräfte (Mentoren) und durch die Fachseminarleiter. Die Note dieser Gesamtbeurteilung geht mit fünfzigprozentiger Gewichtung, in die Gesamtnote der zweiten Staatsprüfung ein. Vgl. Brandenburgische Ordnung für den Vorbereitungsdienst, §§17; 29.

2) Die folgenden Fallstudien gehen auf ein zusammen mit Elisabeth Flitner an der Universität Potsdam durchgeführtes Forschungsseminar zu Beurteilungen im Referendariat zurück.

3) Die Sequenz entstammt derselben Beurteilung wie die im vorangegangen Abschnitt interpretierte.

4) Erinnert sei hier an die Figur des „prügelnden Schwächlings“ aus Adornos „Tabus über dem Lehrerberuf“

Mit freundlicher Genehmigung von Budrich UniPress
http://www.budrich-journals.de/index.php/pk

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