3. Zur Lokalisierung der Objektiven Hermeneutik im Feld qualitativer Methoden
Die Ausdifferenzierung, die innerhalb der qualitativen Methoden in den letzten 20 Jahren zu beobachten ist, hat dazu geführt, dass die Landschaft der unterschiedlichen Ansätze, Positionen und methodischen Prozeduren kaum noch überschaubar ist. Die Orientierung ist auch deshalb schwer geworden, weil in dieser Situation der Methodenvielfalt die Grenzen unscharf geworden sind und es mannigfaltige Überschneidungen gibt. Eine umfassende und zugleich übersichtliche Darstellung der Gemeinsamkeiten, die eine bestimmte Methode mit anderen teilt und der Differenzen, die den besonderen Standort einer Methode gegenüber anderen ausweist, ist im Kontext dieser Methodenvielfalt kaum möglich.
Zur Verdeutlichung des methodischen Standorts der Objektiven Hermeneutik beschränke ich mich deshalb im Folgenden darauf, sie zu zwei heute häufig anzutreffenden Forschungsstilen skizzenhaft zu kontrastieren: der inhaltsanalytischen und der ethnografischen Herangehensweise.
Die inhaltsanalytische Forschungsstrategie, darauf weist ihr Name schon hin, widmet sich methodisch der inhaltlichen Verstehensebene. Mit dem objektiv-hermeneutischen Vorgehen teilt die Inhaltsanalyse dabei die methodische Berufung auf Texte, die ihr empirisches Datum darstellen. Anders als die Objektive Hermeneutik ist dieser methodische Zugriff aber auf das „Was“ des Gesagten fokussiert. Der Text gilt der Inhaltsanalyse als Träger von typischen „Motiven“, die es methodisch zu identifizieren, zu kategorisieren und zu klassifizieren gilt. Nach den bisherigen Ausführungen sollte damit die methodische Differenz zum Forschungsanliegen der Objektiven Hermeneutik auf der Hand liegen. Während die Objektive Hermeneutik auf die Rekonstruktion von textlich protokollierten latenten Sinnstrukturen zielt und deshalb methodisch auf das „Wie“ des Gesagten gerichtet ist, sind inhaltsanalytische Verfahren methodisch an der Systematisierung manifester Sinnartikulationen orientiert. Aus der Perspektive der Objektiven Hermeneutik erscheint der inhaltsanalytische Forschungsansatz deshalb als reduziert. Er beschäftigt sich nur mit der einen Seite der Medaille der Sinnhaftigkeit und Sinnstrukturiertheit sozialer Phänomene; nämlich mit der manifesten, inhaltlichen oder ikonografischen. Die Ebene der latenten Sinnstrukturen nimmt die Inhaltsanalyse nicht in den Blick.
Schwieriger gestaltet sich die methodische Positionierung zu ethnografischen Verfahren. Das ethnografische Forschungsverständnis gründet sich in der Annahme, dass eine wirklichkeitsangemessene Forschung nur dann gewährleistet ist, wenn es dem Forscher gelingt, die Perspektive des Forschungsgegenstands einzunehmen („going native“). Daraus ergibt sich eine markante Differenz der Forschungsstile: Während die ethnografische Feldforschung idealiter den Beobachtungs- mit dem Teilnehmerstandpunkt zu verschmelzen sucht, besteht die objektiv-hermeneutische Feldforschung in der Erhebung von Protokollen. Und diese Protokolle sind der Gegenstand der sinnrekonstruktiven Forschung.
Aus der Perspektive der ethnografischen Forschungsauffassung ist dieses Vorgehen methodisch insofern inakzeptabel, als damit eine Verarmung und Artifizialität des methodischen Bezugs auf Wirklichkeit einhergehe. Reichhaltigkeit, Unmittelbarkeit und Subjektivität der zu verstehenden Phänomene seien durch die bloße Protokollierung sozialer Praxis schon verfehlt. Die Objektive Hermeneutik vertraut ihrerseits darauf, dass in den Protokollen einer zu rekonstruierenden sozialen Praxis eben jene Sinnstrukturen, die diese Praxis in ihrer Eigenart charakterisieren, Eingang finden.
Umgekehrt kritisiert die Objektive Hermeneutik die Geltungsbegründung, die von der Ethnografie erhoben wird. Die Berufung auf die Felderfahrung des Forschers könne keine methodisch kontrollierte Geltungsüberprüfung gewährleisten. Die Kritik zielt also nicht auf die Felderkundung als solche. Auch aus der Perspektive der Objektiven Hermeneutik ist eine unmittelbare Erfahrung des Forschungsgegenstands konstitutiv für den Erkenntnisprozess. Im Unterschied zur Ethnografie verleiht die Objektive Hermeneutik dieser unmittelbaren Erfahrung aber nicht den Rang der Geltungsbegründung. Dass Aussagen über einen sozialen Gegenstand die Kenntnis dieses Gegenstands voraussetzen und dass die Vertrautheit mit dem Gegenstand für die methodischen Operationen des Textverstehens wichtig ist, ist unbestritten. Der methodologische Standpunkt der Objektiven Hermeneutik kritisiert lediglich das ethnografische Diktum, dass der Geltungsanspruch der Forschung sich auf dem Nachvollzug der zu analysierenden sozialen Praxis stützt.
Sieht man also von den konkurrierenden, streng genommen sich ausschließenden methodologischen Geltungsbegründungen ab (hier der Text und seine Rekonstruktion, dort die Wirklichkeit und ihr Nachvollzug), lassen sich beide Forschungsstile ausgesprochen fruchtbar kombinieren und können sich in aufschlussreicher Weise ergänzen. Ethnografische Felderkundungen können für objektiv hermeneutische Textanalysen wichtige Gegenstandseinsichten liefern und Sequenzanalysen von Textprotokollen können im Kontext eines ethnografischen Forschungszugriffs ein Instrument der Überprüfung und Präzisierung der in der Feldarbeit gewonnenen Deutungen darstellen.