Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die folgenden Szenen stammen alle aus einem Beobachtungsprotokoll, das insbesondere auf einen Schüler fokussiert, der im Folgenden „Ralf“ genannt wird. Zum Kontext: Es handelt sich um einen Sitzkreis, bei dem die Schülerinnen und Schüler auf niedrigen Bänken oder zum Teil auf dem Boden sitzen und die Mitte frei lassen. Die Lehrerin, die Beobachterin und der Beobachter sind in den Kreis integriert. Diese Form findet im Unterricht der Laborschule Bielefeld oft Verwendung, wenn es um Einführung und Erarbeitung von Themen im Rahmen der ganzen Klasse geht. Auf diese Phase des mehr oder weniger lehrerzentrierten Unterrichtsgesprächs im Kreis folgt dann oft eine Phase der Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit an den Tischen.
Im folgenden Beispiel führt die Lehrerin, die „Ulrike“ genannt werden soll (Lehrerinnen werden an der Laborschule von den Schülern mit dem Vornamen angesprochen und geduzt), in einem „frontalen“ Unterrichtsgespräch die Berechnung des Rauminhalts ein.
Wir zitieren einige kurze Situationen aus dieser einen Unterrichtsstunde und fragen danach, was sich jeweils über das Verhältnis von peer culture und Unterricht zeigt, das uns beschäftigt. Die empirischen Beispiele dienen hier weniger als ‚Beweisführung’ für ausgearbeitete Thesen denn als Anschauungsmaterial für erste Überlegungen zu Aspekten, die die Unterrichtsforschung unserem Eindruck nach bislang noch nicht ausreichend im Blick hat: Es geht um die Analyse grundlegender situativer Bedingungen des Schülerverhaltens im Unterricht.

Bei der nächsten Frage Ulrikes meldet Ralf sich, redet auch gleich los, ohne dran zu sein, stoppt aber gleich wieder. Es geht um die Berechnung von Rauminhalt am Beispiel von Tetra-Packs. Ulrike fragt zunächst allgemein, wie man das mache. Ralf sagt spaßhaft, in die Runde sprechend, ohne dran zu sein: „Man trinkt aus und misst den Inhalt.“

Die Frage der Lehrerin gibt Ralf hier den Anlass für einen Scherz: Er nimmt die allgemeine Formulierung der Frage („Wie macht man das?“) wörtlich und bietet eine Antwort an, die allerdings einen völlig anderen Kontext als den des Mathematikunterrichts aufruft. Ralfs Bemerkung treibt ein Spiel mit dem alltagsweltlichen Charakter des Anschauungsobjektes der Lehrerin: Sie hat mit der Getränkepackung ein Objekt aus dem Alltag der Kinder gewählt (vielleicht eine Form der „Schülerorientierung“), um es in einen anderen Rahmen zu stellen, den einer mathematischen Berechnung und Ralfs Kommentar gewinnt seinen Witz aus dem Ignorieren dieses Rahmenwechsels. Macht er sich implizit lustig über die Bemühung der Mathematiklehrerin, den Stoff lebensnah zu veranschaulichen? Die Bemerkung Ralfs kann geradezu als Persiflage auf die Alltagsnähe des Unterrichtsgegenstandes gelesen werden.

Im Rahmen der peer culture hat ein derartiges beiläufiges Scherze treiben mit dem Unterrichtsgegenstand bzw. mit der Lehrerfrage (wie es in jeder Unterrichtsstunde dutzendfach vorkommt) vermutlich eine ganz spezifische Funktion: Es vermag die eigene „Souveränität“ gegenüber den Anforderungen des Unterrichts und den Erwartungen der Lehrerin zu demonstrieren, indem diese gezielt (und punktuell) missachtet werden. In diesem Fall kommt Ralfs Kommentar durch die gedankenexperimentelle Missachtung des Ess- und Trinkverbotes im Unterricht möglicherweise ein zusätzlich tabuverletzender Charakter zu.

Der Status der Bemerkung Ralfs kann als ‚halb-öffentlich’ charakterisiert werden: „spaßhaft in die Runde gesprochen, ohne dran zu sein“, wie das Protokoll verzeichnet. Es handelt sich wohl nicht um einen offiziellen Beitrag zum Unterrichtsgespräch und der Adressatenkreis ist auch nicht ganz klar: auf jeden Fall die um ihn herum Sitzenden, vielleicht auch die Lehrerin. Es ist gerade dieser halb-öffentliche Charakter der Bemerkung, der der Lehrerin u.a. auch die Möglichkeit der Nicht-Beachtung lässt (von der sie hier Gebrauch macht). Es ist konstitutiv für viele Beitrage dieser Art zum laufenden Unterrichtsgespräch, dass ihr Status in einem Zwischenbereich zwischen „Neben-Kommunikationen“ (Rehbock 1981) und Haupt-Diskurs angesiedelt ist, und sie dadurch der Lehrperson verschiedene Optionen der situativen Handhabung eröffnen: Sie kann den Spruch ignorieren, sie kann ihn aufgreifen und als Scherz in die Unterrichtskommunikation einbauen, sie kann ihn als Störung tadeln etc. – Vermutlich ist solcherart praktische Flexibilität insgesamt für die Durchführung der Unterrichtskommunikation wichtiger als die starre Befolgung von Gesprächsregeln, wie sie die frühe konversationsanalytische Unterrichtsforschung herauspräpariert hat (vgl. dazu auch Kalthoff/Kelle 2000).

Wir überspringen die etwas mühsame Berechnung des Rauminhaltes der Getränkepackung und steigen etwas später wieder in das Beobachtungsprotokoll ein:

Ralf hat auch ein Getränk in einem Tetra-Pack, allerdings anderer Form als das gerade vermessene und berechnete. Ralf bemerkt: „Ulrike, da ist auch 0,2 Liter drin.“ Die Lehrerin fordert ihn auf, die Packung in die Mitte zu der anderen zu stellen (Sie hatte schon anfangs des Unterrichts Ralf mit dem Getränk zunächst wegschicken wollen um dann zu bemerken: „Die berechnest du heute.“)

Ralf leistet wieder einen, diesmal allerdings anders gearteten Beitrag zum Unterricht. Aus didaktischer Perspektive kann eine solche Situation sicherlich als Glücksfall gelten: Ein Schüler greift die Fragestellung des Unterrichts von sich aus auf und variiert sie so, dass das erworbene Wissen an einem neuen Fall erprobt werden kann. Die Lehrerin erkennt das didaktische Potential der Situation und greift die schülerinitiierte Variation des Unterrichtsgegenstandes geschickt auf. (Dass sie diese Möglichkeit offenbar auch schon antizipiert hatte, spricht für ihre Planungskompetenz.)

Jetzt stellt die Lehrerin Ralfs Packung zur Diskussion. Susanne fragt quer durch den Kreis: „Schmeckt das nicht eklig, Ralf, Banane?“ Ralf reagiert nicht erkennbar darauf. Ralf guckt mit aufgestütztem Kopf verhältnismäßig regungslos vor sich hin. Zwischendurch „meldet“ er sich auf eine Frage der Lehrerein, indem er von der Hand, in der sein Kinn liegt, den Zeigefinger abspreizt. Auch Jim, Rebecca und noch ein, zwei andere kommentieren die Bananenmilch: „Eklig, widerlich“. Nur Uwe hält dagegen: „Lecker!“

Indem die Lehrerin Ralfs Beitrag und seine Packung aufgreift, wird er auch als Person exponiert und in den Mittelpunkt gestellt. Sein Getränk verknüpft sich in den Kommentaren der anderen mit seiner Person. Insbesondere Geschmacksfragen sind eng an die Person gebunden: Sie liegen zwar eigentlich außerhalb des rationalen Diskurses („über Geschmack kann man nicht streiten“), aber kulinarische Präferenzen scheinen unter Kindern ein beliebter Gegenstand der Meinungsbildung zu sein – man vergewissert sich über Ähnlichkeiten und Differenzen und etabliert „Normalität“ und „Abweichung“ hinsichtlich des Geschmacks.
In dieser Szene nimmt die kollektive Urteilsbildung über Ralfs Vorliebe für Bananenmilch für diesen durchaus bedrohliche Züge an. Er reagiert nicht auf Susannes rhetorische Frage, doch die Kommentierungen seines Getränkes steigern sich in ihrer Drastik: “eklig, widerlich“ und scheinen vor allem der wechselseitigen Vergewisserung eines gemeinschaftlichen Geschmacksurteils zu dienen, das Ralf allerdings ausgrenzt.
Ralfs Rettung in dieser Situation besteht dann in der Solidaritätsbekundung Uwes, der die Bananenmilch für „lecker“ erklärt. Uwe ist ein sehr populärer Junge in dieser Klasse, dessen Status es ihm erlaubt, sich auch (mal) außerhalb der sich etablierenden Gruppenmeinung zu stellen. (Nicht zuletzt durch solcherart eigenwillige und selbstbewusste Positionierungen stellt sich sein herausgehobener Status wiederum her.) In diesem Fall nutzt er seinen Status für die situative Rettung Ralfs, was möglicherweise Ausdruck einer gönnerhaften Klientel-Beziehung zu diesem ist.

Ist mit einer solchen Interpretation das Geschehen über Gebühr dramatisiert? Vielleicht ja, mit Blick auf diese eine Protokollstelle und auf die Beiläufigkeit und Alltäglichkeit dieser Szene, aber in unserem Material insgesamt gibt es eine Vielzahl solcher Szenen, in denen auch immer wieder Ralf als negatives Anschauungsobjekt normativer Diskurse dient (vgl. Breidenstein/Kelle 1998).
Doch sind wir mit der Interpretation vor allem vollkommen abgekommen vom Unterricht: Was ist mit der Berechnung von Rauminhalten? Wo verbleiben die Lehrerin und das Unterrichtsgespräch? Wir meinen, mit dieser Verschiebung des Interesses auch die Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler nachgezeichnet zu haben: in dieser Situation rückt die Frage der eigenen Positionierung zu Bananenmilch in das Zentrum des Geschehens. Insofern solche Fragen, wie angedeutet, mit Praktiken der Vergemeinschaftung verbunden sind, kommt ihnen eine hohe situative Relevanz in der peer culture der Schüler zu: Die Frage, wer sich wie zu Bananenmilch stellt, dürfte jederzeit in der Lage sein, mathematische Themen kurzfristig aus dem Fokus der Aufmerksamkeit zu verdrängen.

Vom Gesamtverlauf der Szene her gesehen erscheint die Maßnahme der Lehrerin noch einmal in einem etwas anderen Licht: mit dem Aufgreifen von Ralfs eigener Packung für Unterrichtszwecke hat sie diesen exponiert, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt und als Person auf eine Bühne gestellt – was für diesen mit einem erheblichen Risiko verbunden ist. Zu vermuten ist, dass Ralf, der sich zuerst geschmeichelt gefühlt haben dürfte, mit „seiner“ Packung das Unterrichtsobjekt zu stellen, nachher nicht mehr ganz so wohl in seiner Haut war.
Dabei ist darauf hinzuweisen, dass es zur Grundstruktur schulischer Unterrichtskommunikation gehört, Einzelne vor der Klasse zu exponieren: Das öffentliche, exklusive und persönlich adressierte Rederecht im Unterrichtsgespräch stellt jede einzelne Schüleräußerung gewissermaßen zur Begutachtung aus. Darüber hinaus sorgt die im Unterricht ständig präsente Dimension der Leistungsbewertung dafür, dass Äußerungen immer Personen zugerechnet werden: Es geht selten nur darum, was gesagt wurde, sondern immer auch um die Frage, wer was gesagt hat (vgl. Kalthoff 1997).
Auch im Kontext der peer culture geht es um Personen und ihre Bewertung, allerdings vermutlich nach Kriterien, die sich nur z.T. mit denen schulischer Leistungsbewertung überschneiden und z.T. auf ganz andere Qualitäten beziehen. Jede Schüleräußerung in der Öffentlichkeit des Unterrichtsgespräches wird im Zuge einer komplexen und diffizilen Evaluationspraxis in verschiedener Hinsicht begutachtet. Dabei ist jede Schüleräußerung allein durch ihre expressive Dimension wie Stimmführung, Stimmlage oder Mimik unweigerlich mit der Person verknüpft. Im zitierten Beispiel jedoch wird die Person Ralfs zusätzlich durch die offizielle Einbeziehung eines persönlichen Gegenstandes, seines Getränkes, in die Arena gestellt:

Die Lehrerin lenkt jetzt die Diskussion auf die Verpackung der Getränke. Sie fragt, warum sie an der Schule eigentlich weg wollten von den Tetra-Packs. Uwe antwortet mit einem einzigen Stichwort: „Umwelt“. Ulrike lässt es auch als richtige Antwort gelten. Sie führt als Alternative zur Verpackung aus, man könne doch auch, wenn man sich Trinkgefäße mitbringe, Getränke „zapfen“. Ralf wiederholt: „Och, gezapft!“ und deutet mit kreisendem Oberkörper einen Rausch an.

In didaktischer Perspektive kann diese Szene als ein Beispiel für „fächerübergreifenden“ Unterricht gelten, der an einem einzigen Gegenstand verschiedene Aspekte beleuchtet. Der Lehrerin geht es nicht nur um die Vermittlung mathematischer Kenntnisse, sondern sie nutzt sozusagen die Gelegenheit, auch den Müllaspekt der Getränkepackung im Sinne der Umwelterziehung anzusprechen.
Interessant ist hier Uwes Antwort, die in ihrer Form seine Geringschätzung der ökologischen Problematik demonstriert. Er distanzieret sich nicht explizit von der Thematik – auf der Inhaltsebene bedient er geschickt das Unterrichtsgespräch mit der sachlich „richtigen“ Antwort – aber in der Form seiner Antwort bringt er unüberhörbar zum Ausdruck, was er davon hält: das wissen wir schon, das ist doch längst bekannt! Ein einziger Begriff reicht aus, jedes weitere Wort wäre verschwendet. Uwes Demonstration seiner Haltung gegenüber der Ökologie-Thematik ist wohl (in unterschiedlichem Sinn) an eine doppelte Adressatenschaft gerichtet: einmal an das Publikum der Mitschüler, aber auch als Hinweis für die Lehrerin. Diese erkennt die implizite Distanzierung auch an, indem sie die formal äußerst bescheidene Antwort akzeptiert. Sie führt die umweltfreundlichere Alternative zu Tetra-Packs, die sie möglicherweise von den Schülern hatte erfragen wollen, dann selbst aus.
Auch Ralf treibt wieder seine Scherze mit dem Unterrichtsgegenstand. Aber anders als Uwe, der eine schülerseitige Geringschätzung der Thematik im Rahmen des offiziellen Unterrichtsgespräches artikuliert hatte, versucht sich Ralf an einer wohl nur für seine unmittelbare Umgebung gedachten Schauspieleinlage. Das Prinzip des Witzes funktioniert ähnlich wie in der ersten Szene: Ralf knüpft an den Wortlauf des Unterrichtsinhaltes an und verfremdet ihn, indem er ihn, relativ frei assoziierend in eine völlig andere „Rahmung“ (vgl. Goffman 1980) stellt. Plötzliche und überraschende Rahmenwechsel dienen als Beweis von Schlagfertigkeit und Souveränität gegenüber dem Unterrichsdiskurs. (Ralfs Assoziation in dieser Szene wird aber vermutlich nicht als besonders originell gelten können.)

Wir verlassen damit das Unterrichtsgespräch im Kreis und wenden uns abschließend der Dokumentation der Einzel- bzw. Partnerarbeit zu, die sich an die Kreissituation anschließt und die mit Hilfe eines Arbeitsblattes am Tisch stattfindet. Hier werden noch einmal etwas andere Aspekte des Verhältnisses von peer culture und Unterricht deutlich.

Ralf und Thomas sitzen nebeneinander am Extratisch mit Ralfs Getränkepackung. Ralf guckt drauf und meint: „Ich hätte das ‚trink fit’ genannt, das Arbeitsblatt.“ Ralf macht sich dran, die Packung zu vermessen, während Thomas meint, das lohne sich doch gar nicht mehr, es sei doch gleich Pause. Es sind tatsächlich nur noch etwa 10 Minuten. Thomas sagt zu Ralf, er könne ihm alles „vorrechnen“. Thomas meint damit, dass er sich darauf einstellt, die Ergebnisse dann abzuschreiben.

Der „Unterricht“ ist hier nicht als direkte Interaktion zwischen Lehrperson und Schülern gestaltet, sondern für die Schüler in Form der Aufgabe bzw. als Anforderung des Arbeitsblattes präsent. Ralf und Thomas setzen sich nun ins Verhältnis zu diesem Unterricht: Ralf macht zunächst einen Vorschlag zur Benennung des Arbeitsblattes, der noch einmal die Alltagsnähe des Unterrichtsobjektes aufgreift und ironisiert.
In Thomas’ Bemerkung über die nahende Pause kommt sein instrumentell-strategisches Verhältnis gegenüber dem Unterricht zum Ausdruck: der Blick auf die Uhr begleitet alle unterrichtlichen Tätigkeiten. Das Risiko, mit der Bearbeitung der Aufgabe möglicherweise in die Pause hineinzuragen, hält Thomas davon ab, mit dieser zu beginnen. Die Pausenzeit wird hier gegenüber der Unterrichtszeit als eindeutig wertvoller markiert, Thomas etabliert klare (und vielleicht wenig erstaunliche) Prioritäten. Nun ist Thomas’ Bemerkung sicherlich im Rahmen der Interaktion der beiden Schüler zu interpretieren, und die spannende Frage lautet dann: Wird Ralf mit der Bearbeitung der Aufgabe fortfahren und sich damit in Differenz zu der von Thomas markierten Priorität begeben? – Dies geht aus dem Protokoll nicht eindeutig hervor. Doch die nächste Protokollnotiz weist darauf hin, dass Ralf weiterrechnet, denn Thomas demonstriert noch einmal sein strategisches Verhältnis zum Unterricht: Er will die Lösung einfach abschreiben.
Wenn Ralf sich nicht dem Vorwurf aussetzen will, ein Moralapostel oder Streber zu sein, wird er Thomas gewähren lassen. Da Ralf trotz Thomas’ mahnender Erinnerung an die nahende Pause offenbar weiterrechnet, steht er sowieso schon in einem problematischen Licht, so dass er Thomas die Lösung der Aufgabe sicher nicht verweigern wird. Vielleicht nutzt Thomas diese Konstellation strategisch geschickt aus?
Jedenfalls ist davon auszugehen, dass Schüler sich im Rahmen von peer culture untereinander über mögliche Haltungen gegenüber schulischen Anforderungen verständigen und in dieser Frage einen – möglicherweise auch gruppenspezifischen – Konsens etablieren, den zu verletzen riskant sein dürfte. Je nach den herrschenden Normen bezüglich der gegenüber Schule einzunehmenden Haltung kann schon persönliches Engagement im Unterricht schlechthin als Risiko im Rahmen der Gleichaltrigenkultur gelten. Allerdings steht vermutlich relativ selten jegliches Interesse an Unterricht auf dem Index der peer culture – und auch dann ist demonstrativ „desinteressiertes“ Mitmachen noch möglich.

Interpretation (Zusammenfassung)

Wir wollen abschließend noch einmal thesenartig einige Aspekte des Verhältnisses von peer culture und Unterricht zusammenfassen, die sich in der Betrachtung der Unterrichtsszenen angedeutet haben. Wie gesagt, handelt es sich dabei um erste, v.a. als Heuristik zu verstehende Überlegungen zu den grundlegenden Bedingungen des Schülerhandelns im Kontext der Schulklasse, die ihrer weiteren empirischen Ausarbeitung harren.

  • Unterricht ist (neben allem anderen) immer auch Ressource für Inszenierungen im Rahmen von peer culture. Die peer culture greift nahezu beliebig Unterrichtsinhalte auf, um sie kreativ zu verfremden. Dies geschieht entweder in Nebenbemerkungen, in halblauten oder geflüsterten Kommentaren, oder auch im Rahmen der offiziellen Unterrichtskommunikation. Schüleräußerungen im Unterrichtsgespräch wenden sich an eine doppelte Adressatenschaft: an die Lehrerin und an die Mitschüler – und manche dieser Äußerungen haben entsprechend einen ’doppelten Boden’. Manche Schülerantwort ergibt einen unterschiedlichen Sinn in zwei verschiedenen Referenzsystemen zugleich. Die peer culture kann sich auch des „Hauptdiskurses“ bedienen, die „Hinterbühne“ kann mitten auf der Vorderbühne stattfinden. Die theoretische Herausforderung für die Unterrichtsforschung könnt darin bestehen, die verschiedenartigen Bezugssysteme von Unterrichtskommunikation analytisch zu differenzieren.
  • Die Unterrichtssituation, die in erster Linie die schulischen Anforderungen an Schüler repräsentiert, fordert nicht zuletzt dazu heraus, Souveränität und Eigenständigkeit gegenüber ebendiesen Anforderungen zu demonstrieren. Die konkrete interaktive Nutzung dieser Option etabliert kollektive Haltungen gegenüber Unterricht (vgl. schon Willis 1979; Woods 1980). Die kollektive Bestimmung des Umgangs mit schulischen Anforderungen mag von Klasse zu Klasse und innerhalb der Klasse von Clique zu Clique differieren, dennoch stellt sie für die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler ein komplexes und je spezifisches Gefüge an Normen und Regeln dar, die den Umgang mit Schule bestimmen. Diese zu explizieren könnt ein wichtiges Bestimmungsmoment in der Beschreibung konkreten Schülerverhaltens sein.
  • Die peer culture greift personelle Konstellationen auf, wie sie die Unterrichtskommunikation strukturell schafft. Es gehört zu den fundamentalen Effekten von Unterricht, Einzelne vor der Gruppe zu exponieren: Nicht nur durch die Exklusivität des Rederechts, sondern darüber hinaus durch die permanente Praxis, Äußerungen Personen zuzurechnen. Die unterrichtliche Exponierung in der Öffentlichkeit der Schulklasse ist für die einzelnen Schüler mit spezifischen Risiken verbunden. Das eigentliche Risiko besteht jedoch vermutlich v.a. darin, mit einer (mehr oder weniger persönlichen) Äußerung vor dem Publikum der Schulklasse zur Zielscheibe von Kommentaren und Bewertungen zu werden. Dieses Risiko wird sich für die einzelnen Schülerinnen und Schüler je nach ihrer Position in der Gruppe unterschiedlich darstellen, es ist jedoch insgesamt mit der Struktur der Unterrichtskommunikation verknüpft, die als solche auch unter diesem Aspekt zu analysieren wäre.

Die „peer culture“ jedenfalls wäre diesen Überlegungen zufolge nichts, was der Schule und dem Unterricht äußerlich wäre, was in diese „hineinragen“ würde o.Ä., sondern wäre zumindest in einigen ihrer Aspekte unmittelbar geprägt durch die Institution Schule und die spezifische Organisation von Unterricht in der Öffentlichkeit der Schulklasse.

Literatur:

Breidenstein, Georg; Kelle, Helga (1998) : Geschlechteralltag in der Schulklasse. Ethnographische Studien zur Gleichaltrigenkultur. Weinheim und München. Juventa.

Goffman, Erving (1980) : Rahmenanalyse. Frankfurt/Main. Suhrkamp.

Kalthoff, Herbert (1997) : Wohlerzogenheit. Eine Ethnographie deutscher Internatsschulen. Frankfurt/Main. Campus.

Kalthoff, Herbert/Kelle, Helga (2000) : Pragmatik schulischer Ordnung. Zur Bedeutung von „Regeln“ im Schulalltag. In Zeitschrift für Pädagogik 46, 2000, 5, S. 691-710

Rehbock, Helmut (1981) : Neben-Kommunikationen im Unterricht. In Baurmann, Jürgen u.a. (Hg.): Neben-Kommunikationen. Beobachtungen und Analysen zum nicht-offiziellen Schülerverhalten innerhalb und außerhalb des Unterrichts. Braunschweig. Westermann. S. 35-84

Willis, Paul (1979) : Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiterschule. Frankfurt/Main. Syndikat.

Woods, Peter (1980) (ed.):Pupil Strategies: Explorations in the sociology of the school. London. Falmer Press.

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