5. „Mein erstes Zeugnis“ – Eine Beispielinterpretation
Die bisherigen Bemerkungen zur Methode und Methodologie der Objektiven Hermeneutik und ihre Bedeutung für die Rekonstruktion pädagogischer Handlungsprobleme sollen durch die folgende Beispielinterpretation veranschaulicht werden. Es geht im Folgenden darum einen Einblick in das methodische Vorgehen zu geben und anzudeuten, mit welchen materialen Befunden bezüglich der Problemstruktur pädagogischen Handelns zu rechnen ist.
Für diesen Demonstrationszweck habe ich einen Text ausgewählt, der als Dokument bezeichnet werden kann – ein Zeugnis. Es handelt sich um ein Protokoll, das wir nicht erheben, aufzeichnen oder erstellen müssen, sondern um ein schon gegebenes Protokoll schulischer Wirklichkeit, das zu Forschungszwecken nur festgehalten und analysiert werden muss. Wir haben es also bezüglich des Problems der Datenerhebung und –gewinnung mit einer sehr einfachen Protokollgattung zu tun: Im Gegensatz zu Forschungsinterviews, Video- oder Tonbandaufzeichnungen einer Unterrichtsstunde usw. greifen wir auf einen Text zurück, der forschungspragmatisch nicht erst erstellt werden muss, sondern auf ein Protokoll, das unabhängig von einem Forschungszugriff schon vorliegt. Wie bei Zeitungsartikeln, Fotografien, Kunstwerken, Hausordnungen, Tagebüchern (usw.) haben wir es also mit einer sozialen Wirklichkeit zu tun, die sich selbst protokolliert hat. Je nach Forschungsfrage und –gegenstand stellen solche Protokolle ein sehr aufschlussreiches Datenmaterial dar. Gerade auf dem Hintergrund der Unterscheidung manifester und latenter Sinnstrukturen erscheinen diese redigierten Texte in einem interessanten Licht. Die Vermutung liegt ja nahe, dass die redaktionelle Kontrolle, die die Autoren über solche Texte ausüben können, dazu führt, dass gerade diejenigen Sinnschichten, die den Äußerungs- und Selbstdarstellungsintentionen zuwider laufen, einer Zensur zum Opfer fallen; einer Zensur, die wirkungsvoller und effektiver arbeiten kann als im Falle spontaner Interaktion. Hier soll nur darauf hingewiesen werden, dass die Objektive Hermeneutik diese Befürchtung nicht teilt. Die Strukturprinzipien, die einer je konkreten Handlungspraxis ihre Physiognomie verleihen, sind nicht nur am Prozess der Textgenerierung, sondern auch am Prozess der Textredaktion beteiligt.(5) Wir haben also aus methodologischer Perspektive keinen Anlass davon auszugehen, dass in redigierten Texten keine Fallspezifik mehr zum Ausdruck käme.
Und gerade im Kontext der Schul- und Unterrichtforschung ist diese Textgattung von großer Bedeutung und bietet einen wichtigen Forschungszugang. Schulprogramme, Briefe der Schulleiter an die Eltern, Stundenpläne, Arbeitsblätter, Schulbücher, Tafelbilder, Klassenarbeiten; die schulische Handlungspraxis erzeugt eine Fülle solcher fixierter Protokolle und es lassen sich viele Aspekte der sinnstrukturellen Konstitution der schulischen Praxis über solche Dokumente erschließen.
Das Protokoll, das wir analysieren und auf seine sinnstrukturellen Implikationen hin befragen werden, ist folgendes:
Wir werden dieses Protokoll hier nicht vollständig interpretieren können. Es ist kompositorisch viel zu komplex, um seiner Binnenstruktur auf wenigen Seiten gerecht werden zu können.
Als typisch für das objektiv-hermeneutische Vorgehen kann angesehen werden, dass wir die Interpretation nicht von den Suggestionen des Datenmaterials lenken lassen. Wir versuchen nicht, auf assoziativem Wege einen Gesamteindruck zu formulieren. Zweifelsohne spielen die Suggestivität des Datenmaterials und die dadurch evozierten Assoziationen eine große Rolle bei der Datenauswahl; ebenso wie für einen unmittelbaren, interpretatorischen Zugriff. Wir sehen sofort, dass hier etwas Interessantes passiert. Wir sehen Smilies, einen handschriftlichen Namenszug, eine Wäscheleine, an der die Buchstaben des Wortes „Ferien“ ebenso aufgehängt sind wie einige „nette“ Tiere. Wir sehen auch sofort, dass das Ganze, gerahmt in eine Banderole, als „Mein erstes Zeugnis“ überschrieben ist. Und wir sehen, dass wir es irgendwie mit einem Schulzeugnis zu tun haben; irgendwie aber auch nicht, weil wir wissen, dass ein richtiges Schulzeugnis anders aussieht. Da gibt es keine Smilies, sondern Noten; wir erwarten ein offizielles Wappen der Schule und/oder des Bundeslandes und ein Schulzeugnis ist überschrieben mit Zeugnis, nicht mit
Mein erstes Zeugnis. Was liegt eigentlich vor? Was ist hier der Fall?
Mit dieser Frage beginnt der Weg einer methodisch kontrollierten Erschließung. Diese knüpft nun nicht an die unmittelbaren Eindrücke und Interpretationsansätze an, sondern geht gleichsam wieder hinter das spontane Textverständnis zurück.
Erster Interpretationsschritt: Die Explikation der kontextfreien Bedeutungsstruktur
Dem Prinzip der kontextfreien oder kontextunabhängigen Interpretation folgend fragen wir also zunächst nicht, was heißt Mein erstes Zeugnis als Überschrift dieses Dokuments, sondern wir fragen: In welchen uns qua alltäglicher Regelkompetenz bekannten Kontexten ist diese Textsequenz ein wohlgeformter Sprechakt. Dazu ist ein gedankenexperimentelles Vorgehen notwendig, in dem soziale Situationen bzw. Sprechhandlungen konstruiert werden, in denen der zu interpretierende Text, ohne dass er eine sprachlich-pragmatische Regelabweichung darstellt, vorkommen könnte.
GE (Gedankenexperiment) 1: Anlässlich eines Umzugs fällt einer Person A der Ordner in die Hand, in der sich die Sammlung ihrer Schulzeugnisse befindet. Sie schlägt das erste Schulzeugnis auf und zeigt es den Anwesenden mit den Worten: Mein erstes Zeugnis.
Diese ganz einfache Geschichte trägt wichtige Implikationen in sich. Diese müssen wir explizieren, um den interpretatorischen Sinn der Geschichte, also die Normalitätsunterstellungen, die zu ihrer Konstruktion beigetragen haben, zu entziffern.
– Zunächst einmal unterstellt diese Geschichte eine gewisse Bedeutsamkeit des Zeugnisordners für die Person A. In dem Gedankenexperiment erscheint der Ordner als einer jener Gegenstände, die mit jener subjektiven Bedeutsamkeit verbunden sind, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und den Packvorgang unterbrechen.
– In der Geschichte ist die subjektive Bedeutsamkeit mit einer biografischen Reminiszenz verbunden. Nicht dem Gegenstand als solchem kommt die Bedeutsamkeit zu (wie im Falle eines besonders seltenen oder wertvollen Objekts); es handelt sich um eine Bedeutsamkeit für den Sprecher.
– Damit ist auch unterstellt, dass der Sprecher seinen Zeugnissen überhaupt Bedeutsamkeit zumisst. Es geht ihm dabei ja offensichtlich nicht um Zugangsberechtigungen (schaut mal, mit diesem Zeugnis habe ich mir den Übergang aufs Gymnasium vermasselt), sondern um das Initial einer Bildungs(zertifikats)karriere. Die biografische Reminiszenz kann nur dann vorliegen, wenn der Zeugniserwerb als solcher zu einem Bestandteil des Identitätsentwurfs geworden ist. Dagobert Duck, der immer wieder auf seinen ersten selbstverdienten Taler hinweist, würde seinen Neffen kaum sein erstes Zeugnis zeigen.
– Schließlich wirft unsere Geschichte die Frage auf, an wen der Sprechakt adressiert ist. Sicherlich nicht an die Möbelpacker. Er könnte an die eigenen Kinder, den Lebenspartner, vielleicht auch an einen sehr guten Freund adressiert sein. Es könnte sich natürlich auch um ein Selbstgespräch handeln. Diese Überlegungen unterstreichen noch einmal die Lesart einer biografischen Reminiszenz. Im Falle des Selbstgesprächs liegt die Funktion der Selbstbiografisierung auf der Hand. Im Falle eines an einen Anderen gerichteten Sprechakts liegt der pragmatische Sinn der Äußerung in der Wechselseitigkeit der Biografisierung, die ihrerseits konstitutiv für diffuse Sozialbeziehungen, für Eltern-Kind-Beziehungen und Gattenbeziehungen, ist.
Diese Interpretation, die den bedeutungsstrukturellen Kern des hinweisenden Sprechakts Mein erstes Zeugnis in einem Akt der Selbstbiografisierung verortet, lässt uns nun verstehen, warum wir folgende Geschichte nicht erzählt haben:
GE 2 (kontrastierendes Gedankenexperiment): Ein Kind kommt nach der Zeugnisvergabe nach Hause, ein Zeugnis in der Hand, und ruft freudestrahlend aus: Mein erstes Zeugnis.
Warum passt der Sprechakt Mein erstes Zeugnis nicht zu der hier geschilderten Situation? Dazu ein weiteres Gedankenexperiment:
GE 3: Situation wie GE 2, aber das Kind sagt: Schau mal, mein Zeugnis. Die Mutter schaut sich das Zeugnis an, und während sie das Zeugnis kommentiert sagt sie: Dein erstes Zeugnis.
Wir sehen an diesen Gedankenexperimenten, dass das Kind, das sein erstes Zeugnis erhält, dieses Ereignis noch gar nicht im Modus der biografischen Rückschau würdigen kann. Vorausgesetzt, es stattet die Situation der ersten Zeugnisvergabe mit einer positiven, subjektiven Bedeutsamkeit aus (diese Voraussetzung ist alles andere als selbstverständlich), käme dem ein Erlebnischarakter zu, der mit dem Sprechakt: endlich habe ich (auch) ein Zeugnis eine entsprechende und angemessene Artikulation finden würde. Denn es geht ja in dieser Situation gar nicht darum, dass es das erste ist, sondern es geht, wie im Falle des Fahrrads, des Handys, des Autos, der Wohnung (usw.) darum, dass man endlich in Besitz desjenigen Objekts ist, das eine subjektiv als bedeutsam empfundene Statustransformation anzeigt. Entsprechend wäre die Pragmatik des Zeigens in den Gedankenexperimenten 2 und 3 eine ganz andere, als im Falle der biografischen Reminiszenz (GE 1). Dort wäre es das stolze, erleichterte oder triumphierende Zeigen des neuen Status; hier wäre es die „sentimentale“, die eigene Biografie thematisierende Rückschau.
GE 3 macht auf einen weiteren Aspekt aufmerksam. Der Sprechakt: Dein erstes Zeugnis entspricht in der Logik der familial sozialisatorischen Interaktion der Situation des GE 1 in der Variante, dass ein Elternteil einem Kind das eigene erste Zeugnis zeigt. Die Biografisierung nimmt in dem einen Fall das erste Zeugnis des Kindes, in dem anderen Fall das eigene erste Zeugnis zum Anlass des Sprechakts. Die Richtung der sozialisatorischen Interaktion bleibt dabei dieselbe: die Weitergabe einer Ethik oder Lebensauffassung, in der das Bildungszertifikat einen biografie- und identitätsbedeutsamen Stellenwert einnimmt.