Falldarstellung
Kontext: Die per Video dokumentierte und vollständig transkribierte Unterrichtsstunde ist Teil einer fünfstündigen Unterrichtseinheit „Mädchen und Jungen – früher und heute“ (vgl. Richter 2000).
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Interpretation
Lesart 1: Widersprüchliche Normen
„Diese kleine Szene thematisiert zwei Knotenpunkte der Unterrichtskommunikation, bei denen der Unterschied zwischen schulischen Normen und sozialen Normen deutlich wird. Im ersten Fall verweigert Magnus sich doppelt: Er ist nicht bereit, die Gleichschaltung der Normen zu akzeptieren (konkret: selbst zu kochen); auch die Tatsache, dass sein Vater kocht (wenn die Mutter nicht zu Haus ist [(!!)], beeindruckt ihn wenig. Er distanziert sich von beiden (indirekten) Ansprüchen (Magnus: „NÖ“). Er würde es später nicht so machen. Selbst auf diese unverbindliche Aussage über mögliches zukünftiges Verhalten lässt er sich nicht ein.
Diese Szene kann als die zentrale Schlüsselszene dieser Stunde angesehen werden: In dieser Widerständigkeit liegt im sozialwissenschaftlichen Sachunterricht die Chance, kontrovers über Normen, Einstellungen und Verhaltensweisen zu sprechen. Die Lehrerin setzt ihn nicht unter Druck, obwohl sie an dieser Stelle nachfragt (Lehrerin: ‘Aber (!) du hast bei deinem Papa gesehen, dass er es macht, ne? Hmm …’ Zeile 336f.). Die Mitschülerinnen und -schüler betreten die Brücke, die ihnen die Lehrerin hier baut: ‘Ich würde es machen’“ (Kuhn 2000, 102-103).
Lesart 2: Die Lehrerin berücksichtigt das Überwältigungsverbot
„Die Lehrerin akzeptiert die Meinung des Jungen, obwohl sie eindeutig ihrer Intention widerspricht. (…) Sie verzichtet … auf eine stärkere Beeinflussung in Richtung ihrer eigenen Position“ (Massing 2000, 82).
Lesart 3: Deutungslernen und Professionalisierungsdefizite
„Sequenz 3.7: Problematisierung: Würdest du das auch machen’? (Zeile 335-344) Die Äußerung eines Jungen über seinen Vater, der kocht, wenn die Mutter nicht zuhause ist, beantwortet die Lehrerin mit der Frage „Würdest du das später auch machen“. Die Ansätze einer Kontroverse (‘Nö’, ‘Ich auch nicht’ vs. ‘Ich würde das machen’) in der bei den Kindern vorhandene Geschlechterbilder erkennbar werden, versanden allerdings, weil die Lehrerin sich auf (erstaunte oder enttäuschte) Rückfragen beschränkt (‘Du würdest es nicht machen? Aber du hast bei deinem Papa gesehen, dass er es macht, ne?’) und andere Kinder von diesem Gesprächsimpuls mit weiteren Äußerungen ablenken (eigene Arbeiten im Haus). Obwohl die Ausgangfrage der Lehrerin nach den Ursachen der veränderten Geschlechterbeziehungen zwischen Mädchen und Jungen somit unbeantwortet im Raum stehen bleibt, leitet sie die nächste Sequenz ein“ (Henkenborg 2000, 155).
Lesart 4: Politische Bildung und Gender
„Im Sinne politischer Bildung ist der Widerspruch gegen männliche und weibliche Lehrende durchaus erwünscht und stellt keinen Misserfolg im Lernprozess dar. In dieser konkreten Unterrichtssituationen ist der Widerspruch von Magnus ein Beweis für die offene und angstfreie Lernatmosphäre. Obwohl sein Vater kocht und es nahe lieg, dass er diesem Vorbild später folgt, verneint er die Frage: Lehrerin: ‘Würdest du das später auch machen?’ Magnus: ‘Nö.’ (Zeile 335f.)
Es wäre für Magnus viel einfacher zuzustimmen. Eine Bestätigung würde in die allgemeine Zustimmung mit den anderen Kindern einfließen. Es ist zu vermuten, dass sich Magnus gegen das androgyne Ideal des Verhaltens wehrt, das in der vorherigen Unterrichtssequenz unterschwellig bevorzugt wird. Er übernimmt weder das Bild der Jungen und Mädchen, wie es die Lehrerin und die Kinder zeichnen, noch das seines Vaters. Von einem anderen Jungen erntet er knapp, aber eindeutig Zustimmung: X: ‘Ich auch nicht.’ Denkbar ist eine Situation, in der an dieser Stelle der Unterricht kippen könnte. Es wäre möglich, dass ein ‘Stimmungswechsel’ einsetzt und eine Reihe von Schülerinnen und Schülern umschwenkt und ebenfalls widerspricht. Dies wäre wahrscheinlich der Fall, wenn der vorhergehende Konsens nur als Gefälligkeit für die Lehrerin zu Stande gekommen wäre. Im Gegenteil: Clemens erzählt, dass er sich mit der Hilfe im Haushalt Taschengeld verdient. Traditionell weibliche Hausarbeit wird nicht allgemein abgewertet oder als ‘Unmännlich’ gebrandmarkt. Die Geschlechteridentität bleibt flexibel und vielfältig. Die Gesprächskultur der Lehrerin gewährleistet Fairness gegenüber den Gesprächspartnern und Ehrlichkeit im Umgang mit der eigenen Meinung“ (Kroll 2000, 216-217).
Lesart 5: Schülerorientierung
„(…) Die Szene tritt aus dem Fluss des Gesprächs hervor und soll deshalb näher betrachtet werden: Die Kinder sind dabei, von sich aus eigene Erfahrungen zu schildern und das klappt gut. Nun aber insistiert die Lehrerin darauf, dass ein Kind eine Erfahrung antizipierend bearbeitet. Die Situation gerät zu einer Art (undramatischen) Inszenierung. Verschiedene Überlegungen können zur Klärung des Schlagabtausches zwischen der Lehrerin und Magnus angeführt werden:
Der inhaltliche Hintergrund ist in die Schwebe geraten: Was machen Frauen, was machen Männer? Was machen Kinder? Magnus weiß nicht genau, auf was die Lehrerin hinaus will. Er hat keinen konkreten Anhaltspunkt, keine klare Orientierung und reagiert daher intuitiv-spielerisch. Die „auch“-Kette ist unterbrochen. Insofern bearbeitet Magnus die Lehrerfrage individuell. Er weicht ab: Anstatt ‘ich auch’ signalisiert er: ich nicht! (…) Zusammengefasst: Magnus schließt mit einer Beobachtung am seinem Alltag an das an, was die Lehrerin vorher gesagt hat: ‘das ist der Vater, der mit den Kindern backt’. Er führt zur Untermauerung ein eigenes Beispiel an (Rekonkretisierung von Abstraktion), das unbeabsichtigt darauf hindeutet, dass die Realität komplexer und uneindeutiger ist als das Unterrichtsbeispiel der Lehrerin. Der Vater von Magnus kocht nur in einer Ausnahmesituation, nämlich wenn die Mutter nicht da ist. Insofern handelt der Vater nicht durchgehend ‘modern’, wie es die Abbildung [aus einem Schulbuch] suggeriert, während für die Ritter unterstellt bleibt, selbst wenn sie gewollt hätten, ‘das wäre nicht gegangen’ und die Erklärung dafür steht aus.
Die Lehrerin wiederholt: ‘Du würdest es nicht machen’. Ein anderes Kind pflichtet Magnus bei: ‘Ich auch nicht’. Die Lehrerin wendet sich noch einmal an Magnus: ‘Aber du hast bei deinem Papa gesehen, dass er es macht, ne’? Hmm’. Sie fragt, als wolle sie sich noch mal vergewissern, ob sie Magnus richtig verstanden habe. Ein anderes Kind X: ‘(Ich würde das machen)’ entfaltet eine andere Perspektive (Gegenhorizont). Hier würde schon interessieren, warum und wie die Schülerinnen und Schüler ihre jeweilige Sichtweise begründen, welche Argumentationen sie dazu heranziehen, damit der Schlagabtausch keine Privatsache bleibt. Eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung könnte hier ansetzen, indem Transparenz von der Sache her über die jeweiligen Handlungsmotive hergestellt wird. Die Diskussion über das Kochen wäre dafür ein Aufhänger. Für die Thematisierung von Rollenverhalten sind weitere Beispiele (z.B. aus dem Bereich der Berufstätigkeit) notwendig“ (Schelle 2000, 198-200).
Literatur:
Henkenborg, Peter: Deutungslernen in der politischen Bildung. Prinzipien und Professionalisierungsdefizite. In: Richter, Dagmar (Hrsg.): Methoden der Unterrichtsinterpretation. Weinheim und München 2000, S. 107-128
Kroll, Karin: Eine unvollendete Geschichte – Kommunikation über Geschlechteridentität. In: Richter, Dagmar (Hrsg.): Methoden der Unterrichtsinterpretation. Weinheim und München 2000. S. 211-218
Kuhn, Hans-Werner: „Meine Mutter hat früher auch immer gerne gehäkelt oder gestrickt“ Politikdidaktische Interpretation einer Grundschulstunde. In: Richter, Dagmar (Hrsg.): Methoden der Unterrichtsinterpretation. Weinheim und München 2000. S. 87-106
Massing, Peter: „Ich glaube, der musste dann auch noch ähm – gegen Drachen kämpfen und so“. Historisch-politisches Lernen in der Grundschule. In: Richter, Dagmar (Hrsg.): Methoden der Unterrichtsinterpretation. Weinheim und München 2000. S. 63-85
Schelle, Carla: Privatheit in einem halböffentlichen Diskurs – Sozialität im Austausch von Lehrer-Schüler-Lebenswelten. In: Richter, Dagmar (Hrsg.): Methoden der Unterrichtsinterpretation. Weinheim und München 2000. S. 185-210
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