Falldarstellung
1. Zur Biographie von Herrn Thalstett(1)
Kindheit und Jugend: Der schwierige Weg der Selbstfindung
Geboren Anfang der 60er Jahre durchlebte Herr Thalstett eine von wiederholten Umzügen und Schulwechseln geprägte, für DDR-Verhältnisse eher untypische Kindheit. Seine Eltern ließen sich während seines achten Lebensjahres scheiden. Scheidung und Schulwechsel gingen einher mit dem Wegbrechen sozialer Beziehungen. Er wurde mehrfach aus vertrauten Umgebungen herausgerissen. Diese Verlusterfahrungen verstärkten sich durch eine problematische Beziehung zum Stiefvater.
„Also er (der Stiefvater – d. A.) erkundigte sich gelegentlich mal nach den schulischen Leistungen, machte dann Theater, wenn die nicht in seine Richtung liefen, wobei: da gab es nie die großen Probleme. Aber er wollte eben den total perfekten Sohn haben, damit der Name eben … Ja, ja der Name! Richtig! Ich hieß früher F. nach meinem ersten Vater. Meine Mutter hat Anfang der 70er Jahre geheiratet, und hat dann den Namen Thalstett automatisch angenommen, ich durfte aber noch bis ’76 warten, weil mein Vater eben der Überzeugung war, dass eben dazu gehört: das ist ein Ehrenname, und den muss man sich erarbeiten und erkämpfen. Ja, ja, das hat also ein bisschen mich sehr belastet.“ (T, S. 2) (2)
Der Versuch des Stiefvaters, Herrn Thalstett nach seinen Idealen zu erziehen, misslingt. Er widersetzt sich zunehmend dessen Elitestreben und Leistungsdenken, was sich später insbesondere in den beruflichen Suchbewegungen dokumentiert. Herrn Thalstetts Kindheit ist somit gekennzeichnet durch Mangel an familiärer Geborgenheit und fehlende Akzeptanz seitens des Stiefvaters. Letztere wird durch die Mutter kaum kompensiert, die wegen ihres intensiven Engagements in der SED auch häufig nicht zu Hause ist. Daher liest sich die Biographie streckenweise als Suche nach sozialen Beziehungen und persönlicher Identität, als Versuch, vermisste Nestwärme zu kompensieren. Bereits früh findet Herr Thalstett im Lesen eine stabilisierende Rückzugsmöglichkeit sowie im Schreiben Ausdrucksmöglichkeiten, die zu sozialer Anerkennung führen. Das Lesen bildet neben einem bewusst wahrgenommenen Problemverarbeitungsprozess gleichzeitig wiederholt ein Fluchthandlungsschema. Herr Thalstett eröffnet sich so auf der Suche nach neuen Perspektiven auch stille Diskursarenen, in denen er eigene Standpunkte mit anderen Meinungen kontrastiert. Diese Diskursarenen basieren bis heute vielfach auf literarischen Werken, die als biographische Sinnquellen seinem Selbstfindungs- und -bildungsprozess dienen.
Die Schule bereitet ihm trotz der Schulwechsel leistungsmäßig kaum Probleme. Das Engagement in der Pionier- und FDJ-Organisation, das sich fast wie ein roter Faden durch die Schulzeit zieht, bietet zudem eine Kompensation für vermisste familiäre Wärme.
„Meine Eltern haben mich erzogen, das ist vielleicht auch noch wichtig, also im Prinzip bin ich so (…) ja wie soll ich sagen? In einer (….), in einer relativ, so in der vierten, fünften Klasse, als also diese Bindung an Freunde und so weiter nicht da war und die Eltern nicht da waren, weil sich meine Mutter doch jetzt sehr auf ihren Mann konzentrierte, erst mal etwas weniger auf mich, bin ich natürlich sehr stark unter den Einfluss der Schule geraten, der Pionierorganisation geraten und habe mir da sehr viele rosarote Ideale damals angenommen.“ (T, S. 4)
Herr Thalstett stellt heraus, dass aufgrund der familiären Situation die außerunterrichtlichen Angebote der Kinder- und Jugendorganisation für ihn große Bedeutung gewinnen. Pädagogisches wird hier mit Politischem verwoben, die außerunterrichtlichen Angebote entwickeln über die Einbindung in soziale Beziehungen starke politische Sozialisationseffekte mit hoher Identifikation. Er engagiert sich zunehmend im Singeclub als Sprecher und Rezitator sowie in einem kulturellen Jugendclub und nimmt auch zum „Zirkel schreibender Arbeiter“ Verbindung auf.
Berufswahl: Auf Umwegen zum Lehrerberuf
Die Entscheidung für den Lehrerberuf kommt erst zustande, als sich sein Wunsch nach einer Tätigkeit in einem Kinderheim nicht realisieren lässt.
„Weil, ich wollte einfach, hat sicher auch was mit der Biographie zu tun, dass ich als eh (.) so ne, nehme ich mal an, nie so richtig einen Vater gehabt, und wollte mir auch bissel jemanden suchen, für den ich wenigstens ne Vaterstelle so annehmen kann, quasi.“ (T, S. 10)
Der Lehrerberuf ist die Alternative, um etwas mit Kindern tun zu können. Aufgrund seiner literarischen Interessen fiel die Entscheidung auf die Fächerkombination Deutsch/Russisch. Ein wichtiges Erlebnis war dann ein einjähriger Studienaufenthalt in der Sowjetunion gerade in der beginnenden Ära Gorbatschows. Die dort gebildete Seminargruppe, in der er auch seine spätere Frau findet, konnte in großer Eigenverantwortlichkeit das Studium in Form und Inhalt gestalten: „Dort hat man erlebt, wie Leute aufgeblüht sind“ (T, S. 14). In dieser Aufbruchstimmung öffnet sich auch die Arbeit der Parteigruppe, und Herr Thalstett tritt unter dem starken Eindruck von Glasnost und Perestroika im Frühjahr 1987 in die SED ein. Nach seiner Rückkehr in die DDR erlebt er die dortige Situation allerdings als herbe Enttäuschung.
Die Wende: Zwischen Skepsis und Aufbruch
Im August 1989 tritt Herr Thalstett nach zuvor mit sehr guten Noten abgeschlossenem Examen seine Lehrerstelle an. Er und seine Frau, ebenfalls Lehrerin, konnten sich damals mit den Protesten nicht identifizieren. Interessanterweise bezeichnet er die Wende als „Privatsache“ und kennzeichnet damit die Situation, dass im Kollegium kaum über die politische Entwicklung diskutiert wurde, obwohl natürlich die aktuellen Auswirkungen (SchülerInnen, die mit ihren Eltern in den Westen gingen, Einführung des Privatfernsehens etc.) präsent waren. In dem anschließenden Prozess, den er mit einem Zeitraum von ca. zwei Jahren ansetzt, folgen Phasen der Hoffnung auf Phasen der Ernüchterung. Selbstbewusst die neue Freiheit nutzend, tritt er dann aus der Partei aus, als er an deren Reformfähigkeit zweifelt. Die Wende als gesellschaftliches Ereignis erscheint Herrn Thalstett – allerdings erst rückblickend und nach intensiver Lektüre – als eine logische Konsequenz der gesellschaftlichen Entwicklung.
Schule lief in der Zeit der Wende an seiner POS erst einmal weiter, und Herr Thalstett konnte im Umgang mit seiner fünften Klasse ein Stück weit seine Vorstellungen des pädagogischen Umgangs einlösen und den Kindern helfen, so gut wie möglich die Wirren der Wende zu meistern. Generell wurden viele politische Elemente aus dem schulischen Alltag entfernt. Hierauf geht Herr Thalstett nicht näher ein, wohl auch deshalb, weil er als Lehrer in sie bisher kaum eingebunden war. Die damit bewirkte Entideologisierung wird von ihm mitgetragen. Stärker krisenhaft erlebt Herr Thalstett die Situation erst 1991 als die Schulreform und damit der Übergang in eine neue Schulstruktur konkret wird.
An der Schule entwickelte sich eine ,Endzeitstimmung’. Aus der Schilderung wird deutlich, dass ihm der Abschied von der Klasse, mit der er zwei Jahre lang seinen pädagogischen Vorstellungen entsprechend relativ ungezwungen arbeiten konnte, sehr schwer fällt. Er bedauert, dass die entstandenen Beziehungen abgebrochen werden. Die gleiche Trauer äußert er bezüglich der KollegInnen der POS. Die relativ kleine Schule mit dem überschaubaren Kollegium und den gemeinsam durchgestandenen Wendeprozessen ist ihm ans Herz gewachsen. Aufgrund seiner Bewerbung wird Herr Thalstett an das Carolineum, ein wieder erstandenes Traditionsgymnasium, versetzt. Entgegen den Befürchtungen führt die Schulstrukturreform für Herrn Thalstett damit zu neuen Möglichkeiten, auch wenn er dem Gymnasium Skepsis entgegenbringt. Diese Skepsis entspringt u.a. einer Unsicherheit darüber, inwieweit er in der Lage ist, die noch unklaren gymnasialen Erwartungen zu erfüllen. Ihm war zudem bewusst, dass er mit der Fächerkombination Deutsch/Russisch in der neuen Situation in eine Problemzone geriet. Durch ein berufsbegleitendes Studium eines neuen Faches (Sozialkunde) sichert er die neue Position am Gymnasium ab und beginnt später ein Studium für das Fach Ethik, das zur Zeit unseres Interviews noch nicht abgeschlossen ist.
Die Zeit nach der Schulreform beschreibt Herr Thalstett vor allem über Erfahrungen mit den Klassen, in denen er unterrichtet. Aus seinen Äußerungen werden dabei Probleme deutlich, die der aus den politisch-gesellschaftlichen Veränderungen resultierende Schulsystemwechsel für ihn wie auch für Schüler und Eltern mitbringt. Die veränderte Schulstruktur und das Fachlehrerprinzip wirken sich negativ hinsichtlich des Kontinuitätsbedürfnisses von Herrn Thalstett aus, insbesondere den Mangel an stabilen und länger währenden sozialen Beziehungen, wie er sie aus seiner eigenen Schülerzeit kennt, beklagt er vehement.
Zum Rollenselbstverständnis
Bevor Herr Thalstett an das Gymnasium kam, hat er als Schüler (POS und EOS) und später als Student (POS) und Berufsanfänger (POS) andere Schulen kennengelernt. Während seiner Schülerzeit erlebte er die Schule nicht mit der Perspektive, selbst Lehrer zu werden. Für ihn gewinnt die Schule aufgrund der als problematisch erlebten familiären Situation besondere Bedeutung. Im Interview hebt er dies wiederholt hervor. Er meint dabei nicht den Unterricht. Wichtig aus seiner eigenen Schulzeit sind ihm vielmehr die klassenbezogenen Funktionen sowie die außerunterrichtlichen Aktivitäten, da sie familiäre Beziehungsdefizite kompensieren halfen und selbstwertstabilisierend und selbstbewusstseinsförderlich wirkten. Sein Bild von ‚guter Schule’ wird durch diese Erfahrungen geprägt. Herr Thalstett betont in seinen Äußerungen zur Lehrerrolle und zur Lehrertätigkeit das „Pädagogische“. In einer „guten Schule“ muss dieses „laufen“. Er versteht sich weniger als Fachlehrer sondern eher als Pädagoge. Da die angesprochenen Aktivitäten letztlich der Unterstützung und – bei Konflikten – der Rückendeckung durch LehrerInnen bedurften, wird auch seine Vorstellung von einem guten Lehrer durch deren extracurriculares Engagement geprägt.
Im Zusammenhang mit der Schulreform entfiel die frühere Verpflichtung der Lehrer für gemeinsame Aktivitäten mit ihren Massen sowie deren organisatorische und finanzielle Grundlage. Bei Herrn Thalstett wird dieser Prozess im Übergang von seiner früheren POS zum Carolineum schmerzhaft erlebt und der verstärkten Leistungsorientierung an der neuen Schulform, dem Gymnasium, angelastet.
Die dominante schulische Orientierung auf Selektion, der weitgehende Wegfall des beziehungsstiftenden außerunterrichtlichen Teils der Lehrertätigkeit, eine veränderte Schülerschaft sowie fehlende Handlungsstrategien für einen veränderten Unterrichtsstil führen zu einer noch andauernden Verunsicherung. Bezeichnenderweise macht Herr Thalstett kaum Aussagen zu konkretem Unterrichtshandeln. Diesbezüglich entstehen gewissermaßen „weiße“ Flecken, die auch im Nachfrageteil nicht ausgefüllt werden konnten.
Fußnoten:
(1) Aufgrund des begrenzten Raumes arbeiten wir nur am Anfang und an zentralen Stellen mit Belegzitaten, wissend, dass dadurch die Nachvollziehbarkeit der Interpretation beschränkt ist. Die transparente Darstellung von Ergebnissen komplex angelegter Projekte erweist sich als generelles Problem.
(2) Es wurde für die Transkription eine für die Schriftsprache typische Form gewählt. Pausen werden durch Punkte in Klammern (…) angegeben, wobei jeder Punkt für eine Sekunde steht. Betonte Wörter werden durchgängig mit großen Buchstaben geschrieben. Nonverbale Aspekte sind in verbalisierter Form in Klammern festgehalten.
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