Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die Beispiele entstammen einer qualitativen Einzelfallstudie zum Englischlernen, in der im Rahmen von episodischen Interviews mit Englischlehrenden und -lernenden der gymnasialen Oberstufe auch Daten zu deren Überzeugungen vom Englischlernen rekonstruiert werden. Ausgewertet wird nach einer Kombination von hermeneutisch-sequentiellen Interpretationsverfahren und Grounded Theory. (1) Vorgestellt werden nachfolgend (sprachlich gering bereinigte) Ausschnitte aus zwei Interviews mit Englischlehrenden, die hier aus Platzgründen allerdings nur ansatzweise analysiert werden können.
Herr Albrecht und Frau Berner (2) sind beide seit sechs Jahren im Schuldienst, unterrichten Englisch (und Deutsch) in allen Jahrgangsstufen des Gymnasiums und verfügen über Auslandserfahrung (Studienaufenthalte). Beide Lehrpersonen argumentieren komplex und flexibel; wiederholt finden sich Äußerungen wie „Das kommt darauf an…“ oder „In meinem jetzigen Kurs…“ Dies bestätigt das aus der Lehrerwissensforschung gewonnene Bild von der Situativität bzw. Kontextualität von Lehrerauffassungen (vgl. BROMME/HAAG 2004). Als übereinstimmende Punkte bei beiden lassen sich festhalten: Kommunikationsfähigkeit als primäres Ziel des Unterrichts, die Auffassung von der Leichtigkeit der Sprache im Anfangsunterricht und einer Zunahme der Komplexität (wobei der Zeitpunkt differiert: bei Frau Berner mit dem Eintritt ins Gymnasium, wo das spielerische Lernen zurücktritt, bei Herrn Albrecht mit der Sekundarstufe II). Gefragt, welches der beste Weg des Englischlernens sei, äußern beide Lehrpersonen eine deutliche Präferenz für den Spracherwerb im Land der Zielsprache (acquisition). Sie betonen dort die Notwendigkeit zur Kommunikation, den Zwang zum Sprechen, welches Ziel sie in formalen Unterrichtssituationen in der deutschen Oberstufe aus verschiedenen Gründen – Sprechmüdigkeit der Schüler, fehlende Authentizität, Schriftlichkeit des Abiturs – gefährdet sehen. Der Interviewer fragt nach ihrer persönlichen Lerngeschichte und lenkt die Erzählungen der Probanden später auf typische Probleme des Lernens der Fremdsprache. Beide Lehrpersonen sprechen (u.a.) Grammatik an, von der hier die Rede sein soll.(3)
Herr Albrecht benennt im Interview ein Problem, welches das Lernen von grammatischen Strukturen aus seiner Sicht behindert:

die meisten versuchen dann — warum das so ist – also warum verwende ich hier present perfect in der Situation oder wieso kommt jetzt der dritte Typ der Konditionalsätze zum Tragen. warum auch immer – das ist sicherlich wichtig – aber erst mal kann man das schlecht ableiten von der Muttersprache oft – weil es eben so keine 1:1 Entsprechung gibt.

Das weitere Zitat (s.u.) macht klar, dass es ihm hier nicht um die Frage geht, in welchen Situationen eine Zeitform oder der Irrealis (4) verwendet wird, sondern um die Differenz der verwendeten syntaktischen Strukturen. Herr Albrecht hat einen so genannten negativen Transfer von der Muttersprache (L1) in die Zielsprache (L2) im Blick, wenn Lerner den Versuch einer wortwörtlichen Übertragung aus dem (hier) Deutschen ins Englische unternehmen und damit quasi die Differenz der Sprachen auf „verschiedene Wörter für dasselbe Ding“ reduzieren. Die Gemeinsamkeiten beider Sprachen in Bezug auf die Bildung und Verwendung der Konditionalsätze sind ihm offensichtlich weniger bewusst oder wichtig als die Differenzen, verständlicherweise, da letztere in seinem Berufsalltag als Fehler und Abweichungen registriert werden, wohingegen die richtigen Bildungen (positiver Transfer?) nicht so ins Auge fallen. Aber alternative Erklärungsmuster sind denkbar: Es könnte sein, dass Lernenden auch in ihrer Muttersprache kaum klar ist, wann der Potentialis oder Irrealis in Bedingungssätzen zum Einsatz kommt und wie sie gebildet werden. Sie benutzen vermutlich im Alltag fast ausschließlich Sätze vom Typ 1 („Wenn du das tust, dann gibt es Ärger.“) und vergessen, dass im englischen Hauptsatz nicht einfach present tense verwendet werden kann (If you do that, you will be in trouble). (5)
Es gibt keine empirische Untersuchung, die sich damit befasst hätte, wie deutschsprachige Lerner sich Konditionalsätze verständlich zu machen suchen, von anderen Muttersprachen abgesehen, was erstaunlich ist angesichts der Häufigkeit des Problems und der Hürde, die if-Sätze für viele Englischlerner darstellen (6); insofern sollte die vergleichsweise kurze und einfache Problemanalyse von Herrn Albrecht auch eine Herausforderung für die fachdidaktische Forschung sein. Wesentlich breiteren Raum nimmt seine Überzeugung von der richtigen didaktischen Strategie ein, mit der das Transferproblem gelöst werden soll:

und zum zweiten müsste ich eben gewisse Strukturen – das ist meine Überzeugung – ganz einfach auswendig lernen – denn ich kann zum Beispiel einen if-Satz Typ 3 nicht wortwörtlich übersetzen – das geht – das ist völlig ausgeschlossen – entweder ich weiß – in welcher Reihenfolge die Verben folgen – also so ne Art Logarithmus (…) daran scheitert’s auch meistens — also man müsste sich wirklich hinsetzen und gewisse Strukturen einfach auswendig – immer wieder auswendig lernen – und irgendwann sind die dann da – und dann kann ich auf der Grundlage der Struktur dann viele viele Sätze bilden gewissermaßen. (…)
also ich glaube – man muss schon Sprachmuster speichern – die muss man einfach haben und ich glaube – da sollte man auch nicht zuviel hinterfragen – also es reicht dann – wenn ich so ein Sprachmuster – das ist eben so – drei if-Sätze gibt’s – die drei kann ich an einem Beispiel herbeten und das reicht. (…) und dann wird man — dann glaub ich so ein Muster auch automatisieren und irgendwann wird sich das verinnerlichen und irgendwann dann kann ich natürlich auf Grund dieses Musters – ohne lange zu überlegen Sätze bilden. also ich seh’ das schon als in Teilen schon so wie eine Art Algorithmus an – dem ich dann folge.

Sein Vorschlag besteht darin, die sprachliche awareness zu senken, um den negativen Transfer zu unterbinden, verbunden mit einer klaren Präferenz für pattern drill, wie die Ausdrücke Auswendiglernen, herbeten, automatisieren, Logarithmus, Algorithmus, usw. zeigen. Die Lerner sollen ihr muttersprachliches Vorverständnis ausschalten und zunächst kontextfreie Muster immer wieder schematisch einüben, bis sie die Verbformen in den entsprechenden Satztypen und Satzteilen richtig zuordnen gelernt haben.(7) Das ist eine ziemlich entschiedene Überzeugung vom Grammatiklernen, die gleichwohl nicht übergeneralisiert werden darf, denn Herr Albrecht verfolgt z.B. im Bereich Landeskunde/ Interkulturelles Lernen eine Strategie des awareness-raising; außerdem darf plausibel vermutet werden, dass er als Praktiker nicht ausschließlich übt, sondern auch Bildung und Anwendung sprachlicher Strukturen wiederholt und, wenn auch vielleicht eher kurz, erklärt.
Frau Berner erzählt in der Schilderung ihrer Lernbiographie, dass sie Fremdsprachen immer „über den Bauch“ gelernt habe und nicht rational „über den Kopf“. Sie bezeichnet sich als „intuitive Sprachenlernerin“, die grammatische Strukturen über den Kontext und die Situation aufnehme, ohne gleichzeitig schon erklären (lehren) zu können, warum man sie anwendet und wie sie gebildet werden. Anders als „analytische“ Lerner wolle sie anfangs gar nicht wissen, aus welchen Strukturen ein Satz bestehe, sondern sie bilde Analogien:

und dann wurschtle ich mich eigentlich so lange durch – bis ich dann irgendwann mal sage – jetzt gucke ich mir die Regel an – aber dass ich gleich von der Regel und dann die Anwendung – da würde ich sagen so war es bei Russisch und das hat ja nichts gebracht.(8)

Sie identifiziert also verschiedene Lernertypen. Unmittelbar darauf reflektiert sie im Interview über ihren Unterricht und stellt heraus, dass schulisches Lernen eher dem Muster des Analytikers folge:

und dass ist natürlich auch ne Geschichte – die mir zu denken gibt – wenn ich bedenke – wie ich eine Fremdsprache lehre. ich lehre sie ja nicht über den Bauch sondern ich lehre sie die Schüler über das Denken – über die grammatischen Strukturen – ja – und ich weiß von mir – dass ich so diese Sprache wahrscheinlich nie richtig erlernt hätte — da mir Russisch auch über die grammatischen Strukturen gelehrt wurde und wie gesagt — die sind bis heute zum Teil noch hängen geblieben – ich — es ist aber auch jeder ja anders – es kann ja sein deswegen denke ich – dass zum Beispiel Naturwissenschaftler gar nicht unbedingt schlechte Fremdsprachler sein müssen – sondern dass oft wer ein sehr analytisches äh wer sehr analytisch an Dinge herangeht/kann mit so einem Fremdsprachenlehren – wie es zum Beispiel in der Schule praktiziert wird – wahrscheinlich sehr viel anfangen. ja wenn der die grammatischen Strukturen auseinandernehmen kann und auch schnell zusammensetzen kann in der entsprechenden Situation/ dann hat der vielleicht den entscheidenden Vorteil – denn dieses intuitive Lernen – das kommt in der Schule einfach zu kurz – egal wie viel Pseudo-Original-Situationen man da schaffen kann oder wie oft man auch so einen native speaker einsetzen kann es kommt zu kurz.

Unterricht müsse – jedenfalls für intuitive Lerner – mehr über Nachahmung funktionieren, nicht so analytisch über das Erklären von Regeln. Sie bezieht sich besonders auf den Unterricht in den Klassen 5-7 und berichtet, dass Schüler oft erst in der Sekundarstufe II Aha-Erlebnisse bezüglich der Grammatik hätten. Frau Berner ist sich nicht sicher, wie relevant ihre eigene Lernerfahrung überhaupt ist:

also ist das vielleicht so – dass die Mehrheit anders lernt – als ich das jetzt mit meiner Fremdsprache erfahren habe – also ich — sonst ist es ja relativ zwecklos – die Art – wie ich lehre.

Die Fremdsprachendidaktik hat in den letzten Jahrzehnten versucht, die analytische Ausrichtung des Unterrichts (kognitiver Fokus auf Form, Regeln, theoretisches Wissen und Studium (nicht: Gebrauch) der Sprache) durch die Schaffung einer „natürlichen“ Umgebung und die Betonung von use und meaning zu (je nach Standpunkt) ergänzen oder umzukehren. Zumindest für die Institutionen der höheren Allgemeinbildung bleibt explizite Regelkenntnis aber nach wie vor eine sinnvolle Aufgabe.(9) Stephen KRASHEN versteht Schulunterricht denn auch salomonisch als intake informal environment und als formal linguistic environment zugleich (KRASHEN 1988, S. 47). Auch wenn die Analyse hier nur in Ansätzen erfolgen konnte, sollte doch deutlich geworden sein, dass beide Lehrende sehr unterschiedliche Überzeugungen vom Grammatiklernen artikulieren. Bei einem Vergleich mit den Dimensionierungen bei HORWITZ und MORI lässt sich feststellen, dass der Aspekt der language aptitude in den Interviews nicht auftaucht und dass für Grammatik awareness und damit zusammenhängend des richtigen timings für Regelbewusstheit für die Lehrenden eine zentrale Rolle spielen. Herr Albrecht will Können über Wissen erreichen und beginnt mit isolierten Mustern, Frau Berner argumentiert umgekehrt und macht Kontexte stark. Die Frage für die weitere Analyse lautet: Stehen im Hintergrund unterschiedliche Auffassungen von Grammatik bzw. der nature of language, die auch die Präferenz der jeweiligen Lern- oder Wissenserwerbsstrategie erklären helfen können (vgl. noch einmal die qualitativen Typisierungen)? Herr Albrecht beschreibt Grammatik ja eher als Wissen über Sprache, als explizite Regelkenntnis (knowing that, knowing about), Frau Berner auch als implizites Wissen im Gebrauch (Können, knowing how). In Frau Berners Darstellung deutet sich zudem an, dass ihre Überzeugungen vom Grammatiklernen etwas mit ihrer persönlichen Sprachlernbiographie zu tun haben. Es wird interessant sein, zu sehen, welche Vorstellungen von Grammatik und vom Grammatiklernen die Schülerinnen und Schüler der beiden Lehrenden äußern; Daten dazu werden momentan erhoben. Allerdings ist hier Vorsicht geboten: Der Unterricht ist ja wahrscheinlich bei beiden Lehrpersonen „analytisch“. Damit komme ich zum Schluss zu der noch wenig geklärten Frage nach dem Zusammenhang von Überzeugungen und unterrichtlichem Handeln.

Fußnoten

(1) Nähere Angaben zum methodischen Design finden sich unter der URL: www.2erzwiss.unihamburg.de/gradkoll/forschung/ mitglied/mitglied.trautmann.htm (10.1.05).

(2) Beide Namen sind Pseudonyme.

(3) Grammatik ist ein spezifischer Teilbereich des Englischlernens und -wissens, der auch in anderen Sprachfächern auftaucht (Deutsch, Latein, Spanisch, usw.). Für andere Domänen des Englischlernens – Literatur, Landeskunde/interkulturelles Lernen, usw. – lassen sich andere Überzeugungen ausfindig machen. Der Domänenbegriff ist allgemein noch wenig geklärt, weshalb ich dieses Problem hier auf sich beruhen lasse.

(4) Konditional- oder Bedingungssätze sind komplexe Strukturen und finden sich in vielen indoeuropäischen Sprachen. Sie bringen unterschiedliche Modi des Weltbezugs zum Ausdruck. In Abhängigkeit von der Erfüllbarkeit der Bedingung im Nebensatz unterscheidet man gemeinhin den Realis, den Potentialis und den Irrealis (Beispiel für den Typ III: If I had gone to the party, I could have met my friends – Wenn ich zur Party gegangen wäre, hätte ich meine Freunde treffen können.) Für Lerner stellen sich vor allem drei Probleme: das Herausfinden des korrekten Modus und Zuordnung sowie Bildung der Verben in den Teilsätzen.

(5) Bei allgemeingültigen Aussagen kann allerdings auch das simple present im Hauptsatz stehen (sog. zero conditional), was die Sache nicht gerade vereinfacht. Typ 1 wird in Klasse 7 eingeführt (in manchen Bundesländern in 6), Typ 2 in Klasse 7 und Typ 3 in Klasse 8 (im Gymnasium).

(6) Die Arbeit von HAASE (vgl. 1995) stellt eine korpuslinguistische Untersuchung dar und geht entgegen dem Titel nicht auf den Englischunterricht ein.

(7) Ich formuliere so neutral, weil „Üben“ verschiedenes bedeuten kann: vom Pauken über das Ausfüllen von Arbeitsblättern bis zu abwechslungsreicheren Formen wie „Sing Grammar“.

(8) Gemeint ist Russisch als erste Fremdsprache in ihrer eigenen Schulzeit.

(9) In England ist Ende der 1980er-Jahre versucht worden, explizite Grammatik aus dem Sprachunterricht gänzlich zu verbannen. Davon ist man aber wieder abgekommen.

Literatur

BROMME, R./HAAG, L. (2004): Forschung zur Lehrerpersönlichkeit. In: HELSPER, W./BÖHME, J. (Hrsg.): Handbuch der Schulforschung. – Wiesbaden, S. 777-793.

HORWITZ, E. K. (1985): Using students’ beliefs about language learning and teaching in the foreign language methods course. In: Foreign Language Annals, Vol. 18, S. 333-340.

HORWITZ, E. K. (1987): Surveying students beliefs about language learning. In: WENDEN, A. L./RUBIN, J. (Eds.): Learner Strategies in Language Learning. – New York, S. 119-129.

HORWITZ, E. K. (1988): The beliefs about language learning of beginning university foreign language students. In: The Modern Language Journal, Vol. 72, S. 283-294.

HORWITZ, E. K. (1999): Cultural and situational influences on foreign language learners’ beliefs about language learning: a review of BALLI studies. In: System, Vol. 27, S. 557-596.

KRASHEN, S. (1988): Second Language Acquisition and Second Language Learning. – New York.

MORI, Y. (1999): Epistemological beliefs and language learning beliefs. What do language learners believe about their learning?. In: Language Learning, Vol. 49, S. 377-415.

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