Tiefenhermeneutik

4. Bildungsrelevante Potentiale und Grenzen der Tiefenhermeneutik für die Lehr/Lernforschung und -praxis

Die Potentiale der Tiefenhermeneutischen Theorie und Methode liegen darin, dass sie auf die dargestellten basalen, jedoch außersprachlichen, flüchtigen und oft abweichenden Bildungsbewegungen aufmerksam macht und sie in ihrer Unbestimmbarkeit erkenntnistheoretisch und/oder bildungspraktisch auffängt. „Diese ‚nochnicht bewussten’ Praxisfiguren – wie im Anschluss an Ernst Bloch zu sagen ist – bilden ein utopisches Potential, das aufzudecken Aufgabe einer Hermeneutik ist, die sich kritisch gegen ‚die versteinerten Verhältnisse’ stellt“ (Lorenzer 1986, S. 28). Das tiefenhermeneutische Potential liegt daher besonders in der Reflexion gültiger Standards, dem Aufklären von Vorurteilen, dem Demontieren von Ideologien, dem Bewusstmachen vergessener Zusammenhänge und damit in einer kritisch-reflexiven, emanzipatorischen, darüber hinaus gehenden (Theorie-)Bildungsbewegung.
Pädagogisch gelesen handelt es sich dabei um den Umgang mit dem individuell wie sozial Ausgeschlossenen und dem institutionell wie kulturell Exkludierten. Dies können Erkenntnisse, Bedeutungen, Motive, aber auch Praxen, Dinge oder Menschen sein – eben der Schatten des Sichtbaren und die Kehrseite des Diskurses, beispielsweise aufgefächert in einem heimlichen Lehrplan, aufgeführt auf der Hinterbühne der Klassenzimmer, abgelegt im Zwischensinn einer pädagogischen Fehlleistung, inszeniert am äußersten Rande einer kinderkulturellen Performanz oder frei flottierend jenseits formaler Standardisierungstendenzen. Die Fähigkeit, Unbestimmbares in Symbole zu überführen und damit der intersubjektiven Verständigung zugänglich zu machen, hängt eng mit der Herausforderung zusammen, fest gefügte Strukturen in Frage zu stellen und (Denk)Grenzen zu verrücken, vor allem bei sich selbst als symbolbildender Forscherin. In dieser Vorgabe der Selbstreflexivität liegt auf der einen Seite eine entscheidende Begrenzung der Tiefenhermeneutik. Trotz einiger diskutabler Vorschläge (Lorenzer 1986, S. 86f.; Trescher 1993) bleiben bisher dringend zu klärende Fragen offen – etwa die, wie nicht psychoanalytisch ausgebildete Wissenschaftler/-innen diese Kunst erlernen und ausüben können (Busch 2001, S. 34). Auf der anderen Seite liegt gerade in der geforderten selbstreflexiven Haltung aber auch ihr besonderes Potential, das in der Professionalisierung von angehenden Lehrer/-innen noch zu wenig genutzt wird. Der Erwerb tiefenhermeneutischer Kompetenzen beispielsweise in Forschungs-, Lehr-, Lern- und Praxiswerkstätten ermöglicht eine offene und mehrperspektivische Entschlüsselung von Schulsituationen, bei der auch bewusstseinsferne Dynamiken von Unterrichtsszenen erfasst werden können. Dabei schließt sie die Reflexion über den eigenen Anteil an der Lehr/Lern-Interaktion selbstverständlich mit ein (vgl. Würker 2007, der eine modellhafte Konzeption zur Integration psychoanalytisch orientierter Selbstreflexion auf tiefenhermeneutischer Basis im Rahmen der Schul-praktischen Studien vorlegt).

Fußnoten:

(1) Freud (1969/1994, Bd. III, S. 272) benutzt diesen Ausdruck in seiner Schrift über Aphasien.

(2) Die im Folgenden vorgestellten Interpretationsansätze und -zugänge stammen aus verschiedenen tiefenher-meneutischen Forschungs- und Workshopgruppen zu diesem Forschungsmaterial, sowie Heinzels Studie (2001) und sind von mir exemplarisch für diesen Lernpfad zusammenfasst.

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