Falldarstellung (a)
Ich beginne meine Ausführungen mit einem Ausschnitt aus dem Beobachtungsprotokoll vom 10. September, aus der 4. Schulwoche des Schuljahres 2001/02. (…) Es handelte sich um eine jahrgangsgemischte und integrative Grundschulklasse: alle vier Jahrgangstufen sowie SchülerInnen mit einem diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache, Hören und körperliche Entwicklung waren in dieser Schulklasse repräsentiert. (…) Alle Namen in den folgenden Protokollauszügen sind pseudonymisiert. Lars war zum Zeitpunkt der Beobachtung Erstklässler, Stefan und Jakob waren Zweitklässler.
Im Rahmen der Freiarbeit waren Lars und Stefan gerade dabei am Computer zu arbeiten, im Kontext der konkreten Gruppe bedeutete dies gemeinsam eine Geschichte zu schreiben:
Stefan sitzt vor dem Bildschirm, Lars neben ihm, ich sitze neben Lars.
Auf dem Bildschirm steht folgender Text:
<Lars und Stefan gen über eine Brüke
die 10.000 gelomta lang is
wir ereischen entlisch das ziel
wir kaufen ons ein eis mit 10.000
belchen und wir finten eine schas-
drue und sie ist vol schaze.
Wier kaufen>
Lars versucht mit Hilfe der kleinen Anlauttabelle, die neben dem Computer an der Wand hängt, das Geschriebene zu lesen, was ihm aber nicht gelingt.
Stefan beobachtet ihn für eine Weile und fängt dann an, den Text laut vorzulesen. Als er damit fertig ist, wiederholt er: „Wir kaufen…, wir kaufen…, wir kaufen….“ und sieht dabei Lars an. „Schreib irgendwas, weiß ich nicht“, schlägt Lars vor und lächelt, „wir schreiben eine ganz lange Geschichte!“ „Wir kaufen…“, sagt Stefan
daraufhin und sieht Lars an. „Schreib Afrika“, schlägt Lars vor, „/a – fff – riii – k – a/“.
„Wir kaufen Eintrittskarten!“, teilt ihm Stefan bestimmend mit. „Wofür denn Karten?“, fragt ihn Lars. „Für Fußball“, erklärt Stefan und beginnt zu tippen.
Während Stefan <eintres katen> schreibt, schlägt Lars vor, dass sie „Karten für Kino“ kaufen sollten. Stefan schreibt in der Tat: <kino>.
„Ich weiß“, ergänzt Lars kurz darauf, „erstmal Fußball, dann Kino! Und dann ist die Geschichte zu Ende“.
Interpretation (a)
In der hier dokumentierten Unterrichtssequenz versucht Lars zunächst zu entziffern, was auf dem Bildschirm geschrieben steht. Als er jedoch von Stefan indirekt aufgefordert wird die Geschichte fortzusetzen – das Wiederholen der letzten Phrase („wir kaufen“) wird von Lars anscheinend als Aufforderung gedeutet – signalisiert er mit seiner Antwort, die ebenfalls eine Aufforderung ist, dass dies nicht seinen Intentionen entspricht. Das Schreiben soll Stefan übernehmen: „Schreib“ hat Lars Stefan aufgefordert, konkret hieß es: „Schreib irgendwas“. Interessanterweise bringt Lars gleichzeitig seine Ansprüche bezüglich der Quantität, der Länge des – von ihm trotzdem als gemeinsamen empfundenen? – Schreibprodukts zum Ausdruck, indem er feststellt: „Wir schreiben eine ganz lange Geschichte!“
Doch Stefan gibt mit seinem Versuch, Lars in die inhaltliche Arbeit beim Weiterschreiben der Geschichte einzubeziehen, nicht nach. Auf seine weitere, noch deutlichere Aufforderung reagiert Lars schließlich mit einem inhaltlichen Vorschlag, mit dem Wort „Afrika“ und einer Schreibanweisung: er lautiert das Wort („/a – fff – riii – k – a/“), was so viel wie „so schreibt man das“ bedeuten könnte.
Lars´ Vorschlag „wir kaufen Afrika“ entspricht eventuell seinen momentanen Interessen (zu diesem Zeitpunkt hat er sich unter anderem mit Geographiebüchern auseinander gesetzt), das Lautieren des Wortes entspricht mehr oder weniger seiner momentanen Schreibentwicklung (er war gerade dabei das alphabetische Prinzip der geschriebenen Sprache zu entschlüsseln, wie aus weiteren Schreibaufgaben ersichtlich war), aber als ein inhaltlicher Beitrag zur Fortsetzung der bereits angefangenen Geschichte kann dieser Vorschlag – zumindest aus Stefans Perspektive betrachtet – nicht gelten.
Stefans Praktiken in der hier beschriebenen Situation lassen die Vermutung zu, dass er eine konkrete, eventuell didaktische Intention verfolgt. Er beobachtet Lars, der zunächst einen Leseversuch mit Hilfe der Anlauttabelle unternimmt und erst nachdem anzunehmen ist, dass dies, das Entziffern des Geschriebenen, nicht gelingt, mischt sich Stefan ein. Er interveniert, könnte man sagen, in dem er den Text laut vorliest, so dass Lars über die bisherige Handlung in der Geschichte informiert wird und sich somit an ihrer Fortsetzung beteiligen kann. So erklärt sich auch das Wiederholen der letzten Phrase, des bereits geschriebenen Satzanfangs: „wir kaufen…, wir kaufen…, wir kaufen…“ Damit wird Stefans Erwartung deutlich: Lars soll etwas diktieren. Etwas Passendes soll dies allerdings sein, wie Stefans ablehnende Reaktion gegenüber Lars´ Vorschlag („wir kaufen Afrika“) verdeutlicht.
Geschichtenschreiben heißt für die Schriftkundigen dieser Schulklasse (und so auch für Stefan) eine Dramaturgie erschaffen. Beim Geschichtenschreiben geht es also nicht einfach darum, „irgendwas“ zu schreiben, wie Lars vorgeschlagen hat. Auch in einer Fantasiegeschichte, in der die Protagonisten ein Eis mit 10.000 Eiskugeln kaufen können, macht es trotzdem keinen Sinn, einen Kontinent zu kaufen. Zugunsten der Dramaturgie und so auch der Fortsetzung der bereits begonnenen Geschichte musste Lars´ Vorschlag also abgelehnt werden. Stefans bestimmender Gegenvorschlag „wir kaufen Eintrittskarten“ verdeutlicht einerseits die Bedeutung des Inhalts und zeigt andererseits, dass Stefan schon etwas besser weiß als der Neuankömmling Lars, um wieder mit Jerome Bruner zu argumentieren, was in dieser Lerngruppe von einer Geschichte erwartet wird, er weiß jedenfalls genug, um diesbezüglich Verhandlungen mit einem Neunankömmling zu bewältigen und ihn aufzuklären:
Geschichten, die am Computer geschrieben werden, werden in der Regel von zwei – in Ausnahmefällen auch von drei – Kindern geschrieben, indem das eine Kind hauptsächlich diktiert, während das andere hauptsächlich tippt. So erklärt sich auch Stefans Umgang mit Lars´ Vorschlag [wir kaufen] „Karten für Kino“: Stefan ändert sein Vorhaben (also nicht für Fußball, sondern für Kino sollen nun Eintrittskarten gekauft werden), wodurch er Lars´ Idee integriert und somit zeigt, dass sein Ziel in der Tat darin bestand, ihn, soweit dies möglich war und obwohl er sich noch am Anfang seines Schriftspracherwerbs befand, am Geschichtenschreiben zu beteiligen. Eine anspruchsvolle Aufgabe, denn Lars konnte zu diesem Zeitpunkt erst einzelne Wörter ansatzweise wiedererkennen, oftmals hat er ein gesuchtes Wort nicht entziffern können und deswegen dessen Bedeutung nur geraten, wie im nächsten Protokoll gezeigt wird. Doch die von Lars an dieser Stelle gezogene Schlussfolgerung – wir schreiben „erstmal Fußball, dann Kino und dann ist die Geschichte zu Ende“ – zeigt, dass Stefans Ziel erreicht wurde: Lars sieht sich als Mitautor, trägt zur Dramaturgie der Geschichte bei, integriert Stefans Vorschlag („erstmal Fußball, dann Kino“) und entscheidet schließlich, dass damit die Geschichte beendet werden kann.
Falldarstellung (b)
Eine Woche später, am 17. September 2001, wollte Lars gemeinsam mit dem Zweitklässler Jakob am Computer arbeiten, der allerdings andere Ziele als Stefan verfolgte. Der folgende Protokollauszug beschreibt zunächst, wie es an diesem Vormittag dazu kam, dass die beiden Jungen Arbeitspartner wurden:
Besprechungsrunde zur Freiarbeit: Die Kinder erzählen nacheinander, was sie bearbeiten möchten und mit wem sie dies tun wollen. Jetzt ist Lars an der Reihe.
„Ich will am Computer arbeiten!“, kündigt Lars mit Begeisterung an. Die Lehrerin ist damit einverstanden. Sie fordert noch jene „Zweitklässler“ auf, „die auch am Computer arbeiten wollen“, sich zu melden, denn Lars soll entscheiden, „wer sein Partner sein wird“. Mehrere Kinder melden sich. Lars wählt Jakob aus.
„Ich will am Computer arbeiten“, erklärt Jakob unverzüglich und sieht dabei seine Lehrerin an, „aber Lars kann doch nicht lesen und auch nicht schreiben!“
Auf diese Anmerkung geht die Lehrerin nicht ein. Sie fordert Dirk, der neben Lars sitzt, auf, zu erzählen, woran er heute arbeiten möchte.
Am Computer
Jakob sitzt vor dem Bildschirm und Lars neben ihm, ich sitze neben Lars. Die Lehrerin steht hinter uns.
Jakob tippt sehr zügig ein: <es war einmal>. „Jakob du weißt schon, wir beginnen immer mit groß!“, kommentiert die Lehrerin und geht zum Tisch nebenan. Jakob löscht das Geschriebene und tippt nun ein: <DIE pokemon arena>.
„Das geht nicht, Jakob!“, beschwert sich Markus. „Das ist unsere Überschrift!“, ergänzt Sam. Die beiden Jungen arbeiten am Computer neben an. „Na und?“, erwidert Jakob, ohne sich zu ihnen zu drehen. Er tippt schnell ein:
<ash und Rocko und misty waren auf den weg
zur pokemon liga als da angekomen
waren öfneten die wachen die tür und ash>
Während Jakob schreibt, schaut Lars abwechselnd auf den Bildschirm und die Anlauttabelle an der Wand. Er versucht anscheinend Jakobs Geschichte zu entziffern. Zwischendurch fragt er noch sehr leise: „Was steht jetzt da?“, aber Jakob geht auf seine Frage nicht ein, sondern tippt weiter.
Interpretation (b)
Wie bereits erwähnt, „am Computer arbeiten“ – so lautet Lars’ Wunsch – bedeutete im Kontext dieser Lernkultur: „eine Geschichte schreiben“. Dies bestätigt auch Jakobs Bemerkung, der ganz genau weiß, was er will bzw. nicht will: Er will zwar ebenfalls am Computer arbeiten, aber doch nicht mit jemandem, wie Lars, der nicht lesen und schreiben kann. Jakob meldete sich also als die Lehrerin „die Zweitklässler“ entsprechend aufforderte und wurde auch von Lars als Partner ausgewählt, nutzte aber wahrscheinlich diese Angelegenheit, um seiner Lehrerin zu signalisieren, dass es hier ein Problem gab: Arbeitspartner beim Geschichtenschreiben sollten seiner Meinung nach lesen und schreiben können, aber dies trifft bei Lars nicht zu, wie die Lehrerin bereits weiß.
Jakob erkennt also, dass hier ein Unterschied bezüglich der Schriftsprachentwicklung der potentiellen Arbeitspartner vorliegt und deutet an, dass diese (Art von) Heterogenität für die konkrete Aufgabe ungünstig sei. Sein Anliegen wird von der Lehrerin nicht wahr- oder ernst genommen. Daraufhin sorgt Jakob in der folgenden Arbeitssituation dafür, dass das von ihm angedeutete Problem deutlich wird, genauer gesagt: dass dieser Unterschied zu einem (gemeinsamen) Problem wird (siehe den u.a. Kasten).
Jakob versucht wahrscheinlich an dieser Stelle die didaktische Intention seiner Lehrerin – ihn in diese Lernsituation zu involvieren bzw. ihm die Rolle des Lehrenden zu geben – indirekt in Frage zu stellen. Er versucht das Unterrichtsgeschehen zu beeinflussen, um seine Interessen durchzusetzen. Anders als Stefan (siehe das Protokoll vom 10. September) und anders als die Lehrerin von ihm erwartet, scheint hier Jakob kein Interesse daran zu haben, sowohl auf Lars’ momentane Schreibentwicklung als auch auf seine inhaltlichen Interessen einzugehen. Anders als Stefan schreibt Jakob einfach seine Geschichte, ohne dabei (s)einen noch nicht schriftkundigen Partner in die (interne) Welt der Schriftlichkeit einführen zu wollen (oder zu können?).
(…) Lars wiederum bemüht sich, unter diesen widrigen Umständen, an der Arbeitsituation teilzunehmen. Er versucht das von Jakob Geschriebene zu lesen, ohne dabei seinen schriftkundigen Partner stören zu wollen (und/oder ohne dabei auffallen zu wollen?), deswegen fragt er auch sehr leise, was auf dem Bildschirm geschrieben stehe.
Und dennoch: Jakobs Haltung gegenüber Lars macht Lars’ Lernen schwierig, aber nicht unmöglich. Aufgrund Jakobs Haltung wird Lars mit einer wichtigen Gegebenheit konfrontiert: in dieser – wie auch in jeder anderen – Schriftkultur, werden oftmals Menschen, die nicht selbstständig daran teilhaben können (so genannte Analphabeten), nicht als gleichberechtigte Mitglieder angesehen oder behandelt. Und so bemüht sich Lars das auf dem Bildschirm Stehende zu entziffern, während er gleichzeitig sein Interesse an Jakobs Geschichte signalisiert, er möchte ihren Inhalt erfahren. Doch auch wenn Lars sich dabei relevantes, schriftspezifisches Wissen aneignet, wenn er es sogar schafft, ein Wort zu entziffern bzw. richtig zu raten, wie in der folgenden Sequenz beschrieben wird, kann die hier analysierte Interaktion als Lernen unter erschwerten Bedingungen gedeutet werden.
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