Falldarstellung 1

Interpretation

Die Präferenz der Jungen für den Lehrer ist deutlich. Zwar kritisieren sie an ihm, dass er häufig nicht alles unter Kontrolle hat und einige Kinder sogar seine mangelnde Strenge ausnutzen. Doch schätzen sie genauso seine Geduld und seinen Langmut. Einerseits fehlt ihnen Strenge und Disziplin, andererseits empfinden sie es als sehr angenehm, dass sie mit dem Lehrer besser reden können. Kritisiert wird, dass der Lehrer manche Schüler lieber habe; doch halten die Jungen ihm zugute, dass er im Unterschied zu anderen Lehrern diesen Schülern keine besseren Noten gibt, also gerecht ist. Nach Auffassung der Jungen gehört der Kunstlehrer zu den „nettesten“ Lehrern der Schule.

Anders ist die Einschätzung der Mädchen im Hinblick auf diesen Lehrer und eine sie ebenfalls unterrichtende Lehrerin. Bei Frau Bornemann können sie zwar nicht machen, was sie wollen, und müssen leise sein. Im Unterschied dazu sei bei Herrn Baumann dazu schon eher Gelegenheit. Ermahnt werden sie von ihm erst, wenn sie wirklich zu laut sind.

Falldarstellung 2

Interpretation 2

In den Äußerungen der Mädchen über den Lehrer betont eines von ihnen, dass es Frau Bornemann ein „bisschen besser“ als den Kunstlehrer Herrn Baumann findet. lm Unterschied zu den Aussagen der Jungen über Frau Bornemann betont ein Mädchen, dass die Lehrerin die Kinder nie angeschrien habe, modifiziert dann aber ihre Aussage dahingehend, dass sie sie nicht so oft angeschrien habe. Auf die Frage des Interviewers nach der Berechtigung des Lautwerdens des Lehrers räumen die Mädchen ein, dass sie häufig zu viel reden und immer alles machten, was sie wollten. Im Unterschied zu dem Lehrer haben sie vor der Lehrerin Angst und verhalten sich daher still. An dem Lehrer kritisiert ein Mädchen, dass er nicht streng genug sei. Alles tun zu dürfen, was man wolle, steht offensichtlich im Widerspruch zu den mentalen Bildern von Schule und Lehrer, nach denen vor allem vom Lehrer starke Hilfen zur Orientierung und Steuerung des Verhaltens erwartet werden. Deutlich unterscheiden sich hier die Erwartungen und das Urteil der Mädchen von denen der Jungen (Gruppendiskussion 2 und 3), denen die eher großzügige und akzeptierende Art des Lehrers besser gefällt. Angesichts dieser Differenz im Urteil der Schülerinnen und Schüler stellt sich die Frage nach etwaigen geschlechts- und milieuspezifischen Unterschieden bei den Wünschen der Kinder nach Toleranz und Großzügigkeit. Ein Vergleich der Transkriptausschnitte der beiden Gruppendiskussionen legt die Hypothese nahe, dass hier gender-spezifische Differenzen und Präferenzen vorliegen. Während die Mädchen eher Orientierungs- und Disziplinierungshilfen erwarten, damit sie sich institutionell angemessen verhalten können, schätzen die Jungen die Freiräume, die es ihnen möglich machen, weniger institutionskonforme Verhaltensweisen zu leben. Angesichts dieses Interesses betonen die Jungen auch entschieden ihre Wertschätzung der Besonderheiten des Kunstunterrichts.

Im Gesprächsausschnitt aus der Gruppendiskussion der Mädchen über den Lehrer rekurrieren die Schülerinnen, als sie Herrn Baumann einschätzen sollen, deutlich auf die Erfahrungsdimension von Geschlecht. Vom Interviewer gefragt geben sie am Ende des Transkriptsauschnitts weniger eine Einschätzung des Lehrers als vielmehr des Mannes. Als Mann an sich („seine Art“, wie er guckt“) wirkt er auf die Mädchen eher fremd, bedrohlich, zumindest jedoch ambivalent. Weil sich die Schülerinnen in dieser Altersphase selbst vor allem als Mädchen betrachten, fühlen sie sich von Herrn Baumann auch weniger als Schülerinnen, sondern vielmehr als Mädchen angesprochen. Die Konzentration auf das eigene Geschlecht wird dabei gleichsam auf den Blick des Lehrers projiziert. In beiden Gruppendiskussionen wird deutlich, wie nachhaltig in diesem Alter gender-Differenz Alteritätserfahrungen bewirkt.

Transkriptionszeichen

└ – Beginn einer Überlappung bzw. direkter Anschluss beim Sprecherwechsel

(.) – kurzes Absetzen während des Sprechens

(3) – Pause während des Sprechens. Die Zahl zeigt die Anzahl der Sekunden, die eine Pause dauert

ja – betont

. – stark sinkende Intonation

; – schwach sinkende Intonation

, – schwach steigende Intonation

nei::n – Dehnung, die Häufigkeit vom : entspricht der Länge der Dehnung

((Klatschen)) – parasprachliche, nicht-verbale oder gesprächsexterne Ereignisse

@(.)@ – kurzes Auflachen

(aber) – Unsicherheit der Transkription, schwer verständliche Äußerungen

( ) – unverständliche Äußerungen

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