Interaktionsanalyse

2. Detaillierte Darstellung und Erklärung der spezifischen Merkmale der Interaktionsanalyse

Die Interaktionsanalyse beruht auf der Analyse von Transkripten, die von Teilen einer Videoaufnahme gemacht werden. Die folgende Beschreibung der Analyseschritte ist nicht als statisch festes Schema zu verstehen, sondern dient als Gerüst für die Analyse und als Checkliste für die Darstellung. Die Interaktionsanalyse sollte mehrere Grundsätze bzw. Maximen erfüllen, die in der folgenden Reihenfolge bearbeitet werden können:

  1. Gliederung der Interaktionseinheit
  2. Allgemeine Beschreibung
  3. Ausführliche Analyse der Einzeläußerungen – Interpretationsalternativen (re-)konstruieren
  4. Turn-by-Turn-Analyse
  5. Zusammenfassende Interpretation.

Ein Überspringen und Zurückspringen tritt auf und ist in vielen Fällen auch bereichernd. Entscheidend ist, dass man sich im Zuge der Vervollkommnung einer Interpretation vergewissert, alle Maximen hinreichend berücksichtigt zu haben.

(1) Gliederung der Interaktionseinheit

Für die Analyse wählt man in der Regel Ausschnitte aus einer umfassenden Videoaufnahme aus. Diese Ausschnitte werden hier „Interaktionseinheit“ genannt. Die Gliederung einer Interaktionseinheit, etwa einer gesamten Unterrichtsstunde oder kleinerer Unterrichtseinheiten, kann nach unterschiedlichen Kriterien vorgenommen werden. Innerhalb der Gliederung eines Ausschnittes sollten die Kriterien nicht gewechselt werden, da es sonst (verstärkt) zu Überlappungen kommen kann. Die Gliederungskriterien können Forschungsinteressen widerspiegeln, etwa

  • fachspezifische/fachdidaktische (z.B. von Beginn bis Ende der Bearbeitung einer bestimmten Aufgabe),
  • interaktionstheoretische (z.B. vom Auftritt bis zum Abtritt einer Interaktantin/eines Interaktanten oder von Beginn bis Ende einer Interaktionsform wie Hilfe) oder
  • linguistische (z.B. von einem bis zum nächsten zäsierenden Marker wie „so“).

(2) Allgemeine Beschreibung

Die allgemeine Beschreibung ist eine erste mehr oder weniger spontane und oberflächliche Schilderung. Sie ist zu denken als eine an aufgeklärte, an schulischen Angelegenheiten interessierte und mit dem Kulturkreis vertraute Allgemeinheit gerichtet. Es geht hier zunächst lediglich darum, den in einer Erstzuschreibung vermuteten „immanenten“ Sinngehalt zu benennen (s. Bohnsack 2007; Kelle & Kluge 1999).

(3) Ausführliche Analyse der Einzeläußerungen

An die allgemeine Beschreibung schließt eine ausführliche sequentielle Analyse an, d. h. es werden alternative Interpretationsmöglichkeiten entwickelt, die, auf die sequentielle Organisierung von Gesprächen aufbauend, folgende Eigenschaften besitzen:

  1. Die Äußerungen werden in der Reihenfolge ihres Vorkommens interpretiert, womit die Interpretationen nach vorne offen bleiben.
  2. Plausibilisierungen dürfen und können nur rückwärts gewandt erfolgen.
  3. Interpretationen müssen sich im Verlauf der Interaktion bewähren.

Mitunter ist es schwierig, sich an scheinbar eindeutigen Stellen von den eigenen ersten Alltagsinterpretationen zu lösen. Hier mag es in Anlehnung an die extensionale Analyse der Objektiven Hermeneutik hilfreich sein, gedankliche Kontextvariierungen vorzunehmen (zum Verfahren der Objektiven Hermeneutik und dem sequentiellen Vorgehen s. Oevermann et al. 1976; s. a. Ohlhaver & Wernet 1999 und Wernet 2008). Auf diese Weise kann man zu alternativen Interpretationen gelangen; denn für eine scheinbar eindeutige Äußerung öffnen sich in anderen Kontexten neue Deutungsmöglichkeiten. Die Erstellung von Interpretationsalternativen kann so der Aufdeckung von Selbstverständlichkeiten dienen. Hilfreich kann außerdem das Interpretieren in Gruppen sein, weil dabei mehrere Sichtweisen häufig einfacher zusammengetragen werden können. Das Ziel dieses Arbeitsschritts ist die Erzeugung möglichst vieler plausibler Deutungen der Handlungen. Dies ermöglicht, dass unterschiedliche Theorien als Grundlage herangezogen und auf ihre Erklärungsmächtigkeit überprüft werden können.

(4) Turn-by-Turn-Analyse

In Anlehnung an die Konversationsanalyse und basierend auf der sequentiellen Organisierung von Gesprächen können die in der ausführlichen Analyse gewonnenen Deutungsalternativen eventuell wieder eingeschränkt werden. Dazu führt man eine Turn-by-Turn-Analyse durch. Eine Übersetzung für das Wort „turn“ lautet „Gesprächszug“. Es geht also um die Analyse des Gesprächs „Zug um Zug“, also des tatsächlichen Verlaufs.

Für die generierten Deutungen der Interaktanten werden potentielle Folgehandlungen derart entworfen, dass man sich fragt: Wenn B die Äußerung As so und so deutet, was könnte in der Folge als Reaktion von B zu erwarten sein? Tritt dann eine vorausgesagte Folgehandlung ein, so wird sie als eine Stützung der generierten Deutung der Äußerung von A angesehen und man spricht davon, dass sich eine Interpretation bewährt habe. Das heißt, man versucht zu rekonstruieren, ob der zweite Turnnehmer die vorausgehende Äußerung gemäß einer oder mehrerer der diesbezüglich generierten Deutungen interpretiert haben könnte und zu was er diese erste Äußerung durch seine folgende macht. Es ist möglich, dass einige Alternativen durch eine solcherweise vergleichende Turn-by-Turn-Analyse herausfallen; auch kann es dazu kommen, dass man für die vorausgehende Äußerung neue Deutungen entwickeln muss.
Nachdem somit der zweite Interaktant dem ersten zu verstehen gegeben hat, wie er dessen Äußerung A deutet, hat der erste nun die Möglichkeit, korrigierend einzugreifen. In der Konversationsanalyse wird dann von ,repairs‘, also von Reparaturen, gesprochen. Unterlässt der erste Interaktant eine Korrektur und äußert keine weiteren Zweifel, so darf man – sowohl der Interaktionspartner als auch der analysierende Wissenschaftler – davon ausgehen, dass er sich angemessen verstanden meint. Das solchermaßen gemeinsam Hervorgebrachte fungiert dann als geteilt geltendes Wissen ( s. hierzu insgesamt Edwards 1997).
Die Frage der Turn-by-Turn-Analyse lautet also gewissermaßen: Wie reagieren andere Interaktanten auf eine Äußerung, wie scheinen sie die Äußerung zu interpretieren, was wird gemeinsam aus der Situation gemacht? Indem man diese Beziehung rekonstruiert, rekonstruiert man die gemeinsame, Zug um Zug erfolgende Themenentwicklung in der Interaktion.

(5) Zusammenfassende Interpretation

In einem vorläufig letzten Schritt werden die am besten zu begründenden Gesamtinterpretationen der Szene noch einmal zusammengefasst. Eine solche Zusammenfassung kann den Anstoß zur Theoriegenese geben. Bei Platzmangel werden gewöhnlich nur diese zusammenfassenden Interpretationen publiziert. In diesem Fall sollte man sich bemühen, ein Stück der Deutungsvielfalt zu erhalten.