Zu diesem Fall sind alternative bzw. kontroverse Interpretationen vorhanden:

Combe, Arno: Eine Rede zum Schulanfang(2)
Lippitz, Wilfried: Eine Rede zum Schulanfang(3)
Scholz, Gerold: Eine Rede zum Schulanfang(4)

Falldarstellung

Die Situation wurde im August 1990 in einer Schule in der Nähe von Mainz beobachtet.

Die ersten Minuten von Schulanfängern am Beginn einer langen Schulzeit. Die Kinder sitzen auf ihren Stühlen hinter in Reihen aufgestellten Bänken. Eltern und Verwandte stehen noch an den Wänden der Klasse. Die Klassenlehrerin eröffnet den Beginn der Schulzeit:

Lehrerin: „Und jetzt habt ihr eine Lehrerin gekriegt mit so einem komplizierten Namen […] Aber das werdet ihr ganz schnell lernen und eure Eltern, die haben das schon gelesen auf dem Zettel. Die begrüß ich natürlich auch ganz herzlich, hier zu ihrem ersten Schultag, hier in der 1a. Und ich hoff nur eins, daß es hier keinen gibt, der Angst hat, das braucht er nämlich überhaupt nicht. Ihr werdet sehen, wie schön das hier wird bei uns und wie lustig das wird. Daß man natürlich auch was lernen muß, das ist ja wohl klar. Denn man geht ja nicht dreizehn Jahre in den Kindergarten (Lachen der Kinder). Und ihr wollt ja schlauer sein wie der Hase und wie der Igel in dem kleinen Stückchen da. (Das bezieht sich auf eine Aufführung vor allen Schulanfängern und Eltern durch Schulkinder, die zeigte, in welche Probleme Hase und Igel gerieten, weil sie beide nicht lesen konnten.) Was wollt ihr denn eigentlich in der Schule, warum seid ihr denn hergekommen?“
Kind: „Weil wir lernen wollen.“
Lehrerin: „Ihr wollt lernen. Was wollt ihr denn lernen?“
Kinder: „Schreiben, Lesen.“
Lehrerin: „Noch was?“
Kind: „Rechnen.“
Lehrerin: „Rechnen. Ganz wichtig. Man kann ja nicht immer mit sei­nem Computer da rumlaufen. Das geht ja nicht […] Und deshalb seid ihr hierher gekommen, weil ihr bei uns was lernen wollt. Wir sind also hier in der 1a siebenundzwanzig Kinder.[…] Jetzt will ich gucken, ob ihr auch wirklich alle da seid – nicht daß wir einen vergessen haben und der findet unsere Klasse nicht vor lauter Gedrängel. Wo ist denn die Jutta? Das ist die Jutta. Und der Martin?….“
(Alle Kinder werden mit Namen benannt.)
Lehrerin: „Und eins könnt ihr auf jeden Fall schon alle, ihr könnt schon ganz toll eure Finger strecken. Und wenn das so bleibt, sind wir ganz glücklich. […] (An die Eltern gewendet): „Ich werde hier bis kurz vor 11 Uhr ein bißchen Schule machen (Lachen der Eltern), damit sie sich so ganz langsam dran gewöhnen.
Und ihr (Ansprache an die Kinder) habt euch ja vielleicht einen er­sten Schultag ausgesucht – Freitag – und dann gleich wieder zwei Tage frei. Das ist toll, aber das ist nicht jede Woche so. Aber das macht nichts, ihr werdet merken, wie schnell die ganze Woche herumgeht und wie schön das hier wird. […] „

Interpretation

Peter Fürstenau schrieb 1969 den heute schon fast wieder vergessenen Satz:

„Der Lehrer als Amtsträger verhält sich nicht zu Kindern als Personen mit individuellen Motiven und Eigenarten, sondern zu Schülern, d.h. nur zu den Eigenschaften von Kindern, die von der Schülerrolle bean­sprucht und gefordert sind“ (Fürstenau 1972, S. 11).

Man könnte die obige Szene in seinem Sinne als bürokratischen Verwaltungsakt verstehen (vgl. Fürstenau 1972a). Allerdings stellt sich dann die Frage, wie dieser Schüler hergestellt wird, auf den allein sich der Lehrer bezieht. Kaum anzunehmen ist, daß sich das Kind in bürokratische und nicht bürokratische, in kindliche und schülerhafte Eigenschaften aufteilen läßt, wenn es in die Schulwelt eintritt. Der Schüler wird von der Schule zuerst zum Schüler gemacht.

Ich diskutiere hier weder, was offenkundig ist, über die partielle Trennung des Kindes von den Eltern, die Einordnung in einen räumlich und zeitlich festgelegten Rahmen, die Orientierung an einem fremden Erwachsenen etc. noch welcher Art das Schulkind ist, das da „hergestellt“ wird. Ich lasse also den „heimlichen Lehrplan“ in seinen inhaltlichen Aspekten beiseite und klammere deshalb Veränderungen des Schulanfanges in den letzten Jahrzehnten sowie Fragen eines „gelungenen Schulanfanges“ aus. Ich versuche allein zu zeigen, daß das Kind zum Schüler gemacht wird.

Der erste Schritt im Prozeß der Erschaffung einer Welt ist gemäß der christlichen Tradition das Aussprechen des Wortes, ist die Benennung. Der rituelle Akt, jedes Kind beim Namen zu nennen, sich die Identität von Namen und Person durch das Kind bestätigen zu lassen und damit die Tatsache, daß es anwesend ist vor der Zeugenschaft der Eltern, impliziert nicht einfach die Erinnerung oder Wiederholung des Namens, sondern ist Benennung. Die Lehrerin nennt den Namen, das Kind antwortet mit „hier“ oder mit „ja“ oder ähnlichem. Weil es einen Vornamen doppelt gibt, nennt die Lehrerin hier auch den Nachnamen. Die Namen unterscheiden ein Kind von den anderen. Die Benennung erfolgt zum Zweck der Unterscheidung. Denkbar wäre gewesen, daß die Kinder ihre Namen genannt hätten – und die Lehrerin, um den Verwaltungsvorschriften Genüge zu tun, sie auf der Liste abgehakt hätte. Die Kinder hätten gesagt: „Ich bin…“ oder „Ich heiße…“ Nicht ihre Unterscheidbarkeit wäre ritualisiert worden, sondern ihre Existenz, die mit einem bestimmten Namen verbunden ist, und ihre bisherige Lebensgeschichte. Wenn aus der Sicht eines Vorschulkindes Name und Person eine untrennbare stoffliche Einheit bilden, dann ist diese Benennung nicht nur Nennung des Namens, sondern ein Aufrufen der Person. Diese Neubenennung ist notwendig, weil die Kinder eine völlig neue Welt betreten haben. Die ersten Minuten machen ihnen klar, was manchmal Referendaren von Schul- oder Seminarleitern gesagt worden sein soll: „Vergeßt alles, was ihr bisher gelernt habt.“ Anders formuliert: Hier interes­siert nicht eure Vorgeschichte, sondern allein, was ihr hier tut. Dazu zählt, daß man sich meldet, wenn man etwas sagen möchte. Dieser Wechsel vom informellen zum formellen Anzeigen des Redewunsches markiert einen Unterschied zwischen Schule einerseits, Straße, Familie, Kindergarten andererseits. Der Satz „ihr könnt schon ganz toll eure Finger strecken“ meint: Ihr beherrscht bereits die erste Regel des sozialen Umgangs in eurer neuen Welt, und er meint nicht: Es ist ja toll, was ihr von eurer Vorgeschichte her schon alles könnt.

Auch die Erwähnung dessen, daß sich ein Kind verirren könnte, ist als Hinweis darauf zu verstehen, daß die Schule eine fremde, gefährliche, jedenfalls für einen Anfänger undurchschaubare Welt ist. Erst die Erklärung der Lehrerin befähigt dazu, sich in ihr zurechtzufinden.

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