Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Begegnungen auf der Seins-Ebene

16.01.03
Vor der dritten Stunde erzählte mir Herr Merkel, daß zwei dieser drei Jungen, die den Unterricht stören, immer die „Kumpelebene“ zu ihm suchten. Die Mutter von Peter sagte Herrn Merkel, daß Peter Zuhause nie vom Fach Geschichte redete, sondern nur von Herrn Merkel als Person. „Das ist ganz komisch bei ihm.“

Peter sucht die „Kumpelebene“ zu Herrn Merkel, d.h. es ist nicht die Lehrerrolle Herrn Merkels, die ihn anspricht, sondern dessen Person; alles was neben bzw. hinter der Lehrerrolle steht. Aus diesem Grund erzählt Peter seiner Mutter nicht vom Fach Geschichte, das Herr Merkel in seiner Lehrerrolle unterrichtet, sondern ausschließlich „von Herrn Merkel als Person“. Dass Herr Merkel dieses Verhalten Peters „komisch“ findet, zeigt wie ungewöhnlich Kontakte zwischen LehrerInnen und SchülerInnen auf der Seins-Ebene sind. Sie stellen eine Ausnahme im schulischen Alltag dar. Bereits die Bezeichnung „Kumpel-Ebene“ wertet das Verhalten des Schülers ab. Es lässt die Annäherung des Schülers als Versuch erscheinen, den Lehrer dazu zu bringen, sich mit Peter „gemein“ zu machen und erscheint Herrn Merkel als Anmaßung. Dem Verhalten der beiden Schüler kann natürlich auch der Versuch zugrunde liegen, an der Machtposition Herrn Merkels, Anteil zu haben.

28.01.03
Auf dem Weg zum Schwimmbad erzählte mir Herr Hofstätter, daß er mal mit einer Klasse einen Habicht per Zufall gerettet habe. Weil damals ein so schöner Wintertag war, sei er mit einer Klasse spazieren gegangen, habe eine Eisbahn gebaut und unter einem Holzstapel hätten sie den verletzten Habicht gefunden, den Herr Hofstätter dann in eine Greifenwarte gebracht habe. „Die Stunde ist der Klasse und mir noch heute in Erinnerung. Das bringt manchmal mehr als alles andere, aber das kann man auch nicht mit jeder Klasse machen.“

Der Tag, den Herr Hofstätter mir beschreibt, ist ihm und der Klasse noch heute in Erinnerung, weil auch er eine Ausnahme in der Praxis der Schule darstellt. Die bereits beschriebene Omnipräsenz der Produktivitätsforderung beschränkt das Lehrer-Schüler-Verhältnis in der Regel auf die jeweiligen Rollenspiele der Beteiligten, so dass eine Stunde im Freien, in der Lehrer und SchülerInnen gemeinsam eine Eisbahn bauen und zusammen Zeit erleben als Begegnung auf der Seins-Ebene bedeutungsvoll und eine Besonderheit ist. Dass Herr Hofstätter mir davon erzählt, zeigt, dass er um diese Bedeutsamkeit weiß. Das Erlebnis mit dem Habicht bleibt in der Erinnerung als Symbol der Verbundenheit zwischen dem Lehrer und seiner Klasse und Herrn Hofstätters Bemerkung, dass man das „auch nicht mit jeder Klasse machen kann“ verweist auf die gegenseitige Sympathie, die hier zwischen Lehrer und Klasse besteht. Wie wichtig Begegnungen auf der Seins-Ebene in Bezug auf den Bildungsprozess auch nach Meinung Herrn Hofstätters sind, kommt in seiner Aussage zum Ausdruck: „Das bringt manchmal mehr als alles andere“.

07.02.03
Auf dem Weg zur achten Klasse kam uns ein Mädchen entgegen und sagte: „Herr Hofstätter, der Sanne ist irgendwie schlecht und die heult rum und so.“ Herr Hofstätter ging ohne zu zögern auf die Mädchentoilette, wo Sanne sich befand und fragte: „Sanne, was ist los?“ Nach einer kurzen Unterredung mit Sanne, tröstenden Worten und Zuspruch, hatte sie sich beruhigt, zu weinen aufgehört und ging zusammen mit Herrn Hofstätter, mir und drei anderen Mädchen aus der Klasse ins Klassenzimmer zum Mathematikunterricht.

Das Mädchen zögert nicht Herrn Hofstätter um Hilfe zu bitten, obwohl er als Lehrer im Sinne von Macht, Solidarität und Dualismus auf der „anderen“ Seite steht. Sie spricht ihn in diesem Fall auch nicht in seiner Rolle als Lehrer an, sondern sucht seine Hilfe als Mensch.

06.12.02
Jan war während der Mathestunde auf die Toilette gegangen. Als er zurück kam sagte er, daß da ein Junge auf dem Klo sei, der sich das Leben nehmen will – mit einem Messer. „Ohne Scheiß!“ Herr Hofstätter eilte daraufhin auf die Jungentoilette. Später erzählte er mir, daß es sich um einen Jungen aus der Hauptschule handelte und daß er ihn überzeugen konnte von seinem Vorhaben abzulassen.

Herr Hofstätter eilt ohne Zögern auf die Jungentoilette. Dass er hilft, zählt zu seinen Aufgaben als Lehrer, schließlich gilt es, SchülerInnen auch zu beaufsichtigen und sich um ihr Wohl zu kümmern. Er handelt also durchaus in seiner Lehrer-Rolle, aber die Art dieses Handelns liegt in seiner Persönlichkeit begründet. Die Situation ist nicht alltäglich und liegt fern vom normalen Lehr- bzw. Lernprozeß, so dass Herr Hofstätter auf keine vorgefertigten Handlungsschemata zurückgreifen kann. Rollenförmiges Handeln ist hier nur bedingt möglich und muss notwendig um Dimensionen des Seins erweitert werden. Natürlich sind diese auf Böhnisch zurückgehenden begrifflichen Kategorien Hilfsmittel um komplexe Zusammenhänge analytisch besser fassen und verstehen zu können. Innerhalb der sozialen Realität wird es allerdings immer wieder zu Überlappungen dieser Kategorien kommen und eine exakte Zuordnung jeder Handlungssequenz wird nicht in jedem Falle möglich sein. Wo das rollenförmige Handeln daher genau beginnt bzw. endet lässt sich nicht bestimmen, aber es ist offensichtlich, dass der suizidgefährdete Junge und Herr Hofstätter sich auf einer Seins-Ebene begegnen – die vom Handlungsrepertoire der jeweiligen Rolle nicht alleine ausreichend definiert werden kann.

20.09.02 dritte Stunde, neue Aula
I: Gut. Und was erwartest Du von Lehrern?
Fabienne: Daß sie … ähm mehr so wie der Herr Pilari sinn, also ma lernt was unn die sinn auch mehr so kumpelhafter.
I: Ja, fehlt das manchmal so, ein bissel Kontakt, daß man die Lehrer gar nicht richtig kennt?
Fabienne: Ja, so wie beim Herrn Pilari halt. Der war zimmlich nett unn der, bei dem hat ma was gelernt unn auch Spaß gehabt.

Vergleichbar mit der Sequenz von Peter und Herrn Merkel, drückt Fabienne genau wie Peter den Wunsch aus, dass LehrerInnen „mehr so kumpelhafter“ sein sollten. Auch Fabienne vermisst die Begegnungen mit ihren LehrerInnen auf der Seins-Ebene. Sie stellt dabei nicht die Rollen-Identität in Frage, was in ihrer Bemerkung „bei dem hat ma was gelernt“ deutlich wird, doch sie wünscht sich eine zusätzliche Qualität in der Begegnung: „der war zimmlich nett und der, bei dem hat ma (…) auch Spaß gehabt“. D.h. der schulische Alltag ist aus Sicht von Fabienne – bezogen auf den Umgang bzw. den Kontakt mit LehrerInnen – zu sehr auf das Rollenverhalten reduziert.

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.