Fortsetzung der Textinterpretation
Ich heiße David [Nachname] und lerne seit dem 2. September in der Klasse 1
Die informationelle Pragmatik dieser Sequenz besteht offensichtlich in der Mitteilung des Namens des Zeugnisempfängers und der Mitteilung des Zeitraums, über den sich die im Zeugnis mitgeteilte Beurteilung erstreckt. Erst durch diese beiden Informationen wird das Zeugnis überhaupt zurechenbar.
Auffällig ist dabei die Form der Namensnennung. Denn der Autor des Zeugnisses ist hier nicht eine institutionell zur Zeugnisausstellung ermächtigte Person; Autor ist vielmehr diejenige Person, deren Leistungen durch das Zeugnis bescheinigt werden. Warum begnügt sich der Text nicht mit einer Namens- und Zeitangabe? Die Logik des Formbruchs soll sich fortsetzen. Allerdings verändert sie dabei ihre Gestalt. War durch die Überschrift Mein erstes Zeugnis der Akt des Zeigens (mit der dargelegten biografischen Implikation) thematisch, erfolgt der Formbruch nun in der Logik der Selbstauskunft. Damit wird die Aneignungsunterstellung des Dokuments variiert. Dem Motiv der biografischen Bedeutsamkeit folgt sinnlogisch nun das Motiv der Verschmelzung von Fremd- und Selbsturteil. Kein Unterschied soll bestehen zwischen der offiziell attestierten Leistung und dem artikulierten Selbstbild.
Auch hier ist das optimistische, „philanthropische“ Motiv offenkundig. Positiv ausgedrückt soll die Person nicht Objekt einer Fremdauskunft, sondern Subjekt einer Selbstauskunft sein. Aber wie schon oben erzeugt dieser versöhnlich gestimmte Wunsch eine Totalität des institutionellen Zugriffs. Der Versuch, die Kränkung der Unterwerfung unter das universalistische, gleichgültige Urteil aufzuheben, gelingt nur um den Preis der nahtlosen, ungebrochenen Übernahme des institutionellen Urteils durch das Subjekt. So beraubt die pädagogische Intervention wider ihre Absicht das Subjekt noch jener Refugien, die die Institution (hier: das Zeugnis) ihm gewährte.
Die Zeitangabe wird in die Formulierung ich lerne seit dem 2. September in der Klasse 1 gekleidet. Wie oben bereits erwähnt, ist die taggenaue Zeitangabe der Pragmatik des Zeugnisses geschuldet. Allerdings passt die taggenaue Angabe nicht zu dem Sprechakt, der mit ich lerne seit eingeleitet ist. Deshalb klingt der Satz artifiziell und unauthentisch. Davon unbenommen ist aber die Tätigkeitsangabe: ich lerne:
GE 4: Ich gehe/ich bin (seit 2. September) in die/der erste/n Klasse
Diese Formulierungen zeigen den Status der Schülerrolle an. Im Gegensatz zur tatsächlich gewählten beschreiben sie keine konkrete Tätigkeit, sondern verweisen auf einen mit dem genannten Status verbundenen komplexen Handlungszusammenhang. Umgekehrt treffen wir die Formulierung ich lerne in Kontexten an, in denen es um die konkrete Tätigkeit des Lernens geht:
GE 5: A: Kommst Du mit ins Kino? B: Geht nicht, ich lerne gerade für die Mathearbeit.
Übertragen wir die Bedeutungsimplikationen der beiden Gedankenexperimente (GE 4 und GE 5) auf den vorliegenden Text, so sehen wir, dass das erste Schulhalbjahr gleichgesetzt wird mit einer spezifischen Tätigkeit, die in dieser Zeit regelmäßig anzutreffen ist. Das ist insofern bemerkenswert, als damit alle anderen Aspekte und Tätigkeiten, die mit dem Schülersein verbunden sind, ausgeblendet werden; jene Dimensionen des Schülerseins, die eben in der Statusangabe ich gehe zur Schule enthalten sind. Demgegenüber verengt das ich lerne den Kosmos der Schüleraktivitäten auf die Akte des „Büffelns“ und „Paukens“; der konzentrierten und angestrengten Aneignung des schulisch erwarteten und abverlangten Wissens und Könnens. Sinnlogisch wird der Akt des Lernens zur monolithischen Realität der schulischen Wirklichkeit.
Diese Interpretation verweist auf die Unterscheidung zwischen Lernen als Vorgang und Lernen als Tätigkeit. Der Vorgang des Lernens spielt sich natürlich unabhängig und außerhalb der Tätigkeit ab. Lernen ist nicht auf denjenigen Akt, der durch das ich lerne bezeichnet ist, beschränkt. Der Vorgang des Lernens beginnt natürlich nicht mit der Einschulung. Mit der Einschulung beginnt vielmehr die systematisch abverlangte Tätigkeit des Lernens. Und sowenig der Vorgang auf den Akt oder die Tätigkeit des Lernens beschränkt ist, sowenig ist der Vorgang im Akt bzw. in der Tätigkeit garantiert (Jetzt lerne ich schon zwei Stunden lang und habe nichts gelernt).
An diesen Überlegungen zeigt sich, dass die im vorliegenden Sprechakt reklamierte Totalität des Lernens als schulische Wirklichkeit nicht nur die Lerntätigkeit zum Schülerdasein verabsolutiert; zugleich negiert sie die Vorgänge des Lernens, die sich außerhalb der expliziten, das Schulische als solches kennzeichnenden, Lernakte abspielen.
Abermals reproduziert sich die uns nun bereits vertraute Strukturlogik. Die dem schulischen Erfolg zweifelsohne förderliche Lernbereitschaft – entlang unserer Interpretation hier zu verstehen nicht im Sinne einer kognitiven Aufnahmefähigkeit, sondern als Bereitschaft, sich den Mühen der Ausbildung kognitiver Problemlösungsroutinen auszusetzen – wird optimistisch vorausgesetzt. David (und alle anderen) lernt; und das ist insofern erfreulich, als er darin dokumentiert, dass er nicht in unproduktiver Ablehnung zu den schulischen Erwartungen steht und dass es ihm zu schulischen Erfolgen verhilft, die ohne diese Bereitschaft sich nicht einstellen würden. Aber auch hier verkehrt sich die Positivität des Modells eines wohlsituierten Schülerdaseins in die Absolutheit der Selbstunterwerfung. Der Wunsch, der Schüler möge fleißig und zielstrebig seine Schülerrolle annehmen, degeneriert zu einem geradezu erzwungen intonierten Selbstbekenntnis: Seit 6 Monaten übe ich mich in fleißigem Bemühen, das zu lernen, was mir aufgetragen ist und sehe darin den wesentlichen Sinn der seit dieser Zeit von mir eingenommenen Schülerrolle.
Zwischenbemerkung:
Zum Problem der „umfassenden“ Würdigung des Datenmaterials
Den im Text nun folgenden Perspektivenwechsel – nach einer Schlangenlinie spricht nun nicht mehr der Schüler, sondern die Lehrerin (So hast Du im ersten Schulhalbjahr gelernt) –nehmen wir zum Anlass einer kurzen Zwischenbemerkung zu der Frage, wann eine Interpretation als abgeschlossen gelten darf und welcher Materialumfang zu Grunde gelegt werden muss, um einen Schlussstrich unter die Fallrekonstruktion zu ziehen.(6) Einerseits hat das bisherige Vorgehen deutlich gemacht, dass es forschungspragmatisch kaum möglich sein wird, in dem hier demonstrierten Interpretationsstil einer umfangreichen Datenlage gerecht zu werden. Andererseits findet sich auch in qualitativen Forschungskontexten der (implizite oder explizite) Anspruch, das jeweilige Datenmaterial vollständig zu würdigen: Interviews, Gruppendiskussionen, Unterrichtsprotokolle usw. sollen nicht nur ausschnitthaft, sondern vollständig betrachtet werden.
Die bisherige Interpretation ist weit von diesem Anspruch entfernt. Wir haben eine Überschrift und einen Satz interpretiert und schon das Vorhaben, allen Textelementen nur dieses doch sehr überschaubaren und in sich abgeschlossenen Dokuments bedeutungsexplikativ gerecht zu werden, stellte ein ausgesprochen aufwändiges Unterfangen dar; ganz zu schweigen von einem Forschungsprojekt, das sich systematisch dem Phänomen der „Pseudozeugnisse“ zuwenden würde und dessen Datengrundlage in hundert oder zweihundert solcher Dokumente bestünde.
Diese Überlegung macht zunächst auf eine Grundausrichtung fallrekonstruktiver Forschung aufmerksam. Ihr Ziel kann es gar nicht sein, das Datenmaterial deskriptiv und umfangslogisch vollständig zu erfassen. Ihr Ziel kann nur sein, an dem Datenmaterial typische Strukturen, d.h. typische Handlungsprobleme und typische, fallspezifische Antworten auf diese Handlungsprobleme, zu explizieren. So hat uns die bisherige Interpretation auf ein Problem der schulischen Leistungsbeurteilung aufmerksam gemacht, das jenseits der Fragen der pädagogisch geläufigen Probleme der Leistungsfeststellung und der jeweiligen Bewertungskriterien (wie etwa der üblichen Unterscheidung in sachliche, individuelle und soziale bzw. relationale Kriterien) angesiedelt ist. Die Rekonstruktion, die wir bisher vorgenommen haben, gibt Anlass zu der Hypothese, dass ein typisches Problem pädagogischen Handelns darin gesehen werden kann, dass es sich zu der schulisch institutionalisierten Selektivität positionieren muss. Dieses Problem ist ein Problem der pädagogisch-beruflichen Identität: „Als was verstehe ich mich?“ Die fallspezifische Antwort auf dieses Problem führt uns einen „misslungenen“ Distanzierungsversuch vor Augen: Die pädagogische Intention der Aufhebung von Entfremdung mündet in die Totalität des schulisch-institutionellen Zugriffs.
So hat uns der mikroskopische Forschungszugriff zu einer konturierten Hypothese geführt, die sich empirisch auf eine verdichtete Reproduktion einer Fallstruktur berufen kann. Diese Fallstruktur hat sich in dem kurzen Sequenzstrang, den wir bisher interpretiert haben, mehrfach reproduziert. Die Triftigkeit dieses empirischen Befundes gründet sich in der Prägnanz, in der sich diese sinnlogische Bewegung Ausdruck verschafft. Eine umfangslogisch äußerst „schmale“ Datenbasis hat uns zu einem materialgesättigten Bild einer Deformation pädagogischen Handelns geführt. Insofern können wir methodisch in Anspruch nehmen, die Reproduktionslogik einer fallstrukturellen Problemerzeugungsbewegung rekonstruiert zu haben. Und genau in diesem Sinne nehmen wir in Anspruch, dass die extensive Analyse dieses winzigen Ausschnitts der Realität pädagogischen Handelns einen immanenten Abschluss gefunden hat. Dieses Abschlusskriterium ist offensichtlich kein umfangslogisches, sondern ein strukturlogisches. Die empirische Sättigung der Befunde stellt sich nicht angesichts der Breite der Datengrundlage her, sondern angesichts der immanenten Bewegung der Reproduktion eines fallspezifischen Modus der Bearbeitung eines Handlungsproblems.
Dieser Forschungsstil verschließt nicht den Blick auf den Kosmos der alternativen Handlungsmöglichkeiten; er eröffnet ihn. Erst jetzt können wir empirisch motiviert und zielgerichtet fragen: haben wir es mit einem systematischen pädagogischen Handlungsproblem zu tun? Und wenn ja: treffen wir die fallspezifische Variante der Bearbeitung dieses Problems systematisch an und welche alternativen Varianten der Bearbeitung dieses Problems lassen sich empirisch rekonstruieren? Und bezüglich des vorliegenden Protokolls können wir die Frage aufwerfen: Reproduziert sich die rekonstruierte pädagogische Deformation? Oder finden sich transformatorische Bewegungen?
Zurück zum Text
Schon äußerlich verweist das Dokument auf eine Transformation. Der nun folgende Text ist durch eine eigentümlich unförmige Wellenlinie abgetrennt, und es folgt ein Wechsel der Autorenschaft:
So hast Du im ersten Schulhalbjahr gelernt. Darüber freue ich mich sehr.
In gewisser Weise wird nun der bisherige Formfehler, allerdings übergangslos und unvermittelt, korrigiert. Endlich spricht nicht mehr der Zeugnisempfänger. Allerdings verbirgt sich hinter dieser vermeintlichen Korrektur abermals eine Reproduktion der uns vertrauten Gestalt. Es spricht nämlich nicht die Institution über eine Person und ihre Leistungen – wie das der Fall ist in den üblichen Zeugnisformularen –, sondern es spricht eine Lehrerin zu ihrem Schüler. Das Bildungszertifikat erscheint als personaler Sprechakt, in dem die Lehrerin dem Schüler sich zuwendet. Zwei Aspekte, die uns schon mehrfach begegnet sind, lassen sich unmittelbar benennen: der Anspruch der Institution verschwindet bzw. wird verschwiegen (1) und die kalte und äußerliche Zeugnisbeurteilung wird ersetzt durch eine unmittelbare, lebensweltlich gestiftete pädagogische Beziehung (2). Ein berufliches Selbstverständnis und eine damit einhergehende pädagogische Ethik kann sich auf institutionalisierte Prinzipien nicht berufen; sie muss sich jenseits Geltung verschaffen.
In dem Sprecherwechsel wird der Bezug zum Lernen aufrechterhalten. Aus dem ich lerne wird ein so hast Du gelernt. Die Logik der Selbstunterwerfung wird nun durch die Logik der Bewertung ersetzt. Die Bewertung als solche ist für den Zeugniskontext natürlich konstitutiv. Auch diesbezüglich kann also von einer Korrektur des Formfehlers gesprochen werden. Aber was heißt es, das Lernen zu bewerten?
Wenn das Lernen bewertet wird, dann wird damit noch einmal der oben schon angesprochene Komplex der Konformität betont. Das so hast Du gelernt kündigt eben, wörtlich genommen, nicht die Bewertung der Leistung an, sondern die Bewertung der Tätigkeit des Lernens als solche. Hier hilft die oben vorgenommene Unterscheidung zwischen Vorgang und Tätigkeit des Lernens zur Präzisierung. Zweifelsohne kann jede Leistung als Ergebnis eines Lernvorgangs angesehen werden, insofern jedem Wissen und Können ein Zustand des Nichtwissens und Nichtkönnens vorausgegangen ist. Dieser Sachverhalt ist aber durch die Formulierung so hast Du gelernt gerade nicht zur Sprache gebracht. Es geht vielmehr um die Tätigkeit des Lernens und ihre Bewertung. Diese Form der Bewertung kann aber nicht einmal als adäquater Ausdruck der Orientierung an der individuellen Bezugsnorm gelten (So haben sich Deine Leistungen im 1. Schulhalbjahr entwickelt). Es geht schlichtweg um die Lerntätigkeit als Tätigkeit und damit, auch wenn wir von einer Korrelation zwischen Lerntätigkeit und Leistung ausgehen, um die Bewertung eines Verhaltens: um Wohlverhalten und Fehlverhalten.
Abermals verschafft die Verharmlosung des Zeugnisses (hier: die Ersetzung des institutionellen Sprechakts durch den „pädagogischen Bezug“) keine Entlastung. In gesteigerter Weise sieht der Schüler sich dem Urteil seiner Lehrerin ausgesetzt. Dieses Urteil will sich nicht mit der Bewertung des „Output“ begnügen. Es will mehr sein als die bloße, material irrationale, Leistungsfeststellung. Dieses Mehr bedeutet aber auch ein Mehr an Bewertungszugriff.
Die Hilflosigkeit des dabei kultivierten Optimismus lässt sich an der Formulierung: darüber freue ich mich sehr ablesen. Schon die scheinbar selbstverständliche Artikulation von Freude angesichts einer guten Schülerleistung verdiente eine eingehende Betrachtung: Ich freue mich über Deine Leistung. Hier aber wird diese Freude ja „pauschal“ geäußert. Egal wie das Zeugnis ausfällt; die Lehrerin freut sich darüber sehr. Die menschenfreundliche Gesinnung, dass die Freude der Lehrerin allen ihren Schülerinnen und Schülern zu Teil werden möge, schlägt hier geradezu in einen latenten Zynismus um. Denn die Bewertung kann eben gut oder schlecht ausfallen und entsprechend müsste eine pädagogische Empathie zwischen Freude und Mitleid unterscheiden. Wird diese Unterscheidung nicht getroffen, dann wird auch das schlechte Zeugnis von der Lehrerin mit Freude quittiert. Diese Freude ist aber, auch wenn der Sprechakt ganz anders gemeint war, nichts anderes als Schadenfreude.