Hinweis – diese Falldarstellung ist Teil des Lehrtextes zur Dokumentarischen Methode und kann gemeinsam mit dem Fall „Die Gruppe Apfel“ gelesen werden.
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Der konjunktive Erfahrungsraum Schule (1)
Fall 1: Die Gruppe Mango (2)
Der folgende Ausschnitt stammt aus der Eingangssequenz einer Gruppendiskussion mit vier Gymnasialschülerinnen, die freiwillig, außerhalb der Unterrichtszeit in dem Weltladen, der als Schülerfirma betrieben wird, mitarbeiten. Die vier jungen Frauen sind 18 oder 19 Jahre alt und zum Zeitpunkt der Gruppendiskussion im 13. Jahrgang. Die Schülerfirma, der Weltladen, der über ein Ladengeschäft in der Fußgängerzone verfügt und regelmäßige Verkaufsaktionen in der Schule durchführt, wird von einer Gruppe freiwilliger Gymnasialschüler und -schülerinnen in Zusammenarbeit mit mehreren Lehrern und Lehrerinnen geleitet und organisiert.
Diskursbeschreibung (3)
Die dokumentarische Interpretation (Bohnsack 2006) geht davon aus, dass in einer Sequenz wie dieser, die wegen ihrer interaktiven Dichte, wegen der regen Beteiligung der Gruppenmitglieder und der erfahrungsbasierten Schilderung als ‚Fokussierungsmetapher‘ (Bohnsack 2006, 136ff) bezeichnet wird, die Rahmenorientierung einer Gruppe besonders deutlich wird. Im Fall der Gruppe Mango I sind dies die Zugehörigkeit zur Gruppe der Managerinnen der Schülerfirma und das Selbstbild der Macherinnen.
Die Identität der Gruppe wird als „Vierergruppe“ bezeichnet. Es dokumentiert sich eine hohe Identifikation und Zugehörigkeit. Gleich zu Beginn der Gruppendiskussion wird der Rahmen abgesteckt, wer zu der Gruppe zugehörig ist, Exklusion und Inklusion geklärt. Die Gruppe definiert sich als Gruppe über ihre Tätigkeiten: Die Gruppe war zuständig für die verantwortungsvollen Aufgaben aus dem Kerngeschäft des Weltladens. Diese Praxis ist für das Selbstverständnis der Gruppe Mango I von zentraler Bedeutung. In Abgrenzung von anderen, die weniger wichtige Dinge gemacht haben (weder die „Leute“ noch ihre Aufgaben im Weltladen müssen näher spezifiziert werden), erhält die „Vierergruppe“ das Merkmal der Wichtigkeit und Exklusivität. Die Jugendlichen verdeutlichen mit zahlreichen Beispielen verantwortungsvoller Aufgaben (Sortimentsauswahl, Einkauf, die Verfügungsgewalt über Geld und Konten sowie dem Umgang mit den Kunden bei schwierigen Fällen) ihre Verantwortung, Expertise und Kompetenz. Mit der Betonung dessen, für was die Gruppe nicht zuständig ist (Verkauf) wird das Selbstbild der kompetenten Managerinnen bekräftigt: Mit den einfachen Tätigkeiten (Verkauf) gibt sich die Gruppe nicht ab.
Lehrer haben mit der Buchführung zwar ebenfalls eine wichtige Kernaufgabe übernommen, allerdings nur partiell, sie werden von der Gruppe an der Peripherie angesiedelt wie andere Jugendliche. Lediglich die Lehrer werden als akzeptierte Mitarbeiter für bestimmte Aufgaben beschrieben. Mit Professionellen (Lieferanten) agieren sie in ihrer Darstellung als gleichberechtigte Partner. Auch die Beschreibung der Lehrer als Vermittler zwischen zwei Gruppen von Jugendlichen, die sich in demselben Projekt engagieren, dokumentiert: Erwachsene stehen der Gruppe näher als andere Jugendliche.
Das Selbstverständnis der Gruppe speist sich aus der Qualität der Tätigkeit in der Schülerfirma und in der Zugehörigkeit zu einer exklusiven Gruppe in Abgrenzung von anderen Jugendlichen. Die Gruppe konstruiert für sich selbst eine herausragende Stellung, diese besteht in der Zuständigkeit für verantwortungsvolle, übergeordnete, mit Anerkennung verbundene Aufgaben, und in der Selbstwahrnehmung als Expertinnen und Macherinnen. Ihr Selbstbild ist eng verknüpft mit praktischer Tätigkeit in der Form von Organisieren, Gestalten, Managen. Diese Tätigkeiten sind für die Jugendlichen selbstverständliche habitualisierte Praxis und von großer Bedeutung für das Selbstverständnis der Gruppe.
Die Handlungspraxis der jungen Frauen der Gruppe Mango I kann im Anschluss an BOHNSACK u.a. als jugendlicher Aktionismus bezeichnet werden: Wichtig ist für die Jugendlichen die gemeinsame Praxis mit anderen Jugendlichen, während die inhaltlichen Ziele und Zwecke der Aktivität von nach geordneter Bedeutung sind. BOHNSACK u.a. folgend ist der jugendliche Aktionismus situativ und ergebnisoffen, seine Funktion ist die Herstellung von Gemeinsamkeit im Peermilieu (vgl. BOHNSACK u.a. 1995; SCHÄFFER 1996; BOHNSACK 2004).
Fallvergleich(4)
Im Fallvergleich mit den anderen Gruppen von Schülern und Schülerinnen (z.B. Gruppe Apfel) fällt auf, dass die Mitglieder der Gruppe Mango I nicht die bei den anderen Gruppen von Schülern und Schülerinnen beobachtete Distanz zur Schule formulieren. Im Diskurs der Gruppe Mango I wird vielmehr die Schülerfirma, die Teil der Schule ist, als konjunktiver Erfahrungsraum erkennbar. Die Lehrer und Lehrerinnen erscheinen im Rahmen dessen als Partner und kompetente Mitarbeiterinnen (s.o.). Ein Merkmal der Beschreibung des schulischen Milieus durch die Gruppe Mango I ist der Umstand, dass der Weltladen von den Jugendlichen im weiteren Verlauf der Gruppendiskussion explizit als ein Teil der Schule dargestellt wird. Die Weltladenarbeit bedeutet in der Orientierung der Gruppe Mango I also nicht nur Spaß mit der Peergroup, sondern sie dient dem Lernen im schulischen Kontext.
Die Handlungspraxis in der Schülerfirma ermöglicht den Jugendlichen Peerkontakte innerhalb der Schule, sie macht Spaß und ist mit einer positiven Beziehung zur Schule bzw. zu den Lehrern und Lehrerinnen verknüpft, die nicht in einem hierarchischen Verhältnis sondern als Partner wahrgenommen werden. NENTWIG-GESEMANN, STREBLOW und BOHNSACK weisen darauf hin, dass die Schülerfirma das Potenzial beinhaltet, die Peerinteraktionen in der Schule, die z.B. mit dem Interesse an Spaß verknüpft sind, mit den Erwartungen an die Schülerrolle im Rahmen institutionalisierten schulischen Lernens konstruktiv miteinander zu verbinden, während sie üblicherweise häufig im Konflikt miteinander stehen (2005, S. 88f). Auch das Fallbeispiel der Gruppe Mango I zeigt, dass die Schülerfirma die Potenziale des informellen Lernens im Peermilieu, welches auch in der außerschulischen Jugendarbeit anzutreffen ist, und des intentionalen und systematischen Lernens im schulischen Unterricht auf produktive Art und Weise miteinander vereint.
Fußnoten
(1) Der Begriff des konjunktiven Erfahrungsraums geht auf die Wissenssoziologie Karl Mannheims zurück und wurde von Ralf Bohnsack in die erziehungswissenschaftliche qualitativ-empirische Forschung eingeführt (Bohnsack 2006, S. 59ff). Grundlegend ist dabei die Annahme, dass habitualisiertes Wissen in sozialen Zusammenhängen angeeignet wird, die sich durch geteilte Erfahrungen auszeichnen (ebd.). Konjunktive Erfahrungen sind häufig auch in einer gemeinsamen Handlungspraxis von Menschen begründet. So teilen beispielsweise auch Schüler/innen einer Schulklasse oder einer Schule fundamentale Erfahrungen, die die Konstruktion von Wissen und Orientierung bestimmen.
(2) aus: Asbrand, B.: Orientierungen in der Weltgesellschaft. Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zur Konstruktion von Wissen und Handlungsorientierung von Jugendlichen in schulischen Lernarrangements und in der außerschulischen Jugendarbeit. Habilitationsschrift Universität Erlangen-Nürnberg 2006, S. 107ff.
(3) Die Diskurs- oder Fallbeschreibung stellt entsprechend der dokumentarischen Methode die zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse der beiden Interpretationsschritte formulierende und reflektierende Interpretation dar (Bohnsack 2006, S. 139ff).
(4) Im Prozess der dokumentarischen Interpretation spielt die komparative Analyse eine zentrale Rolle. Denn das Besondere des Einzelfalls wird nur innerhalb des systematischen Fallvergleichs empirischer Vergleichshorizonte deutlich. Dabei zielt die dokumentarische Methode auf Erkenntnisse, die vom Einzelfall abstrahieren und darüber hinaus von Bedeutung sind (Bohnsack 2006, S. 135ff). Die komparative Analyse in ihrer Mehrdimensionalität kann im Rahmen dieses Fallbeispiels nicht abgebildet werden.
Literatur
Asbrand, Barbara: Orientierungen in der Weltgesellschaft. Eine qualitativ rekonstruktive Studie zur Konstruktion von Wissen und Handlungsorientierung von Jugendlichen in schulischen Lernarrangements und in der außerschulischen Jugendarbeit. Habilitationsschrift Universität Erlangen-Nürnberg 2006.
Bohnsack, Ralf: Rituale des Aktionismus bei Jugendlichen. Kommunikative und konjunktive, habitualisierte und experimentelle Rituale. In: Wulf, Christoph/ Zirfas, Jörg (Hrsg.): Innovation und Ritual. Jugend, Geschlecht und Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 7. Jg., Beiheft 2/2004. Opladen 2004, S. 79 90.
Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 6. Aufl. Opladen 2006.
Bohnsack, Ralf/ Loos, Peter/ Schäffer, Burkhard/ Staedtler, Klaus/ Wild, Bodo: Die Suche nach Gemeinsamkeit und die Gewalt der Gruppe. Hooligans, Musikgruppen und andere Jugendcliquen im Vergleich. Opladen 1995.
Nentwig-Gesemann, Iris/Streblow, Claudia/ Bohnsack, Ralf: Schlüssel erlebnisse und Lernprozesse Jugendlicher in zukunftsqualifizierender Projektarbeit. Eine programmübergreifende Analyse. In: Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (Hrsg.): Jung. Talentiert. Chancenreich? Beschäftigungsfähigkeit von Jugendlichen fördern. Opladen 2005, S. 47 – 90.
Schäffer, Burkhard: Die Band. Stil und ästhetische Praxis im Jugendalter. Opladen 1996.
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