Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Im Folgenden werden Protokollausschnitte aus der Freiarbeit der jahrgangsübergreifenden und integrativen Schulklasse vorgestellt. Diese – hauptsächlich von den Kindern selbst organisierte – Arbeitsphase bezog sich auf die Lernbereiche Sprache und Mathematik und war fester Bestandteil der didaktischen Konzeption der beiden in der Gruppe tätigen Lehrerinnen.(1) Die ausgewählten Szenen betreffen das gemeinsame Geschichtenschreiben zweier Schulanfänger, die ich Dirk und Lars nennen möchte und die laut der beiden Pädagoginnen sehr unterschiedliche Lernvoraussetzungen mit in die Schule brachten:

  • Bereits nach der Einschulung galt Lars als „sehr leistungsstark“, ein paar Monate später wurde er als „etwas fortgeschritten“ in seiner Lese- und Schreibentwicklung und als „sehr intelligent, eventuell hochbegabt“ charakterisiert.
  • Dirk hatte nach einer Zurückstellung zunächst den Schulkindergarten besucht, brachte bei seiner Einschulung „rudimentäre Schriftkenntnisse“ mit und galt aufgrund einer „Sprachbehinderung“ als „Integrations-“ oder „GU-Kind“.

Trotz ihres unterschiedlichen lernbiografischen Hintergrunds arbeiteten die beiden Kinder unmittelbar nach ihrer Einschulung während der Freiarbeit fast ausnahmslos zusammen. Im folgenden Protokollausschnitt vom 19. November 2001 geht es zunächst um das Schreiben ihrer ersten gemeinsamen Geschichte, einer „Computergeschichte“, wie Dirk und Lars dazu sagen würden.

Dirk und Lars sitzen am Computer, Dirk vor dem Bildschirm und Lars neben ihm, ich sitze neben Lars.

Dirk tippt [mit verschiedenen Farben] ein: <Iswa>.

„Wir wollen ein gelbes /a/“ – beschwert sich Lars – „nicht ein rotes /a/“.

Dirk ändert die Farbe.Lars diktiert: /eee/,/iii/,/n/,/n/,/aaa/,/t/,/t/ und Dirk tippt weiter: <einnat>.

Thomas kommt in diesem Moment hinzu und schaut sich das Geschriebene an:<Iswaeinnat>. Er versucht es zu entziffern und fragt schließlich: „Was steht denn da?“

„Es war einmal ein Tiger“ antwortet Lars.

„Dann müsst ihr auch ,es war einmal ein Tiger’ schreiben!“, kommentiert Thomas und geht wieder zu seinem Platz.

In der hier beschriebenen Situation praktizierten die beiden Jungen eine Methode – der eine diktierte, der andere schrieb bzw. tippte – die auf ähnliche Weise auch bei älteren Kindern der Gruppe zu beobachten war. Der Unterschied lag allerdings darin, dass Lars auf seine und Dirks Schreibentwicklung abgestimmt vorging: Er diktierte nicht Wörter oder Sätze, sondern Buchstaben bzw. Laute. Dass sie dabei von anderen, in der Regel älteren, bereits schreibkundigen Kindern beobachtet wurden, war in dieser Grundschulklasse ebenfalls üblich. Thomas kam sogar hinzu, nachdem die beiden Erstklässer erst wenige Buchstaben, aus ihrer Sicht ihre ersten Wörter, getippt hatten. Durch Thomas’ Einwurf erfuhren Dirk und Lars, dass diese Wörter nicht lesbar waren. Durch seine knappe Rückmeldung bzw. Aufforderung – „dann müsst ihr auch ,es war einmal ein Tiger’ schreiben!“ – wurde eine wichtige Komponente des Geschichtenschreibens zum Ausdruck gebracht und zugleich eine nicht aushandelbare Erwartung der Angehörigen dieser Gruppe (Kinder und Lehrerinnen): Ihr müsst verständlich schreiben, das Geschriebene soll eine Erzählung, also eine Mitteilung sein bzw. werden. (2) Kurz darauf wurde diese Erwartung, kombiniert mit einem Hilfsangebot, durch einen weiteren Jungen noch deutlicher zum Ausdruck gebracht:

„Was schreibt ihr da?“, fragt nun Sam,der am gegenüberstehenden Computer arbeitet, „Das kann doch kein Mensch lesen!“

 Er versucht den Text zu entziffern: „/is … w… a … ein …/, falsch“, sagt er, zeigt auf das <Is> und fragt:„Was soll hier stehen?“ „Es“,antwortet ihm Lars. „Ihr habt leider alles falsch geschrieben“, erklärt Sam mit etwas leiserer Stimme, „aber ich kann euch helfen, wenn ihr wollt. Soll ich?“

 Dirk deckt abrupt mit einem Lexikon, das neben dem Computer stand, den Bildschirm komplett ab, sodass nichts mehr zu lesen ist.


Abb.1 Dirk und Lars haben an diesem Tag mehrmals das Geschriebene gelöscht und jeden Buchstaben erneut eingetippt (Abb. 1). Auf der Suche nach dem „richtigen Buchstaben“ haben sie die Tastatur gründlich studiert und viele Schreibalternativen erprobt und trotzdem von verschiedenen Jungen die Rückmeldung erhalten, dass ihre Geschichte nicht zu entziffern sei. Die angebotene Hilfe haben sie allerdings nicht angenommen, ihr Wunsch, ihre erste Computergeschichte „allein“ – also ohne Unterstützung von älteren Kindern bzw. Jungen – schreiben zu können, war nicht zu übersehen. Die Lehrerin kam an diesem Tag ebenfalls regelmäßig vorbei, um die beiden Kinder beim selbstständigen Schreiben ihrer Geschichte zu beobachten:

Lars zeigt Frau N.,was auf dem Bildschirm geschrieben steht: < IswaeinaLtigadeginduscdiscunleafantaeinhantilopeasdiantilopehginweita >

Die Lehrerin liest laut vor:„Es war einmal ein Tiger, der ging …“

„Durch den Dschungel“, hilft ihr Lars weiter.„Ach so, durch den Dschungel“, wiederholt Frau N.

„Er fand eine…“, sagt Lars und sieht seine Lehrerin an. „Eine Antilope?“, ergänzt die Lehrerin fragend.

„Er aß …“, liest Lars weiter vor.„Die Antilope und ging weiter“, ergänzt die Lehrerin.

„Sehr schön“,sagt sie und schaut die beiden Jungen lächelnd an. „Schreibt ihr jetzt weiter?“, fragt sie.

Dirk nickt.

Abb.2 Die beiden Jungen haben auch in den darauf folgenden Wochen gemeinsam Geschichten geschrieben, die Lehrerin hat ihre Schreibprodukte im Kreis zusammen mit Texten der weiteren Kinder der Gruppe – gegebenenfalls mit Hilfe – vorgelesen und als solche gewürdigt. Um die anderen Kinder, insbesondere die Jungen (auf diesen Aspekt gehe ich im Folgenden ein) als Adressaten ihrer Geschichten zu erreichen, aber auch, um die Diskrepanz zwischen dem, was Dirk und Lars mitteilen wollten und dem, was sie zu diesem Zeitpunkt tatsächlich schreiben konnten, haben die beiden Jungen etwa ab Mitte Januar eine bereits vorhandene Praxis genutzt und ihren Bedürfnissen angepasst: Anstatt, wie es in der Gruppe üblich war, Bilder zu ihrer jeweiligen Geschichte zu malen, ihre Texte während oder nach dem Schreiben mit Bildern zu illustrieren, haben sie die gesamte Dramaturgie ihrer Geschichte vor dem Schreiben zunächst malerisch entworfen. Auf einem großen Blatt oder auf mehreren Blättern (Abb. 2), haben sie also nicht nur die Protagonisten bzw. deren Einsatz, sondern auch die gesamte Erzählung ausdiskutiert, ihre Ideen im Dialog und durch ständige Modifizierung ihres gemeinsamen Bildes entwickelt.
Diese Praxis hat dazu geführt, dass die beiden Erstklässer ab diesem Zeitpunkt nicht nur Toleranz für ihre Schwächen oder Hinweise von den anderen Kindern, sondern auch Bewunderung für ihre gemalten Geschichten bekommen hatten. Ihre höchst komplexen Erzählungen in ihren Bildern entsprachen zwar nicht dem Geschriebenen, aber dem Gedachten – und vor allem: Sie waren lesbar! Ihre erfundenen, malerisch erzählten Geschichten wurden wichtiger Teil einer bereits existierenden, ausschließlich von den Jungen dieser Klasse gepflegten Schreibkultur, in der hauptsächlich Abenteuergeschichten über Pokemon, Dinosaurier, Kriege etc. produziert wurden. Dirks und Lars’ Bilder haben auch andere Jungen der Gruppe inspiriert, ihre eigenen Geschichten zunächst malerisch zu entwerfen. Für die beiden Erstklässler hatten diese gemalten Geschichten auch eine andere Funktion und zugleich eine besondere Bedeutung für ihre Zusammenarbeit:

Der folgende Ausschnitt aus dem Beobachtungsprotokoll vom 21. Januar 2002 zeigt, wie die beiden Jungen, nachdem sie eine Geschichte sorgfältig und detailliert malerisch entworfen hatten, sich sowohl mit dem Schreiben, als auch mit dem Schreibenlernen befassten. Während Lars den ersten Teil der Geschichte – etwa sechs Zeilen – schrieb, wartete Dirk ungeduldig darauf, dass er damit fertig wurde. Jetzt sollte Dirk weiter schreiben, wobei Lars – so die Abmachung mit Dirk – ihm den zuvor im Bild gemeinsam entworfenen Text Buchstabe für Buchstabe bzw. Laut für Laut diktierten sollte:

Lars beginnt zu diktieren:„/d/, großes /d“ und Dirk schreibt ein <D>. Lars setzt fort:„/e/,/er/,/r/, genau, dann /s/,/p/,/i/,/n/,/o/“.
Dirk schreibt zügig Buchstabe für Buchstabe. Lars diktiert und korrigiert zugleich: „/ha/,nein,
Dirk, kleines /ha/.“ Dirk löscht den zuletzt geschriebenen Buchstaben und schreibt an dessen Stelle einen Kleinbuchstaben. Lars setzt wieder fort:/a/,/t/,/e/,Abstand,/e/,/i/,/n/,ja,/n/,genau,/e/,/h/“ und Dirk schreibt zügig. „Jetzt das /o/ mit Pünktchen“ sagt Lars, „und dann /f/,ah nee,hier“, setzt Lars hinzu und schreibt den Buchstaben <f> auf sein Blatt. Dirk schreibt den Buchstaben ab und
Lars diktiert weiter …

Dass Dirk noch nicht selbstständig schreiben konnte, schien also nicht problematisch zu sein. Sein Beitrag beim Geschichtenmalen war genauso wichtig wie der von Lars. Die beiden Jungen haben es auf diese Weise tatsächlich geschafft – trotz ihrer unterschiedlichen Fähigkeiten, die zu jenem Zeitpunkt deutlich wurden – miteinander zu kooperieren, wie auch dem folgenden Protokollausschnitt vom 4. Februar 2002 zu entnehmen ist:

Kevin beobachtet Lars und Dirk, während diese an einem neuen Bild arbeiten.„Warum schreibt ihr immer Geschichten über Dinos?“, fragt Kevin, und da er keine Antwort bekommt,setzt er fort: „Ich schreibe immer über Pokemon“. Die beiden Jungen reagieren nicht, sie scheinen sehr konzentriert zu sein. Kevin zeigt jetzt auf das Bild und fragt erneut:„Wer ist das?“ „Spinos“ [Spinosaurier],erklärt ihm Dirk, „Vater, Mutter, Sohn.“ und malt zügig weiter.

(…)Für das gemeinsame Geschichtenschreiben-Lernen von Kindern mit unterschiedlichen Lernbiografien können jahrgangsübergreifende und integrative Gruppen – wie das aufgeführte Beispiel zeigt – sehr förderlich sein. In der oben beschriebenen Lerngruppe – anders als es in einer Jahrgangsklasse zumindest beim Schulanfang der Fall sein kann – existierte bereits eine interne Lese- und Schreibkultur, die hauptsächlich von Kindern (weiter-)entwickelt wurde. Verschiedene Texte wurden geschrieben, illustriert, veröffentlicht, rezipiert. Alle Schulanfänger/-innen, die dazu gekommen sind, wurden – durch die anderen Kinder (des gleichen Geschlechts) – zu Schreibenden. Jungen und Mädchen beteiligten sich also durch Kommentare, Korrekturen, Hinweise etc. am Lern- und Schreibprozess der jüngeren oder gleichaltrigen Kinder. Ihre Schreibpraktiken und Lernentwicklungen sind im Kontext dieser internen Lese und Schreibkultur zu deuten. Auch Lars wurde in den ersten Schulwochen von älteren Jungen in das Geschichtenschreiben eingeführt (vgl. dazu ausführlich Panagiotopoulou 2004).
Etwa zwei Monate später, übernahm er – wie oben beschrieben – die Rolle des Lehrenden und Mitlernenden. Und so wie Lars’ Entwicklung nicht vorrangig „individuell“, etwa aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten oder vorschulischen Fortschritte, erklärt werden kann, so ist auch Dirks Lernen unmittelbar mit Lars’ Handlungen und Deutungen verbunden. Doch zu keinem Zeitpunkt, auch nicht in der oben dargestellten Anfangsphase ihrer Zusammenarbeit, als Lars für Dirk jeden Buchstaben diktieren musste, basierte ihre Arbeitsbeziehung auf dem schlichten (oder einseitigen) „Helfen“. Nach meiner zweijährigen Beobachtung und Interpretation ihrer Handlungen und Deutungen innerhalb verschiedener Lernsituationen, an denen die beiden Jungen beteiligt waren oder die sie selbstständig gestalten konnten, lässt sich feststellen, dass ihre Kooperation auf Zusammengehörigkeit basierte.
Bereits zu Beginn des zweiten Schuljahres hatten sich Dirk und Lars, gemeinsam mit Kevin, einem Zweitklässer „mit Lernschwierigkeiten“, zu einer recht heterogenen (jahrgangsbezogenen) Teilgruppe entwickelt; gleichzeitig gehörten sie zu den guten „Geschichtenschreibern“ ihrer Schulklasse (vgl. dazu ausführlich Panagiotopoulou 2007). Dass diese Kinder – auch nach ihren eigenen Aussagen – „miteinander befreundet“ waren, kann auch als Ergebnis ihrer gemeinsamen Arbeits- und Lernprozesse gedeutet werden. Dass Kinder in jahrgangsübergreifenden Klassen „in Erarbeitungsphasen und Freundschaftsbeziehungen“ hauptsächlich jahrgangsbezogene Gruppen bilden (vgl. Hinz/Sommerfeld 2004, 181) kann ich durch meine Beobachtungen belegen. Solche jahrgangsbezogenen Entscheidungen können tatsächlich nur in jahrgangsübergreifenden Gruppen getroffen werden.
Dass die Kinder dabei nach Gleichheit, zum Beispiel nach Kindern der gleichen Jahrgangsstufe, „suchen“ (vgl. ebd.), sehe ich aber nicht als problematisch an. Dadurch erfahren sie, wie unterschiedlich auch Angehörige einer Jahrgangsstufe sein können, um sich dann bewusst, so wie Dirk und Lars und später auch Kevin, für diese Heterogenität zu entscheiden. Denn Unterschiedlichkeit führt zwar nicht zwangsläufig zur Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit, aber sie scheint eine gute Voraussetzung dafür zu sein.

Fußnoten

(1) Demnach fand Freiarbeit mit jeweils einer Teilgruppe von max. 20 Kindern unter der Betreuung einer der beiden Pädagoginnen regelmäßig, d. h. zweistündig montags bis donnerstags, statt. Die dort tätige Sonderpädagogin betreute in dieser Zeit einzelne Kinder oder kleine Gruppen.

(2) Dass eine Mitteilung nicht zwangsläufig orthografisch korrekt sein musste, haben Schulanfänger/innen dieser Gruppe oft durch die anderen Kinder erfahren, beispielsweise anhand von Äußerungen wie „das ist okay, das versteht man auch“ oder „ja, Erstklässler können ‘und’ auch mit /t/ schreiben“ etc.

Literatur

Hinz, R./ Sommerfeld, D.: Jahrgangsübergreifende Klassen. In: Christiani, R. (Hrsg.). Schuleingangsphase neu gestalten. Berlin 2004, 165–186

Panagiotopoulou, A.: Kinder lernen von Kindern – zur Einführung von SchulanfängerInnen in die interne Schriftkultur einer jahrgangsübergreifenden Lerngruppe. In: Panagiotopoulou, A./Carle, U. (Hrsg.): Sprachentwicklung und Schriftspracherwerb. Beobachtungs- und Fördermöglichkeiten in Familie, Kindergarten und Grundschule. Reihe: Entwicklungslinien der Grundschulpädagogik Bd.2. Baltmannsweiler 2004, 133–146

Panagiotopoulou, A.: Kinder lernen lesen und schreiben: mit-, von- und füreinander. In: Burk, K./de Boer, H./ Heinzel, F. (Hrsg.): Lehren und Lernen in jahrgangsgemischten und entwicklungsheterogenen Klassen. Reihe: Beiträge zur Reform der Grundschule, Frankfurt/M. 2007

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