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Falldarstellung

Die Existenz eines Curriculums für fünfjährige Kinder erklärt sich (…) damit, dass Fünfjährige in England bereits schulpflichtig sind. Mit dem im europäischen Vergleich sehr frühen Beginn der Schulpflicht ist jedoch keine Vorverlegung schulischen Lernens intendiert, sondern soll der allmähliche, von spielerischem Lernen geprägte Übergang von vorschulischen zu schulischen Lernen angebahnt werden. Dazu werden die Kinder nach ihrem vierten Geburtstag in die sogenannte ´Reception Class´ eingeschult, deren Konzeption von der Londoner Grundschule, in der ich meine Feldforschung durchführe, wie folgt beschrieben wird: „Reception classes provide a good foundation for the structure of your child´s future education. The children follow an early years curriculum to learn basic skills as well as developing confidence and motivation to learn, where an emphasis is learning through play“.

(…)

„I made different“

Die folgende Szene beschreibt, wie Kilia die Aufgabe erfüllt, einen speech-bubble zu schreiben. Ein speech-bubble ist eine Sprechblase, die in der Reception Class, die Kilia besucht, auch in anderen Situationen dazu verwendet wird, dass die Kinder ihr Spielen und Lernen kommentieren. Kilias Kommentar gilt seinem zuvor gebastelten Flugzeug, das, wie die Flugzeuge der anderen Kinder auch, von seiner Lehrerin Doreen im Klassenzimmer aufgehängt wird.

…Als Doreen Kilia zuruft: „Now we put up yours, Kilia“, läuft Kilia mit seinem Fluzeug zu Doreen. „Where are the windows?“, fragt Doreen. „There“, antwortet Kilia und deutet auf einige der auf dem Flugzeugkörper aufgeklebten Rechtecke. „And where is the door?“ „There!“. „All right“. „Have you been on an aeroplane?“, fragt Doreen Kilia, was Kilia mit einem „Yes“ beantwortet. „Where did you go to?“, fragt Doreen weiter. „To Bangladesh“, antwortet Kilia. Während der Unterhaltung hat Doreen das Flugzeug aufgehängt, und weist Kilia nun darauf hin: „Here it goes flying“. Mit einem „Year“ äußert Kilia seine Freude über das aufgehängte Flugzeug. „Yes, it really is flying“, bestätigt Doreen noch einmal. „You need to be careful“, fordert Kilia Doreen auf, die versucht, das Flugzeug so auszutarrieren, dass es gerade hängt. „Yes I do!“, antwortet ihm Doreen.
Kilia geht zu seiner Wasserflasche, trinkt einen Schluck, und lässt Doreen, als er zurück kommt, wissen, „I´ve been eating water“. Ohne darauf einzugehen, fordert Doreen Kilia auf: „Can you make a speech bubble about your airplane?“ „I don´t know“, antwortet Kilia. „How did you make it? Where is it flying?, gibt Doreen Kilia als mögliche Leitfragen für den speech-bubble vor. Kilia nimmt sich daraufhin einen speech-bubble, schreibt darauf innerhalb kürzester Zeit HFFELhAi. Da ich unmittelbar neben Kilia sitze, kann ich sehen, dass er sich dabei kein Wort vorspricht. „I done it!“, ruft Kilia Doreen zu, wirft einen Blick in das Buch, in das ich meine Feldnotizen schreibe, deutet auf den letzten Buchstaben und stellt fest: „That´s an ´i´, und geht zu Doreen, um ihr den speech-bubble zu geben. Da Doreen noch mit dem Aufhängen von Flugzeugen beschäftigt ist, beginnt Kilia sich auf Bengoli mit Omar zu unterhalten. Da die beiden dabei vor dem Fenster stehen, vor dem Doreen die Flugzeuge aufhängt, ist es wahrscheinlich, dass sie sich über diese unterhalten. „Where is Kilia? Where is your speech-bubble?“ „Here“, ruft Kilia, unterhält sich aber weiterhin mit Omar. „Can you read it to me?“ fordert Doreen Kilia auf, und als Kilia nicht reagiert, wiederholt sie ihre Aufforderung: „Kilia, can you read it to me!“ Kilia wendet sich Doreen zu, schaut auf seinen speech-bubble, und antwortet: „Different“, woraufhin folgendes Gespräch entsteht:
„What´s different?“
„I made different!“
„A different what?“
„I don´t know!“
„Aeroplane“.
„Aeroplane.“
„That´s a lovely sentence. `I made an aeroplane.` I´ll put your writing on your aeroplane“.

Eine der Fragen, die mir für das Verstehen der Perspektive von Kilia zentral erscheint, ist die Frage nach der Bedeutung der Aussage „ different“, die Kilia trifft, nachdem seine Lehrerin Doreen ihn wiederholt aufgefordert hat, sie wissen zu lassen, was auf dem speech-bubble steht, den Kilia kurz zuvor geschrieben hat.

In dem Curriculum Guidance for the Foundation Stage sind nicht nur die Erfahrungen, die die Kinder in den sechs Erfahrungsbereichen machen sollen, beschrieben, sondern finden sich unter der Überschrift „What practitioners need to do“ auch differenzierte Hinweise, wie diese Erfahrungen von den Lehrerinnen und Erzieherinnen angebahnt und unterstützt werden können. Die für die Unterstützung der Auseinandersetzung der Kinder mit Schriftsprache beschriebene Handlungsanleitung „To encourage children to re-read their writing as they write“, beschreibt sehr adäquat die Handlungsperspektive von Doreen, als sie Kilia auffordert: „Can you read it to me!“. Aus ihrer Sicht fordert Doreen Kilia mit ihrer Frage nicht nur dazu heraus, sich den Sinn des Geschriebenen zu vergegenwärtigen und ihn zu kommunizieren, sondern fördert dabei gleichzeitig sein grundsätzliches Verständnis dafür, dass Schrift bedeutungstragend ist. Ein wichtiger Unterschied zu der im Bildungsplan beschriebenen Handlungsanleitung besteht jedoch darin, dass Doreen Kilia nicht während des Schreibens nach der Aussage des speech-bubbles fragt, sondern danach. Denn dass sich Kilia nach dem Schreiben seines speech-bubbles mit Abdal unterhalten hat, legt die Vermutung nahe, dass der Inhalt des Gesprächs mit Abdal für Kilia präsenter gewesen ist als der Inhalt des von ihm Geschriebenen.

Eine mögliche Antwort auf meine Frage habe ich erst gefunden, als ich bei meinem nächsten Feldaufenthalt alle ausgestellten Flugzeuge an einem der Fenster des Klassenzimmers habe hängen sehen und dabei darauf aufmerksam geworden bin, dass Kilias Flugzeug tatsächlich „different“ von allen anderen Flugzeugen ist. Denn Kilia hat für den Flugzeugkörper die Schachtel einer Zahncreme verwendet, während alle anderen Kinder Plastikschalen benutzt haben, die sich sowohl im Material wie auch in ihrem Umfang deutlich von Kilias Flugzeugkörper unterscheiden (JPG 402). Bereits während Kilia sein Flugzeug gebaut hat, hat Doreen mit der Feststellung „This one is gonna be a long plane“ die im Vergleich zu den anderen auf dem Tisch ausgelegten Schachteln ungewöhnliche Form des von Kilia benutzten Flugzeugkörpers bemerkt. Die in der analytischen Rekonstruktion der Szene möglich werdende Interpretation, dass Kilia mit seiner Antwort „different“ genau diese Differenz meinen könnte, ist jedoch für Doreen in der Situation selbst nur schwer nachvollziehbar. Ihre Rückfragen an Kilia „What is different?“ sowie „A different what?“, lassen sich somit als Versuch von Doreen deuten, Kilias Antwort zu verstehen. Als Kilia auf die zweite Rückfrage „A different what?“ antwortet „I don´t know“, deutet Doreen dies als Schwierigkeit von Kilia, dessen Muttersprache nicht Englisch ist, das von ihm gesuchte Wort zu finden. Gleichzeitig lässt sich das Kilia von Doreen angebotene Wort ´aeroplane´ als Versuch von Doreen verstehen, eine Brücke zum Thema ´Flugzeug´ zu schlagen. Als Doreen jedoch, nachdem Kilia das ihm angebotene Wort ´aeroplane´ wiederholt hat, die von Kilia auf dem speech-bubble geschriebenen Buchstaben in die Aussage übersetzt: `I made an aeroplane´, bringt der Satz das, was Kilia über sein Flugzeug sagen möchte, in keiner Weise zum Ausdruck.

Interpretation

Betrachtet man die Szene aus Kilias Perspektive, bedeutet die wiederholte Aufforderung seiner Lehrerin, ihm das Geschriebene vorzulesen, zunächst eine Unterbrechung des Gespräches, das er mit Abdal geführt hat. Dabei macht Kilia zum einen die Erfahrung, dass die Kommunikation mit der Lehrerin vorrangig vor dem Gespräch mit anderen Kindern ist. Zum zweiten macht Kilia die Erfahrung, dass das von ihm Geschriebene nicht aus sich heraus verständlich ist, sondern seiner ´Übersetzung´ bedarf. Insofern ist es nicht ausgeschlossen, dass Kilia das Schreiben als einen Umweg erfährt, da es ihm nicht erspart, die Bedeutung des Geschriebenen noch einmal mündlich zu kommunizieren. Dass die Frage nach dem Sinn des Geschriebenen dabei in letzter Konsequenz von der Lehrerin beantwortet wird, könnte es aus der Sicht von Kilia um ein Weiteres fragwürdig machen, inwieweit Schreiben mit persönlicher Sinngebung verbunden ist.

Eine zweite für das Verstehen von Kilias Perspektive zentrale Frage scheint mir die Frage nach der Bedeutung, die Kilia den Buchstaben HFFELhAi zugedenkt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Kilia zwar ohne jeglichen Bezug zur Lautung schreibt [1], gleichwohl dem Geschriebenen tatsächlich die Bedeutung zugedenkt, die er später seiner Lehrerin mitteilt.

Bereits während ich Kilia beobachtet habe, kam mir jedoch eine andere Interpretation in den Sinn: Panagiotopoulou hat im Rahmen ihres Forschungsprojekts zu „Lernbiografien von Schulanfängern im schriftkulturellen Kontext“ eine Szene beobachtet, in der der Schüler Daniel dem in der Klasse neuen Schüler Tobias für das Schreiben der Wochenendgeschichte den Ratschlag gibt: „Schreib alle Buchstaben, die du kennst, das ist am besten“ (Panagiotopoulou 2003, S.53). Die in der Beobachtungssituation von mir entwickelte Deutung, dass es auch Kilias Handlungsperspektive sein könnte, einfach irgendwelche Buchstaben zu schreiben, um damit, wie dies auch Panagiotopoulou als Handlungsperspektive für die von ihr beobachteten SchülerInnen erklärt (dies., S.57), der Erwartungshaltung der Lehrerin entgegen zu kommen, dass man etwas schreibt, erschien mir bei meiner analytischen Rekonstruktion der Szene auf der Basis folgender Überlegungen plausibel:

  • Im Wissen darum, dass Kilia im unmittelbar zuvor stattfindenden Gespräch mit seiner Lehrerin nicht weiß, was er auf seinen speech-bubble schreiben soll, erfüllt er den Arbeitsauftrag sehr schnell.
  • Als Kilia bei einem Blick auf meine Feldnotizen erkennt, dass ich mir die auf seinem speech-bubble stehenden Buchstaben notiert habe, lässt mich aber wissen, dass er den Lautwert eines der von ihm geschriebenen Buchstaben kennt, spricht mit mir aber mit keinem Wort über die Bedeutung des Geschriebenen.
  • Als Kilia seiner Lehrerin, unmittelbar nachdem er die Buchstaben aufgeschrieben hat, zuruft „I done it“, klingt darin an, dass er darum bemüht ist, die Erwartungshaltung seiner Lehrerin zu erfüllen.

Kurz bevor Doreen Kilia auffordert „Can you make a speech-bubble about your aeroplane?“ hat sie Kilias Flugzeug an einer quer über das Fenster gespannten Leine aufgehängt. In der von Kilia mit den Ausruf „Year!“ geäußerten Freude wie auch seiner Aufforderung an Doreen „You need to be careful“, kommt deutlich Kilias Werkstolz über sein Flugzeug sowie dessen Ausstellung zum Ausdruck, den Doreen mit ihrem Hinweis „Here it goes flying“ sowie ihrer Versicherung „Yes I do“ unterstützt und teilt. Als Doreen Kilia kurz darauf auffordert, „Can you make a speech-bubble“, signalisiert sie Kilia jedoch, dass sein Werk noch nicht fertig ist, sondern noch einer schriftlichen Erläuterung bedarf.

In den „Guidelines for the Foundation Stage“ wird jeder der sechs Erfahrungsbereiche mit grundsätzlichen Überlegungen zu dessen Gestaltung eingeleitet. Für den Erfahrungsbereich Communication, Language and Literacy lautet eine der Richtlinien: „Practitioners should give particular attention to incorporating communication, language and literacy in planned activities in each area of learning“ (QCA 2000, p.44). Vor dem Hintergrund dieser Richtlinie lässt sich die Aufforderung von Doreen, Kilia solle einen speech-bubble für sein Flugzeug schreiben, als Versuch verstehen, die Aufgabe, ein Flugzeug zu konstruieren mit einem Schreibauftrag zu verbinden. Die Schreibaufgabe erscheint dabei aus der Sicht von Doreen insofern als plausibel, als das Flugzeug ausgestellt wird und somit – wie ein Bild im Museum – eines Kommentares bedarf.

Die Erfahrungen, die Kilia in dieser Situation macht, ist zum einen, dass sein Flugzeug als Werk nicht mehr für sich steht, sondern einer Erklärung bedarf. Einen plausiblen Schreibgrund würde diese Erklärung für Kilia aber nur darstellen, wenn zum einen er selbst diesen Erklärungsbedarf sehen und zum zweiten davon ausgehen könnte, dass sein Kommentar von den anderen Kindern gelesen werden kann. Da jedoch keine dieser Voraussetzungen gegeben ist, ist es wahrscheinlich, dass Kilia zwar der Aufforderung seiner Lehrerin nachkommt zu schreiben, dabei jedoch wenig Gelegenheit hat, einen persönlichen Sinn im Schreiben zu entdecken.

(…) Bei der Analyse der Perspektive und Erfahrungen von Kilia beim Schreiben des speech-bubbles über sein Flugzeug wird offensichtlich, dass der in den Curriculum Guidelines beschriebene Anspruch der „incorporation of communication, language and literacy in planned activities in each area of learning“ nicht ohne Weiteres zur Integration der Schriftsprache in das Relevanzsystem eines Kindes führt. Bezüglich der von seiner Lehrerin gewählten Realisierungsform der speech-bubbles würde Kilia sehr wahrscheinlich zu bedenken geben, dass der Anspruch der schriftlichen Kommentierung der Erfahrung der persönlichen Bedeutsamkeit von Schriftsprache insofern auch entgegenstehen kann, als er zum einen Werkstolz mindern und – sofern er keine plausiblen Gründe für das Schreiben enthält – die Schreibmotivation auf die Erfüllung der Erwartungshaltung der Lehrerin reduzieren kann.

Fußnoten:

1) Valtin (1993, S.71) bezeichnet dies in ihrem Stufenmodell der Schreibentwicklung als ´Phase des Malens willkürlicher Buchstabenfolgen`

Literatur:

Panagiotopoulou, Argyro (2003). Beobachtungen im Anfangsunterricht: Zum Nichteinlassen von SchulanfängerInnen auf das „freie“ bzw. selbständige Schreiben. In: Brinkmann, E./ Kruse, N./ Osburg. C. (Hg.). Kinder schreiben und lesen. Freiburg im Breisgau, S.47-62.

Valtin, Renate (1993). Stufen des Lesen- und Schreibenlernens. In: Haarmann, D. (Hg.). Handbuch Grundschule Band 2. Weinheim und Basel, S.68-80.

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