Tiefenhermeneutik

3. Tiefenhermeneutische Interpretation des Fallbeispiels

Wir greifen während des gesamten Auswertungsgangs auf die drei dargestellten Verstehensmodi des logischen, psychologischen und szenischen Verstehens zurück. Diese laufen nicht nacheinander in einer Stufenfolge ab, sondern bedingen sich und gehen zirkulär ineinander über. Dabei überprüfen wir die entstandenen Hypothesen durch die parallele Lektüre entsprechender Fachliteratur. Assoziationen zulassen, Irritationen festhalten und Wortbilder entschlüsseln? (2) Wir steigen mit einer deutungsoffenen, frei assoziierenden, äußerst irritablen Haltung in das Wechselspiel mit dem Textausschnitt ein. Was fällt uns beim „symptomatischen Lesen“ des Textes ein und auf?
Verschiedene Assoziationen stellen sich ein:

  • Der Ablauf des Kreisgespräches wirke ritualisiert und regelhaft. Die kindlichen Antworten kommen in uniformierter Knappheit wie aus einem „Maschinengewehr“. Bilder einer regelhaften „guten Ordnung“ bis hin zu gedrillten braven Schülerreihen, die sich im Gleichschritt zum Schultor bewegen, tauchen auf. Auf dem Treppenabsatz etwas erhöht stehe die Lehrerin, welche das immer gleiche morgendliche Begrüßungsritual vollziehe: Sie stelle jedem Kind eine Frage und muss die Antworten aber gar nicht erst abwarten, weil diese sowieso schon ein gruppenintern gefestigtes Wissen darstellen, nämlich allgemein kursierende Klischees über den Typus braves Schulkind, das sich lieber in der Schule als daheim und lieber auf dem Bauernhof als im Schloss aufhalte.
  • Erinnerungen an die eigene Schulzeit werden wach. In der Interpretationsgruppe spalten sich diese Erinnerungen in zwei typisierbare Untergruppen:
    Gruppe A äußert sich eher skeptisch und tendenziell schul-, wie lehrerkritisch. Eigene negative Schulerfahrungen treten an die Oberfläche und werden eingebracht, in denen Anders-Sein nicht erlaubt war, geahndet wurde und zur öffentlichen Beschämung oder Bestrafung führte. Ärger auf die „pseudo-offene“ Lehrerin wird laut, die zwar vordergründig eine Wahl lasse, aber die Kinder hintergründig in die ihr genehme, als richtig ausgewiesene Richtung lenke und „abweichende Antworten“ nur als Witz zulasse. Die Deutungshoheit der Lehrperson wird angezweifelt und ironisiert. Ihre Fragerunde wird als Loyalitätsprüfung interpretiert: Wer folgt mir? Wer ist gerne bei mir in der von mir bevorzugten Bauernhofschule? Damit beabsichtige die Lehrerin, so eine weitere Assoziation, einen einheitlichen, schulischen Rahmen zu festigen, in dem nur die von ihr festgelegten Regeln und Kinderbilder gelten.
    Gruppe B schwelgt in tendenziell guten Schulerinnerungen, verteidigt die offene, kind- und beziehungsorientierte Art der Lehrerin. Diese, so die vorherrschende Deutung, versuche engagiert, alle Kinder in den Schulkreis und damit in die Lebensgruppe „Klasse“ zu holen, in dem sie jedem Kind per Votum einen Platz in der Gemeinschaft der Schulkinder frei halte. Vielleicht mache sie auch eine Art Experiment, um sich ihres „Schulbildes“ von „ihren“ Kindern zu vergewissern, lautet eine andere weitere Assoziation. Die Lehrerin habe anscheinend eine klare, äußerst positiv konnotierte Vorstellung von ihren Kindern – diese gehen gerne in die Schule, sind diszipliniert, arbeitsam und nicht konsumorientiert. Darüber hinaus festige sie ihre Beziehung zu den Kindern und deren Beziehung untereinander und zeige, dass sie Interesse an all ihren Gedanken und Wünschen habe.
  • Eine Identifikation mit den Kindern breitet sich aus: Mit Jan, der gerne beides haben will und die von der Lehrerin aufgemachten Gegensätze: Schule oder Familie vereinbaren möchte. Warum machen Ferien und Familie müde, aber Schule und Lehrerinnen wach, wird sich lachend und nahezu palastrevoltierend gefragt. Die Haltung der Interpretieren-den tendiert dabei zwischenzeitlich zwischen Lust am Unsinn mit der kindlichen Peergroup auf der einen Seite und dem Wunsch nach angepassten Gefälligkeitsantworten auf der anderen Seite, um die Sache schnell abzuschließen.
    Die wesentlichen Irritationen sind:
  • Das gehäufte Aufmachen von Gegensätzen in diesem Kreisgespräch: Schule vs. Familie; Schule vs. Ferien; Schule macht wach vs. Familie und Ferien machen müde; Schloss vs. Bauernhof; Kinder, die fehlen vs. solche, die da sind; Kinder, die sich einordnen vs. solche, die aus der Reihe tanzen; Kinder, die es richtig machen vs. solche, die es falsch, d.h. einen Fehler machen. Die durch diese polarisierende Widerspruchskonstruktion inszenierte Spaltung kenne nur ein entweder/oder bzw. ein drinnen oder draußen, kein sowohl als auch. Jan scheitere, weil die Lehrerin eine Entscheidung fordert. Er entscheidet sich zwar zögerlich, aber im von ihr gewünschten Sinne richtig: „Schule“.
    Interessanterweise spiegeln sich in den Forschergruppendiskussionen auf der Gegenübertragungsebene diese Spaltungsprozesse wider. Auch hier werden scheinbar unauflösbare Gegensätze „aufgemacht“. Die auf der Textebene des Kreisgespräches virulente Konfliktdramatik wird als Streitgespräch zwischen Gruppe A, den Kritikerinnen und Gruppe B, den Befürworterinnen um die richtige Interpretation reinszeniert: Ist das nun eine „gute“ oder eine „schlechte“ Lehr-/Lernform, lautet die anscheinend nicht beizulegende Streitfrage. Eine Verknüpfung zu einer symbolisierbaren Kompromissvariante ist offensichtlich äußerst schwierig bis nicht möglich, so die irritierende Feststellung in den Gruppendiskussionen. Die sich daraus ergebende Forschungsfrage lautet: Welche unbewusst-latente Bedeutung hat dieses, auf mehreren Ebenen inszenierte, sich in Spaltungsprozessen entfaltende Entscheidungsspiel?
  • Der korrigierte Versprecher der Lehrerin, die zunächst die falschen Antwortvorgaben Schloss und Baumhaus gibt. Ihre „Fehlleistung“ fällt ihr nach fünf Antworten auf, die dreimal für das Schloss votieren und sie führt dann das richtige Antwortpaar ein: Schloss oder Bauernhof. Prompt wird von den Kindern nur noch Bauernhof gewählt.
    Der Begriff „Schloss“ symbolisiert die feudale Variante des Müßiggangs mit Bildung als Privileg – das feine Leben mit einer ausgewählten Lehrperson für Prinzen und Prinzessinnen mit Goldgriffel und Marmortafel. Hier gedeihe die adlige Intelligenz, unterwiesen in allen Künsten, bereit das Sein der Welt philosophisch zu erfassen, aber abseits von den realen Lebensmühen platziert.
    Die Vorgabe „Bauernhaus“ steht einerseits für Mühsal, Last, Arbeit und Abhängigkeit von Naturgewalten, aber auch (seit Anfang des 19. Jahrhunderts besonders für die städtische Bevölkerung) für eine romantische Idylle und die Sehnsucht nach einem heilen, beschaulichen Landleben bei gleichzeitiger Abwertung der dort lebenden Bauern als zu-rückgeblieben und „dumm“. Möglicherweise sei der Bauernhof eine Projektion der Lehrerin und steht für Fleiß und unabänderliche, naturgegebene Arbeitszwänge, denen man sich fügen müsse, ähnlich wie in der Schule: Morgenglocke, Pausengong, Erfüllen von Lehrplänen und Einhalten von Bildungsstandards.
    Der Begriff „Baumhaus“, von der Lehrerin nur kurz zur Debatte gestellt, befindet sich irgendwo dazwischen – als vermittelnde Position zwischen Lebens- und Schulwelt. Damit werde eine Form alternativer Pädagogik ins Spiel gebracht, jenseits der schulischen Institution, in der sich die Lehrerin real befindet: eine Pädagogik, die Lernen als lebenspraktische, ganzheitliche Wissensvermittlung und soziales Miteinander unter Naturgegebenheiten ermögliche. Die Lehrerin wünsche sich möglicherweise eine Baumhaus bauende, freie „Waldschule“, in der sich die Ferien nicht vom Schulalltag unterscheiden, doch leider werde auch ihre Phantasie von den institutionellen Vorgaben in ihre Schranken gewiesen. Das „Baumhausbild“ werde im System Schule als fehl am Platz wahrgenommen und von der Lehrerin selbst, als diese ihre Fehlleistung bemerkt, prompt von der Sprachoberfläche entfernt, aber in seiner Bedeutung nicht ausgelöscht.
    Letztere Betrachtungen führen uns schon zu den erkenntnisleitenden Wortbildern, die als vieldeutige, sinnlich symbolische Gelenkstücke zwischen den aufgemachten Gegensätzen fungieren und Hinweise auf potentielle dazwischenliegende Verknüpfungsleistungen geben.
  • Die bedeutungsschwangere Satzfolge der Lehrerin zu Beginn der Sequenz: „Macht ihr den Kreis ein bisschen zu. Die Sonne scheint so stark, als ob es draußen warm ist“. Der Kreis selbst ist ein präsentatives Symbol, das Verbundenheit (Trauring), Egalität (runder Tisch), Wiederkehr (Uhr) und Schutz (durch die Trennung von Gut und Böse in der Magie) symbolisiert. Er steht als zirkuläre Form für Ganzheit statt Teiligkeit, denn Kreislinien bilden einen Ring oder eine Kugel, es sind weder Anfang noch Ende zu sehen. Kreise bilden in sich geschlossene und deshalb als vollkommen und ausgewogen geltende symbolische Figuren (vgl. Ritter, Gründer 1976, Bd. 4, S. 1211). Ein Kreis ist also per se „zu“, er ist schon (in sich) geschlossen und man kann ihn nicht noch „zuer“ machen. Eine Tür oder ein Fenster dagegen kann man zu machen, um bspw. die warme Sonne nicht hereinzulassen. Oder würde dies etwa Licht in die nebulöse Als-Ob-Szenerie des hintergründig lücken- und fehlerhaften Kreises bringen? Die sich daraus ergebenden Fragen lauten: Was wird verdeckt und/oder ausgegrenzt und welche unbewusst-latente Bedeutung hat Geschlossenheit vs. Offenheit bzw. Exklusions- und Inklusionspraxis im Kreisgespräch?
  • Die das Kreisgeschehen einführende doppelt konstatierte „Fehlsituation“: Es fehlen die Sorgen und zwei Kinder; am Schluss dann das Baumhaus.
    „Fehlen“ ist eng verbunden mit einem Fehler, denn beide Begriffe haben den gleichen Wortstamm. Das Verb „fehlen“ geht etymologisch auf lat. fallere zurück mit der Bedeutung „sich irren, täuschen, verfehlen“ und ist eng verwandt mit dem Adjektiv „falsch“, das auf lat. falsus zurück geht mit der Bedeutung: „falsch, irrig, unwahr“ (vgl. Duden 2006, S. 203, 209). Daraus leitet sich der Begriff „Fehler“ ab mit den Bedeutungslinien „Versehen, bleibender Mangel“. In der Institution Schule spielen „Fehler“ eine große Rolle. Sie werden regelhaft mit rot angestrichen und (schlechter) benotet. In dem Textbeispiel werden Fehlleistungen, wie der Versprecher der Lehrerin, vorschnell und entschuldigend aus dem vordergründigen Diskurs gelöscht, sind aber dadurch nicht verschwunden, sondern wirken aus der Latenz heraus auf das Gesamtgeschehen ein. Eindrucksvoll re-inszeniert wurde die Bedeutung von Fehlleistungen während einer von mir als Lehrenden angeleiteten Gruppendiskussion mit Student/-innen zur Einführung in die Tiefenhermeneutik anhand des angeführten Kreisgespräches an der Universität Klagenfurt. Um die unterschiedlichen tiefenhermeneutischen Verstehenszugänge und entsprechende Sinnstrukturen zu verdeutlichen, teilte ich die Seminargruppe in vier Untergruppen ein, die jeweils unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven (1. Sachinformationen/2. Gefühle + Affekte/3. Gegenübertragung: Perspektive Lehrerin und 4. Gegenübertrag: Perspektive Kinder) verfolgen sollten. Als wir uns wieder im Plenum trafen, wurde zu meiner und zur irritierenden Überraschung der Gesamtgruppe deutlich, dass sich die zweite eingeteilte Untergruppe der, den emotionalen, affektiven Aspekten der Kreisszene zugeordneten, Student/-innen in Luft aufgelöst hatte. Sie hatte sich unter der Hand der dritten und vierten Gruppe angeschlossen, die sich gegenübertragend in die Rolle Lehrerin bzw. der Kinder versetzen sollten. Eine der Wahrnehmungsgruppen fehlte – wie die Sorgen oder die abwesenden Kinder zu Beginn und das Baumhaus am Ende des Kreisgespräches. In der anschließenden Diskussion arbeiteten wir heraus, dass es offensichtlich nicht möglich war, diese Wahrnehmungsebene, die sich auf die eigenen Gefühle, auch Körperempfindungen, Phantasien, Handlungsimpulse konzentrierte, in ihrer Reinform in einer Hochschule, einer einem hierarchischen Regelwerk unterliegenden Bildungsinstitution, zu besetzen. Doch latent unterminierte die manifest fehlende Wahrnehmungsgruppe die beiden anderen Gruppen und tauchte trotz ihres Fehlens dadurch wieder auf. Die sich daraus ergebende Forschungsfrage lautet: Welche unbewusst-latente Bedeutung haben die auf Text- und Interpretationsebene inszenierten Fehlleistungen?

Schlüsselszenen herausfiltern und tiefenhermeneutisch kontextualisieren
Die assoziative, irritable und bildhafte Entschlüsselung des Kreisgespräches verdichtet sich im Hinweis auf eine mehrdeutige Szenerie:
– die durch scheinbar nicht aufzulösende Widerspruchskonstruktionen bestimmt wird;
– die in ihrer Kreisform als ein in actu präsentatives Symbol eine gegensatzaustarierende Funktion erfüllt;
– dessen auf Entscheidung für oder gegen eine Seite der Gegensatzpaare pochendes, hierarchisches, exkludierendes und kontrollierendes Regelwerk durch Fehlleistungen subversiv und kreativ unterwandert wird.
Ausgehend von den „aufgemachten Gegensätzen“ und inszenierten Spaltungsprozessen zentriert sich der kontextualisierende Verstehensfokus auf die Grundparadoxie pädagogischen Handelns, die in der „Aufforderung zur Selbsttätigkeit“ (Fichte) liegt. Diese in sich, also konstitutiv, widersprüchliche Konstruktion liegt allen weiteren pädagogisch relevanten Gegensatzpaaren wie Lehrende/Lernende, Wissen/Nichtwissen, Norm/Abweichung, Autonomie/Zwang, Organisation/Interaktion usw. zugrunde (vgl. Helsper 2000) und bildet eine in Lorenzers Begrifflichkeiten virulente Konflikttypologie, in der die Spannung zwischen objektiven Vorgaben und bewussten Inhalten auf der einen Seite und der je subjektiven Aneignung und unbewussten Inhalten auf der anderen Seite immer präsent bleibt. Das „Aufmachen“ von Gegensatzpaaren, sowohl in der Kreissituation selbst wie analog in den Gruppendiskussionen, ist ein Versuch, diese konstitutiven pädagogischen Antinomien in eine zwar nicht aufhebbare, jedoch aushaltbare Form zu bringen.
Welche manifesten und latenten Dimensionen finden sich in den dabei inszenierten Spal-tungsprozessen? Im Unterschied zu „normalen“, sach- und wissensorientierten Unterrichtssituationen, aufgefächert in curricular vorgegebenen Lehr/Lerngegenständen im 45min-Takt, ist das Kreisgespräch manifest ein egalitäres, partizipatives Instrument der Öffnung des Grundschulunterrichts (Prengel 1999), das an der „Schnittstelle zwischen Kinderalltag und Schule“ ansetzt (Heinzel 2003, S. 105). Der Kreis bietet explizit die Möglichkeit, außerschulische Erfahrungen, Kindsein, Kinderkultur und -alltag, subjektiv unterschiedliche Aneignungsformen in den Schulunterricht, in Schulkindsein, in die Schulkultur, in den Schulalltag und dessen objektiv standardisierte Richtlinien hinein zu holen. In Kreisgesprächen interagieren die Kinder daher in einer ständigen Pendelbewegung „zwischen den Regieanweisungen der Lehrerin und den Inszenierungsvorschlägen der Gleichaltrigen, zwischen den von der Lehrerin für wichtig erachteten Themen und den kinderkulturellen Themen, zwischen schulischen Anforderungen und den Normen der Kinderkultur“ (Heinzel 2003, S. 109). Mit dieser Pendelbewegung schaffen sie sich einen intermediären Raum, in dem die „Wechselwirkung zwischen Schule und außerschulischen Erfahrungen“ einen Ort erhält (Heinzel 2003, S. 107). In dieser Wechselwirkung ist die spannungsvolle pädagogische Konfliktdramatik eingelagert und verlangt danach, wie in jedweder pädagogischen Situation, austariert zu werden. Wie groß oder klein, weit oder eng, wie offen oder geschlossen der dafür vorhandene Spielraum ist, hängt eng mit dem didaktisch-methodischen Konzept und der pädagogischen Haltung der Lehrperson zusammen. Im vorliegenden Fallbeispiel wird zwar manifest von der Lehrerin, sogar mehrmals täglich, auf der Vorderbühne ein solch intermediärer Raum geöffnet, jedoch durch die lehrerinnenfokussierte, regelorientierte, hierarchische Anleitung auf der latenten Ebene im Gleichzug geschlossen: „Macht ihr den Kreis ein bißchen zu!“
Auch das Gruppen-Wir im Kreis der Kinder formt sich über Exklusions- und Inklusions-prozesse: Entweder/Oder- Entscheidungen sind gefragt, bei denen die Antworten intern als ein von der Lehrerin vorgegebener Gruppencode festliegen. Sie dienen der Scheidung zwischen richtig oder falsch – damit werden die Abwesenden, sowie Familien- und Schlosskinder exkludiert und im Gegenzug die Anwesenden, die Schul- und Bauernhofkinder inkludiert. Letztere bilden schließlich die homogene, majoritäre Gemeinschaft der erwünschten Schulkinder, die sich lieber den Lernmühen unterziehen, Schule den Ferien vorziehen und sich dadurch deutlich von den nicht einzuordnenden heterogenen, minoritären Familien-, Ferien- und Schloßalltag favorisierenden Kindern unterscheiden.
Das Bemühen um Homogenität lässt sich generell im deutschen Schulwesen finden: „über das 20. Jahrhundert hinweg als Reduktion der Altersmischung und als konsequente Durchsetzung der Jahrgangsklasse; in den Verfahren zur Zurückstellung am Schulanfang und zur „(Nicht-) Versetzung am Ende einer jeden Klasse; in der zunehmenden Differenzierung der Sonderschulen; in der dreigliedrigen Organisation der Sekundarstufe“ (Brügelmann 2002, S. 31). In der Nach-Pisa-Ära tritt Steuerung und Controlling von Lehrinput und Lernoutput durch die Implementierung allgemeingültiger und richtungsweisender Bildungsstandards in die homogenisierenden Fußstapfen (Klein 2010). Das Bemühen um Homogenität kann daher als institutioneller Versuch verstanden werden, Heterogenität und damit das Ermöglichen von Unbestimmtheit (Prengel 1999, S. 16) intentional zu steuern, hierarchisch zu lenken und planmäßig bestimmbar zu machen. Unbestimmtheit ist im Fallbeispiel die entscheidende latente Dimension: Sie wird 1) verdeckt, verhüllt und fast zum Verschwinden gebracht in der nebulösen Als-Ob-Szenerie, in der Lehrerin wie Kinder so tun, „als ob“ eine freie, autonome, egalitäre unbestimmte Entscheidung möglich ist. Sie wird 2) an den Rand gedrängt, ausgegrenzt und fast ausgelöscht in Form unerwünschter Meinungsvielfalt, die sich, so die institutionelle Bedrohung, der verlangten Entscheidung im Entweder/Oder-Modus widersetzen könnte. Dahinter steht eine binäre asymmetrisch-machtvolle Denk- und Handlungslogik, die ein unbestimmtes Sowohl-als-auch nicht zulässt. Folgen wir Wimmer, gehört die Unbestimmtheit der menschlichen Natur, gepaart mit einem prinzipiell offenen, unvorhersehbaren, nicht kalkulierbaren, eben unbestimmbaren Ausgang von Erziehung, zum Kern pädagogischer Gegenstandsbestimmung. Unbestimmtheit macht das der Pädagogik innewohnende Paradoxieproblem nachgerade aus (Wimmer 2006, S. 10). Durch standardisierende Versuche der Steuerung, Lenkung und Homogenisierung werden laut Wimmer die konstitutiv pädagogischen Paradoxien jedoch nicht überwunden, sondern in Gestalt erzwungener Lösungen lediglich unsichtbar gemacht (Wimmer 2006, S. 19). So auch im Fallbeispiel.
Unbestimmtheit wird zwar verdeckt, ausgegrenzt, ausgelöscht und wie das „Baumhaus“ kurzerhand von der Bühne entfernt. Es ist aber trotz aller hierarchisch-lenkenden Schließung nicht aus der Kreisszenerie verbannt und deshalb nicht „weg“. Unbestimmtheit tritt als unbewusster „Gegenspieler“ auf, virulent im Spannungspotential zwischen den „aufgemachten Gegensätzen“, zwischen Schulinstitution und Kinderkultur, zwischen Lehrperson und Schulkind, zwischen Wirklichkeit und Wunsch, zwischen Schließung und Öffnung, zwischen richtig und falsch, zwischen Standard und Abweichung, zwischen Homogenität und Heterogenität. Das Unbestimmbare wird dabei zwar nicht begrifflich symbolisiert, aber körperlich-habituell und sinnlich-symbolisch in Szene gesetzt: über Fehlleistungen, über Zögern, über Gags und vor allem über gemeinsames miteinander Lachen. Hier blitzt der Spielraum auf, den die sich in schulischer Ordnung und Zwängen befindlichen Kinder wie auch die Lehrerin offen halten. Unter Rückgriff auf den Objektbeziehungstheoretiker Winnicott (1974) können Kreisgespräche in ihrer Funktion als Übergangsräume exemplifiziert werden. Deren besonderes Potential liegt nämlich gerade in der Verknüpfung oppositioneller und scheinbar nicht zu vereinbarender Zustände zu eigenwilligen zwischenkategorialen Symbolformen (→ sinnlich symbolischen Interaktionsformen). Im vorliegenden Kreisgespräch liegen die zwischenkategorialen Kreationen zwischen Bauernhof/Schloß und präsentieren sich als Baumhaus; zwischen Standard/Abweichung und artikulieren sich in Tom’s Schlußpointe, in Jan´s tapferem Versuch und Josepha´s zögerndem „Äh!“ Durch ihre sinnlich-symbolischen Gestaltungsformen, über mimetische, performative und kreative Praktiken ermöglichen solche „dramatischen Handlungsfelder“ (vgl. Wulf 2001) trotz institutionalisierter Hierarchie, Lenkung und vorgeschriebener Homogenität partizipatives und ko-konstruktives Bearbeiten von Widersprüchen, Ambivalenzen, Differenzen – kurz: des pädagogischen Grundparadoxons.
Problematisch wird es, wenn die tendenziell unbestimmbaren Wechselwirkungen zwischen Selbst und Welt durch zu viel standardisierende Homogenisierung „still- und fest-gestellt“ werden. Der sich potentiell dazwischen eröffnende Bildungsraum wird dabei „vernichtet“ und jegliche Selbstbildungskräfte der zu bildenden Subjekte werden „ausgeschaltet“ (Klein 2010, S. 37f.). Denn besonders die vieldeutige, einer eindeutigen Begrifflichkeit vorgelagerte sinnlich-symbolische, zwischenkategoriale Ebene hat Bildungsrelevanz. Sie beinhaltet „noch-nicht“ in Sprache gefasste neue individuelle und kulturelle Entwürfe in präsentativer Symbolform, die vom Kollektiv – in unserem Falle von der Lehrperson und den anderen Kindern abgelehnt oder integriert werden können. Im individuellen wie kollektiven (Symbol)Bildungsprozess bilden sie daher ein entscheidendes Reservoir für Bildungsbewegungen. Der Erziehungswissenschaftler Mollenhauer hat bei seiner Begründung einer pädagogischen Symboltheorie explizit auf die fundamentale Bedeutung der „Zwischenereignisse zwischen dem Begrifflichen und Unbegrifflichen“, wie er sie nennt, hingewiesen. „Die Spur, die sie zeigen, ist die einer nicht sprachlichen Weltvergewisserung, die vielleicht gar als das Fundament aller Bildung, jedenfalls als ihr Ausgangspunkt, angesehen werden kann.“ (Mollenhauer 1996, S. 260). Als den symbolischen Prototyp in pädagogischen Kontexten identifiziert Mollenhauer das Übergangsobjekt, in Lorenzers Terminologie: die sinnlich-symbolische Interaktionsform (Mollenhauer 1991, S. 98f.).