Falldarstellung

Beobachtungen zur pädagogischen Situation

Die pädagogische Atmosphäre der Klasse 11b wurde mir von allen drei Hauptfachlehrern, welche die Klasse im vergangenen Jahr unterrichteten, mit folgender, scheinbar widersprüchlicher Formel in den ersten Tagen des neuen Schuljahres beschrieben: Die Klasse sei „unerträglich passiv“ und „unausstehlich verratscht“, zugleich aber „durchaus leistungsstark“.

Alle Kurzcharakteristiken wurden in einem leicht sarkastischen Unterton vorgetragen. Der Widerspruch – „unerträglich passiv“ und zugleich „leistungsstark“ – wurde von allen Lehrern als paradox empfunden.

Die Abwehrkultur
In den ersten Unterrichtstagen entstanden die folgenden Notizen:

16.9.
(1) Die Klasse sitzt in auffällig asymmetrischer Sitzordnung: Schwerpunkt in der hinteren Fensterreihe. Die beiden attraktivsten Mädchen in der letzten Bank, davor eine Jungenclique, die entweder mit sich selbst oder mit den Mädchen beschäftigt ist.
(2) Relativ stabil ist die Arbeitsgruppe nur dann, wenn Thema und Ziel klar vorgegeben sind und erheblicher autoritärer Zwang ausgeübt wird.
(3) In der ersten Stunde entsteht eine eigentümliche, fast suchtartig zu nennende Verschmelzungstendenz, als ich über die Ziele und den Sinn des Deutsch-Unterrichts in einer 11. Klasse spreche. Ich versuche ein Idealbild zu entwerfen: „Inhalte und Diskussionen, die Selbständigkeit und Ablösung fördern…“ – Die Klasse verfällt bei diesen Worten in ein tranceartiges Schweigen.
(4) Rasche Entstrukturierung entsteht jeweils, wenn sich der Zwang lockert. Auch wenn Fragen diskutiert werden, die Schüler sonst eigentlich interessieren müßten (Klassenfahrt, Mitbestimmung zur Lektüre, Diskussionsthemen), entsteht ohne massiven Zwang keinerlei Konzentration. Stattdessen breitet sich bei jeder Gelegenheit eine ungewöhnlich lustbesetzte „Ratschkultur“ aus. Mein erster Eindruck hierzu: Es handelt sich um eine Fluchttendenz. – In der dritten Unterrichtsstunde riskiere ich die erste Konfrontation; „Seid ihr etwa ein bißchen verratscht…?“ Schallendes Gelächter in der Klasse, dann sofort wieder Ratschen, als wäre nichts gewesen. Ein von Humor getragenes Realitätsprinzip hat offenbar keine Chance!
(5) Nach den ersten Gesprächen über Themen und Lektüre im Deutsch-Unterricht entsteht in mir die Phantasie, daß die Klasse sich den Unterrichtsstoff so zurechtlegt, wie Kinder die guten und weniger guten Happen beim Essen. Zunächst sollen die Klassiker irgendwie hinuntergewürgt werden, damit man im zweiten Halbjahr nur noch von Pudding und Süßigkeiten leben kann.
(6) In verschiedenen Situationen wird deutlich, daß Party-Phantasien dominieren. Als Vorschläge für den Wandertag: auf die Wies’n gehn, oder zum Skifahren auf das Zugspitzplatt (September!). Eine Stadtbesichtigung scheint uninteressant, Wandern wird kategorisch abgelehnt. Ich setze eine Fahrt nach Nürnberg autoritär durch.

23.9.
Nach sechs weiteren Unterrichtsstunden zeigen sich hinter der dominierenden Ratsch-Flucht-Kultur noch andere Tendenzen, die mich in wachsendem Maß zu belasten beginnen. Erstmals weht mich ein Gefühl von Sinnlosigkeit in dieser Klasse an. Ich hatte scheinbar nur zwei Möglichkeiten: entweder die Klasse absichtlich und sehr bewußt zu kränken, um etwas in Bewegung zu bringen, oder selbst zu resignieren, ja zu verzweifeln.

Die Gegenübertragungsproblematik
Nach ca. drei Wochen bildet sich als Gegenübertragungsproblem etwa folgende Konstellation heraus: Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt versucht, die Klasse geduldig und verständnisvoll auf ihre Fluchttendenzen aufmerksam zu machen, sprach nun aber die erkennbare Apathie und Schläfrigkeit mit immer drastischeren Bildern an („müde Ritter ohne Waffen“), spüre nun aber, daß es mir zunehmend schwerer fällt, diese spöttische Ermunterer-Pauker-Rolle weiter zu spielen. Die Klasse ihrerseits entwickelt mit ersten, allerdings sehr schwachen Ansätzen zur Selbstkontrolle, die für einen geregelten Unterrichtsablauf jedoch immer noch nicht ausreichten, eine zugleich übergroße und starke Distanz und eine wachsende Tendenz zur Fremdheit mir gegenüber. Ich glaube, in eine Art pädagogische Zwickmühle zu geraten: Einerseits muß ich, um überhaupt unterrichten zu können, immer wieder die Rolle des Paukers übernehmen andererseits ruft diese Rolle nur eine wachsende Abwehrreaktion hervor. Da die Klasse nur sehr schwache Anstrengungen unternimmt, die für eine Arbeitskultur notwendigen Minimalforderungen einzuhalten, wächst in mir das Bedürfnis, durch Strenge, Leistungsforderungen oder gar Kränkung mich zu rächen.

In der Terminologie der metapsychologischen Begriffe ließe sich das Gegenübertragungsproblem vielleicht so fassen: Die Klasse delegierte eine massive Über-Ich-Problematik an mich und in mir wurde durch die Übernahme einer rollenkonformen, komplementären Identifikation die Chance zur Einfühlung in die Schüler vorerst zerstört. Im System einer globalen Abwehr dominierte ein „präautonomes Überich-Schema“ (Moser 1964, 67). Die Lehrer-Schüler-Beziehung mußte in diesem Sinne immer wieder manipuliert werden. Die Motivierung und Aktivierung der Schüler hätte in der vorliegenden Konstellation das Kunststück fertigbringen müssen, diese Über-Ich-Rolle zum Teil zu übernehmen, ohne die Bereitschaft zur Empathie zu verlieren; der auf trianguläre Beziehungsmodi insistierende Lehrer müßte immer wieder verständlich machen und selbst realisieren, daß er nicht mit einer verfolgenden, sich rächenden Mutter identisch ist. Erst mit der Durcharbeitung dieses Grundstörungskomplexes wäre die Chance zur kreativen Selbstdarstellung der Schüler wieder gegeben. Die durch Verleugnung und Spaltung zerstörte Praxis des Unterrichts müßte durch die bewußte Handhabung der Übertragungs-Gegenübertragungs-Konstellation wieder repariert werden.

Den vorläufigen Endpunkt in dieser Entwicklung bildete ein Konfliktgespräch, das von der Klasse ausdrücklich gewünscht wurde, nachdem ich die Schüler etwa seit Mitte Oktober unnachgiebig und unerbittlich mit ihrer passiven Haltung konfrontierte:

11. November
Die Schüler erklären mir, durchgehend in vorwurfsvollem Ton, daß sie zwar am Niveau und an meiner Gestaltung des Deutsch-Unterrichts nichts auszusetzen hätten, daß sie sich aber durch den Tonfall meiner Konfrontationen gekränkt fühlten. Die zweite Klassensprecherin gibt eine psychologische Deutung: Ich hätte wohl als Lehrer Angst, von der Klasse zerstört zu werden. Tatsächlich war mir der „paranoide“ Anteil in meiner „Gegenübertragung“ zu diesem Zeitpunkt nur sehr vage bewußt. Ich deutete jedoch – ohne das allerdings der Klasse mitzuteilen – die Bemerkung der Schülerin als Ansatz zur Überwindung der paranoiden Position, als „Sorge um den Lehrer“.

Das tragende Motiv für ein Unterrichtsprojekt in dramatischem Gestalten

Der Wunsch, mit der Klasse 11b in einem eigens dafür bestimmten Unterrichtsprojekt Formen des kreativen Schreibens zu erproben und evtl. über szenische Bearbeitung eines dramatischen Textes die Schüler zu einer selbstgestalteten Inszenierung anzuregen, entstand in diesem Fall etwa in der Mitte des Schuljahres, nachdem diese Klasse den eben skizzierten langen, sehr krisenhaften und für mich sehr anstrengenden Weg der Auseinandersetzung bereits hinter sich hatte. Der entscheidende Impuls – und mit ihm Neugierde und Vertrauen – entstand in unmittelbarem Zusammenhang mit einem eher zufällig, ja fast absichtslos veranstalteten Versuch in kreativem Schreiben im Deutschunterricht.
(…)
Ich war sehr positiv überrascht von den zahlreichen Einfällen aller Schüler zu den Märchenvorlagen und ich fühlte mich etwas rätselhaft angezogen von der provozierenden Bildlichkeit des Märchens, das Ludwig produzierte. Dahinter aber stand eine pädagogische Gesamtsituation, in der sich so etwas wie eine „sublimierte Gegenübertragung“ (Racker 1982, 161) langsam Geltung verschaffen konnte. Der Einfall zum Unterrichtsprojekt kam wohl nicht zufällig gerade in dem Augenblick, als sich in der pädagogischen Beziehung zur Klasse nach monatelangem Konflikt so etwas wie eine „Wiedergutmachungstendenz“ anzubahnen begann.

Das Unterrichtsprojekt:
Über das Thema „Langeweile“ und „Gleichgültigkeit“ zu Büchners Szene U3 in Leonce und Lena“

Ich möchte nun die entscheidende Phase in der Projektarbeit mit der Klasse 11b zunächst aus der Perspektive von Protokollnotizen darstellen, die jeweils unmittelbar nach dem Unterricht entstanden sind.

22.3.
Das Projekt „Dramatisches Gestalten“ war seit 14 Tagen angekündigt und von einer Mehrheit der Klasse ausdrücklich gewünscht. Bekannt war dabei den Schülern nur der Autor – Georg Büchner -, nicht der Text des Stückes. Das Votum der Schüler war also nicht primär themabezogen, sondern auf die Tatsache einer eventuellen Inszenierung gerichtet.
Die Stunde beginnt (wie sonst auch) damit, daß ich ca. 3 Minuten warten muß, bis es ruhig wird. Die Klasse beruhigt sich nun aber ohne Druck und ohne Drohungen. Die Fenster sollen auf Wunsch der Schüler offen bleiben, obwohl von unten sehr störendes Schülergeschrei zu hören ist. Schreien, Ratschen, Faxen einer Klasse, die eine Stunde früher nach Hause gehen darf. Erneutes lautes Schülergelächter von unten. Ich bestehe darauf, daß die Fenster wenigstens zum Teil geschlossen werden.
Zunächst wird, ohne weitere Erläuterungen meinerseits zum Thema, die Sitzordnung im Raum verändert. In der Mitte soll ein Bühnenraum entstehen. Nun zeigen einige Schüler deutliche Zeichen von Spannung und von erregtem Interesse, was kommen würde. Ich nehme auf einem Stuhl am Rande dieses Bühnenraumes Platz. Ein Schüler möchte wissen, worum es in „Leonce und Lena“ geht. Ich gebe eine kurze Inhaltsangabe und erläutere das Projekt. Erstes Ziel: die Bearbeitung einer einzelnen Szene. Wenn ihr mehr wollt, können weitere Textstellen für eine Inszenierung vorbereitet werden. Neben der Thematik der Heirat der Königskinder und neben der Gesellschaftskritik sei in diesem Stück ein wichtiges Thema die „Langeweile“. Ich schreibe das Wort an die Tafel. Mein Vorschlag, sozusagen „zum Aufwärmen“ und „als erste Annäherung“, eine Art „Scharade“ zu diesem Wort zu spielen. Die Schüler sollen in Paaren das Wort „Langeweile“ durch Pantomime illustrieren; auch Dialog sei erlaubt.
Die Schüler texten, spielen und arbeiten sich nun in weiteren vier Unterrichtsstunden an das Thema und den Inhalt der Szene U3 in Büchners „Leonce und Lena“ heran. – Dabei entsteht in dieser als „Antizipation“ konzipierten Lernphase in fast zyklischer Wiederholung das Problem, daß die Lerngruppe mit ihrer eigenen wachsenden Aggressivität konfrontiert wird. Ich selbst bin in mehreren kritischen Situationen irritiert über das Auftreten solcher „konkretistischer Tendenzen“. – Den Schlußpunkt bildet eine Phase der Gruppenarbeit, die ich im Folgenden anhand von Protokollen wiederum ausführlich darstellen möchte:

2.4.
Das Ziel dieser Stunde ist eine erste Annäherung an die Büchner-Szene. Die Schüler müssen sich erst ein gewisses Textverständnis erwerben, bevor die szenische Bearbeitung fruchtbar werden kann. Die Aneignung durch Bearbeitung soll die „eigene Sicht“ der Dinge ins Spiel bringen können, sie darf also ganz auf der Stufe „bornierter Subjektivität“ bleiben.

3.4.
Die Stunde zerfällt in zwei Phasen mit gänzlich unterschiedlicher Psychodynamik: (1) Vorklärung zur Technik der „szenischen Bearbeitung; (2) Gruppenarbeit. Der erste Teil verläuft zäh und ist erfüllt mit Widerstand, der zweite entwickelt nach kurzer Zeit eine sehr lustbetonte Dynamik.

4.4.
Eine Stunde Gruppenarbeit am Text ohne jede Unterbrechung! Die Gruppen arbeiten sehr unterschiedlich, zum Teil ernst und konzentriert, zum Teil entwickeln sich enorme Regressionen. Ich notiere mir Stichworte:

Gruppe 1 „Johnny de Barone“. Die Schüler arbeiten sehr konzentriert und zugleich mit Spaß; zwischendurch wieder ernst. Aktiv sind hier vor allem die Mädchen.

Gruppe 2 „Milieu des Komödienstadls“. Die Gruppe arbeitet sehr ernst. Alexandra möchte wissen, ob es erlaubt sei, Leonce und Rosetta durch zwei Homosexuelle zu ersetzen. Ich kann mir das vorstellen. Ein Konflikt entsteht zwischen Alexandra und den beiden Jungens der Gruppe. Die Atmosphäre bleibt sehr gespannt. Die Schüler sind am Ende sehr unzufrieden mit dem, was entstanden ist, die Szene hätte „keinen Witz“.

Gruppe 3 „Münchner Realsatire“. Die Gruppe arbeitet sehr konzentriert; zweimal entsteht ein sehr lautes Gelächter.

Gruppe 4 „Szene im Weltraum“. Diese Gruppe ist atmosphärisch der absolute Gegenpol zur übrigen Klasse. Hier kommt es mitunter zu einer fast totalen Regression; zunächst kindlich bis kindisch, dann wird es so lustig, daß sich einzelne Schüler die Haare zu raufen beginnen. Gelächter und irrer Blick. Ludwig dreht sich zur Wand und schreibt mit Kreide: „Du Sau…!“ Auch die sehr intelligente und sonst sehr nüchterne Anja (Deutschnote 1,0) amüsiert sich köstlich. Als ich zweimal in die Nähe dieser Gruppe komme, wendet sich Peter an mich: „Ich fühle mich durch Sie beobachtet“. – Um nach der Stunde etwas klarer zu sehen, frage ich Peter, was denn an ihrer szenischen Bearbeitung so lustig gewesen sei. Er antwortet, inzwischen wieder etwas nüchterner: Weder die Idee, noch ihre Einfälle seien besonders witzig, sondern sie hätten sich einfach darüber amüsiert, daß sie so komische Ideen entwickelten; sie seien während der ganzen Zeit „völlig neben sich gestanden“.
Meine Gegenübertragung auf diese Gruppenarbeit war jedoch enorm stark. In der Beziehung zu dieser Gruppe erlebte ich nun alles wieder, woran ich zu Beginn des Schuljahres bereits litt. Die Gruppe schien alle Regressionslust auszuagieren, zu der sie in der Schule fähig war. Ich spürte, wie dabei meine Abwehr von Minute zu Minute wuchs und eigentlich in Ausstoßungsphantasien endete: Eine solche Regressionslust fand ich unerträglich, ein solches „Pippi-Fax“ würde ich gerne loswerden.

Gruppe 5: Benjamin und Walter arbeiteten an einem „Stück im Stück“, in dem die Idee der „Publikumsbeschimpfung“ weiter verfolgt werden sollte.
Ich selbst spüre nun allerdings auch am Nachmittag das dringende Bedürfnis, aus der entstehenden Verstimmung wieder herauszukommen, diese Art von „Party“, die sich zum Teil hier andeutete, wieder zu verlassen. Die Phantasien der Schüler mußten sich wieder mehr in Richtung „Realität“ bewegen. Die dominierende und merkwürdige Mischung aus Konfusion und Verleugnung, die sich in der Gruppe „Szene im Weltraum“ ausbreitete, die eigentlich Symbolbildung nicht mehr zuließ, empfand ich unerträglich. Mir fiel das Gedicht vom „Zauberlehrling“ ein, der Kräfte weckt, denen er dann selbst nicht mehr gewachsen ist, die sich dann darum verselbständigen können: „Ach, merk’ es! Wehe! Wehe, hab’ ich das Wort vergessen!“ –

Erst am späten Nachmittag kommt der befreiende Einfall. Plötzlich beschäftigt mich, nach Wochen erstmals wieder, das Sau-Märchen von Ludwig. Zwischen diesem Märchen und meinem Erleben der Gruppenarbeit gab es eine Analogie. Ich hatte mir bis zu diesem Zeitpunkt offenbar meine eigene Rolle in der von Ludwig entworfenen Phantasieszene zu wenig klargemacht. Und nun kam mir der Einfall, daß ich vielleicht in dieser Szene die Rolle einer in Ohnmacht und Ekel erstarrenden Mutter spielen sollte. Dies war es vermutlich, was an mich delegiert wurde. Die innere Bewältigung dieser Gegenübertragungsproblematik konnte nur dann darin bestehen, daß es mir gelingen würde, mich von dieser Gruppe innerlich stärker zu lösen. Die Kräfte, die hier offenbar zur Darstellung drängten, mußte ich ohne „Ach“ und „Wehe“ akzeptieren können. Genau genommen hieß die Szene doch nur: Hier haben Sie unser produktives Chaos. Auch in meinen Zauberlehrlings-Phantasien steckte noch ein Stück Abwehr.

3.5.
Das Sau-Märchen als Gegenübertragungseinfall hatte mich gestern zwar wieder „ins Gleichgewicht“ gebracht, aber die Phantasie, daß die Gruppenarbeit zu keinem brauchbaren Ergebnis führen könnte, hielt bis heute an. Ich war fest entschlossen, dem gegenzusteuern, so gut es ging. Die didaktische Konzeption zur Stunde bestand darin, alle Ideen der Schüler zunächst vortragen zu lassen, dann aber „sinnvolle“ Gestaltungskerne herauszustellen und weiter zu diskutieren. Ich wollte also das „Spiel“ retten, und hatte mir bereits Notizen gemacht, welche der Schülerideen denn brauchbar seien. – Doch es kam wieder ganz anders: Die Schüler entwickelten, so mein erster Eindruck, durchgehend interessante Varianten zur Büchner-Szene. Und noch mehr: Die Klasse war nun zum ersten Mal offensichtlich selbst fasziniert von dem, was hier entstanden ist. Sie folgte mit größter Spannung und mit größtem Interesse den verschiedenen szenischen Entwürfen. –
Ich meinerseits bin nun sicher, daß so etwas wie „Übergangsaktivität“ in Gang gekommen ist.
Bevor nun die Arbeit an den so entstandenen „szenischen Bearbeitungen“ erneut aufgenommen werden sollte, inszenierten zwei Schauspielgruppen jeweils ihre Version des Originaltextes als Rollentext. Am 24.4. versuchte ich mit der Klasse dann zusätzlich über die Technik „Subtext“ und „Alter Ego“ die emotionale Tiefendimension des Büchnertextes herauszuarbeiten. Am 26.4. erfolgte eine zweite Bearbeitung der szenischen Ideen; in den letzten Minuten muß die Rollenverteilung für eine Videoaufzeichnung besprochen werden, die in der Woche vor den Pfingstferien vorgenommen werden soll.

7.5. (letzte Stunde am Projekt)
Abschlußarbeiten. Ich habe nun selbst das Gefühl, das „Spiel ist ausgespielt“ – im Sinne von Spielsättigung. Eine Gruppe hat den Text schon abgetippt, zwei Gruppen arbeiten noch an Feinheiten, die Gruppe „Weltraum“ sammelt allerdings noch neue Ideen (in starker Orientierung am Text Büchners).
Daß nun die Gruppe „Weltraum“ erstmals sehr ernst am Text arbeitet, zudem völlig autonom, rechne ich zu den größten Erfolgen des Projektes. Nach zwei Stunden Regression findet die Gruppe offenbar ein inneres narzißtisches Gleichgewicht. Zu meiner Überraschung ist nun Peter Protokollführer, Michael sitzt etwas abseits. Nur einmal, für wenige Minuten, platzen erneut alle Schüler aus den Nähten, dann aber geht es sofort konzentriert weiter.

Story

8.5.
Zum ersten Mal in diesem Jahr eine ideale Arbeitsatmosphäre in der Klasse (5. Stunde. Glosse – Textanalyse).

9.5.
Eine völlig gewandelte Klasse! Motiviert und konzentriert zugleich. Ludwig stellt zum ersten Mal in diesem Jahr in einem Gespräch, das sich im Unterricht ergibt, völlig normal und entspannt offenen Blickkontakt zu mir her. Er hat sich gut vorbereitet und referiert über seine Textanalyse.

16.5.
Heute zeigt sich zum ersten Mal seit zwei Wochen wieder eine Tendenz zur Spaltung und Verleugnung. Die Clique um Ludwig versinkt, diesmal allerdings in starkem Kontrast zur übrigen Klasse, in einen Zustand der Regression. Es ist die letzte Stunde vor der Deutschschulaufgabe!!
Auf den gesamten Entwicklungsprozeß der Klasse bezogen waren in den letzten Wochen des Schuljahres Veränderungen im Bereich der „sozialen Wahrnehmung“, der „Gruppenabwehr“ und des „narzißtischen Gleichgewichts“ der Lerngruppe zu beobachten. Fünf Schüler wollten nachträglich am Leistungskurs Deutsch teilnehmen, den ich im folgenden Jahr übernehmen sollte; die Klasse hielt ein stabiles Niveau der Arbeitsgruppe auch dann durch, wenn einzelne Schüler durch regressives Verhalten störten; das Selbstwertgefühl und die gegenseitige Wertschätzung waren, wie eine schriftliche Befragung der Schüler nach Abschluß des Projektes ergab, signifikant gewachsen.

Ich darf an dieser Stelle die vier von den Schülern erarbeiteten Szenen, die für die Videoaufzeichnung entstanden sind, einrücken:

Georg Büchner LEONCE UND LENA Bearbeitung der Szene U3 durch die Klasse 11b 1989/90

 l. Gruppe: Johnny de Barone

Charakter des Johnny de Barone: Millionärssohn, wunschlos, gelangweilt, Golfspieler, verwöhnt, von seinen Eltern verhätschelt, sehr eingebildet, stets Urlaub in der Karibik, tritt in Grau/Grün auf, von Annette total gelangweilt, liebt sie.

Charakter der Annette: auf Anstand getrimmte Tusse, tritt in Pink auf, liebt Johnny aufrichtig. Charakter des Wilfried: ältere Person, vom Vater angestellt, damit dem Sohn nichts passiert, witzig, mit Bierbauch, ist von Johnny gelangweilt, weil er ihn schon lange kennt.

Johnny de Barone liegt in der Hollywood-Schaukel vor einem Swimmingpool. Hinter ihm berieselt ihn eine Hifi-Stereoanlage mit HeavyMetal. Er trägt eine schwarze Sonnenbrille, raucht eine Zigarette Marke Yves Saint Laurent, In der Hand hält er ein Glas Whisky on the rocks. Er baumelt mit einem Bein und sieht gelangweilt zum Himmel empor.

Joh.: (will Action, singt falsch bei der Musik mit) Wo ist der Champagner? Ich will mich besaufen! Wo sind die ander’n? Wie können die mich so allein lassen? Ich brauch Action! Ich will Annette! (Annette kommt)

Ann.: (schmeichelnd) Johnny!

Joh.: (gähnt) Hi, Baby.

Ann.: Oh, Johnny.

Joh.: Hi, Süße! Nice to see you. (zweimal gähnend)

Ann.: Aber Johnny, was ist denn mit dir los? Warum bist du denn so langweilig? Hast du etwa eine neue Freundin?

Joh.: (nimmt einen Schluck Bacardi) Ich hab` jetz` null Bock auf nix. Komm zu mir auf die Matte. Ich will endlich Action! (legt eine neue Cassette ein)

Ann.: Ich langweile dich doch nicht etwa?

Joh.: Aber sicher nicht.

Ann.: Aber?

Joh.: Der Bacardi kotzt mich an, die Zigaretten geben’s mir nicht mehr.

Ann.: Ist das der Dank dafür, daß ich jetzt da bin? Ich liebe dich und du? Du machst dir einen Spaß daraus! Bin ich dein Spielzeug? Ich muß die Kleider anziehen, die dir gefallen, ich muß mich anmalen, wie’s dir paßt, ich muß, ich muß, ich muß! Ich tanz’ hier wohl nach deiner Pfeife …(wird ruhiger). Liebst du mich?

Joh.: Warum nicht? Aber ich will jetzt g’scheite Action. Es ist aus!

Ann.: (geht bestürzt und traurig weg, sie singt im Abgehen).

Ich bin eine arme Waise,
Ich fürcht mich ganz allein.
Aber lieber Gram
Willst du nicht kommen mit mir heim?

Joh.: Das hab’ ich jetzt wohl voll geil hingekriegt, woah cool, da fühl ich mich gleich viel besser. Blödes Getu um die Liebe, was soll das eigentlich alles? Immer ne Neue und nix dahinter. Sin’ alles Nieten. „Mein Leben stinkt nach Branntwein“, um Woyzeck zu zitieren. Hey ich brauch’ neuen Bacardi! (zu sich) Laßt uns nachdenken,… nachdenken: Dieses ganze Spießerleben ist ein ätzender Misthaufen. Alles öde. Volles Programm und null Action (trinkt einen Schluck). Hey, Johnny, du peilst die Lage ‘mal wieder voll ab. Spiel mir das Lied vom Tod (dreht die Musik auf volle Lautstärke)

Wil.: Ich denke, Johannes, Ihr seid auf dem besten Weg in die Gummizelle.

Joh.: Was geht da ab? (neugierig, leise) Hoffentlich verpasse ich nichts (dreht die Musik leiser). Hi, Willi, setz’ dich zu mir.

Wil.: Johannes, Ihr wollt doch immer Abwechslung. Wie wär’s mit was zu essen? Ich habe noch ein Stück Braten zu verzehren und Wein. Aber betrinkt Euch nicht wieder, Johannes!

Joh.: Schmatz nich’ so, Alter. (zu sich) Hey, der Willi bringt mir Action. Beim Scheppern seiner Dritten könnte man direkt Hunger kriegen.

Wil.: Aber Johannes – Sie entfernen sich von der hohen, deutschen Sprache. Leider ist die Prügelstrafe abgeschafft.

Joh.: Mann, Opi, meine Erziehung ist ja wohl mein Bier. (greift zum Glas)

Wil.: Dein Vater hat Euch erzeugt, ich Euch erzogen. Ich erziehe den Erzeugten, den Sohn des Erzeugers, den schon mein Erzeuger erzog. Oh, Himmel, die Muse kömmt mir.

Joh.: Hey, dreh mal den Philosophiehahn zu, ich check’ echt null von dem, was du da von dir gibst.

Wil.: Aber Johannes, Ihr seid der Ungebildetste der Ungebildeten, den ich ausbilden wollte.

Joh.: Du unverschämter Lümmel! Du brauchst wohl’n paar in die Fresse! (hüpft von der Schaukel, stolpert, fällt in den Pool)

Wil.: Ihr seid kläglich verweichlicht, weich wie Eure Waden, Waden aus schmelzendem Wachs, müssen noch wachsen. Ach, Johannes, Ihr werdet es nie zu etwas bringen, wie Eure Waden.

2. Gruppe: Milieu des Komödienstadls

Es ist im August 1960. Mechtild von Stolzenfels, Mitte 40 und aus dem hohen Norden, verbringt ihren Urlaub auf einem Bauernhof in Huglfing im bayrischen Oberland. Den Hof bewirtschaftet der Jungbauer Xaverl mit seinem schon etwas verkalkten Opa Peperl. Zwischen Mechtild und dem Xaverl ist eine Ferienliebe entstanden.

Xaverl macht für sich und Mechtild auf der Heutenne ein Bett bereit. Mechtild kommt die Leiter hochgeklettert.

Mechtild: Xaver

Xaverl: Mechtild

Mechtild: Xaver

Xaverl: Mechtild

Mechtild: Was schaust du denn schon wieder so gelangweilt? Doch bestimmt nicht, weil du mich siehst, oder? (sie spricht mit drohendem Unterton)

Xaverl: Ge mei, ja woast, i bi hoid so miad (entschuldigend).

Mechtild: Ja, mein armer kleiner Schatz.

Xaverl: Mei Mechtild, i hob ja so uvi Arbat, imma de selbe.

Mechtild: Jetzt sage bloß noch, daß du heute keine Lust hast?

Xaverl: Recht host, i muaß nämlich no an Stoi ausmisten.

Mechtild: Jetzt stell dich doch nicht so an, das ist doch gleich geschehen.

Xaverl: Laß ma do endli mei Ruah, Schluß damit.

Mechtild: Wenn hier einer Schluß macht, dann bin ich das, du warst sowieso nur ein Ferienflirt für mich, du Schlappschwanz!

Xaverl: E’ha, was is’n jetzt schowida los?

Mechtild: Meinst du etwa, daß ich dich liebe, du hast mich grenzenlos gelangweilt, in der Stadt kann ich Besseres haben als so einen Dorftrottel wie dich. Tschüß Süßer (geht ab).

Xaverl: Ja, Kruzifix, was soi i denn jetzt macha? Sauber! Geschtingt war’s no so lustig. I bi oiwei da Depp. Arbatn dua i wie a Viach, und was is da Lohn? Ja ja, sie war hoid do blos a Preiß, wenn i dagegn mi oschaug (mit Stolz in der Stimme)….! Soi’s do wida auffifahrn… (geht runter in die Stub’n).

Opa Bepo (frißt und säuft): Na, Xaverl, hast jez no koa Frau, was is’n mit da Marie, woaßt scho, mit der vom Strobl …(Pause)… Wega der jez brachst da nix denga, wenn oane scho von Stolzenfels hoast, so oane kost vagess’n, die huift da ned beim Odlfahrn… (Pause) Hast jez scho die Kua vom Huaba kaft?

Xaverl: Geh, Oida, hoids Mei, saufst mi ja no arm (greift selber zur Flasche).

3. Gruppe: Münchner Realsatire

(…)

4. Gruppe: Szene im Weltraum

ER: Sind alle Schoten dicht? Zündet die Elektrokerzen an! Weg mit dem Licht! Aus! Finsternis! Ich will Finsternis! Tiefe, ambrosische Finsternis! Wo bleibt der Wein? Wo die Musik? Her mit den CD’s! (Zum Publikum) Gleich funkt sie an. (ER jagt die Diener mit Fußtritten hinaus) Piep —Piep– -Pieeeep!

SIE: Raumschiffkommandant H-E-R-Z-I!

ER: Da bist du ja.

SIE: Raumschiffkommandant H-E-R-Z-I !

ER: (Zum Publikum) Wie immer … Ach, übrigens wie geht’s den Rosen, die ich dir gestern rübergebeamt habe?

SIE: Oh, die sind wunderschön. Nur schade, daß sie aus Plastik sind.

ER: Die Rosen sind wie unsere Liebe. Unvergänglich, aber tot.

SIE: Herz, mein Herz.

(ER verschwindet, kommt plötzlich als Steinzeitmensch wieder auf die Bühne)

ER: (Auf eine Trommel schlagend) Monolog-Monolog-Monolog….

SIE: (Mit erhobener Lanze, an der ein Luftballonherz befestigt ist) Wehe dir!

(Ein Tarzan schwingt in die Bühne) (Mit lautem Geschrei) (Der Hanswurst kichert albern herum)

(Die Diener fesseln ER und hängen ihn an den Füßen auf)

(Der Hanswurst schießt mit einer Wasserpistole auf die Mitwirkenden)

ER: ENDE!

SIE: OVER

Alle: OUT!

[Requ.: 2 Arztkittel, 4 Mülltüten, 1 Computergehäuse, Felle, Trommel ZUR BÜHNE: Hintergrund möglichst schwarz]

Interpretation

Induzierte Symbolbildung in adoleszenter Position: Der Symbolbildungsprozess zwischen Identifizierung und Individuierung

Symbolbildung ist – wie schon gesagt – kein Lernziel für Adoleszente, sie muss dem Jugendlichen nicht aufoktroyiert werden. Im Anschluss an die Interpretationen, die Erdheim (1984) und Kaplan (1988) dem Adoleszenzprozess gegeben haben, ist zunächst zu betonen, dass wir dem Strom der Phantasien, der Bilder und Gegenbilder, in dieser Entwicklungsphase nicht adäquat begegnen, wenn wir in ihm nur Spuren einer Wiederholung früherer Erfahrungsmuster und der ihnen zugrundeliegenden „Positionen“ suchen. Wenn Adoleszente über Experimentieren mit den Klischees und Integration bisher abgespaltener Aspekte des Erlebens sich ihre eigenen Deutungsmuster aufbauen, in denen sich Vergangenheitsbewältigung und auf das Künftige gerichtete Sinnentwürfe in Auseinandersetzung mit inneren und äußeren Bedingungen ihrer Entwicklungsphase stets neu bilden, so wird Adoleszenz zu einer Phase, die beanspruchen darf, nur aus sich selbst heraus verstanden zu werden. Wie in früheren Schwellensituationen des Ich, etwa der paranoiden und der depressiven Position, kommt es in der Adoleszenz zur Reorganisation des Erfahrungsbildungsprozesses selbst und es scheint angemessen, nicht nur von „Symbolbildung“, ja sogar von einer adoleszenten „Position“ zu sprechen.

Die drei Szenen des didaktischen Prozesses: (1) die Szene U3 in Büchners „Leonce und Lena“, (2) die Szene der Gruppenarbeit, (3) das Ergebnis der Gruppenarbeit in Form der szenischen Bearbeitung und der Videoinszenierung sollen nun im Sinne dieser Vorüberlegungen gedeutet werden.

Die Szene „Komödienstadl“

Die Gruppe „Komödienstadl“ war die einzige, die mich in der Phase der Gruppenarbeit im Sinne eines positiven Arbeitsbündnisses in ihre Entscheidungen einbezog. Alexandra, eine der besten Schülerinnen im Deutschunterricht, hatte offenbar zunächst in der Gruppe die Initiative ganz an sich gerissen und den Vorschlag gemacht, Büchners Szene im Milieu männlicher Homosexualität darzustellen. Da sie sich mit diesem Vorschlag gegen die beiden sonst eher passiv und zurückhaltend wirkenden männlichen Mitglieder nicht durchsetzen konnte, sollte ich als „Schiedsrichter“ klären, ob diese szenische Idee „grundsätzlich“ realisierbar sei. Ich verhielt mich neutral, machte aber deutlich, dass ein Verbot dieser Art nicht existiere. Alexandra konnte sich nun, wie das Ergebnis der Gruppenarbeit zeigt, nicht durchsetzen. Zu einer offenen Auseinandersetzung mit dem Thema männliche „Homosexualität“ kam es also nicht. Dass dennoch „Homosexualität“ als latentes Thema die szenische Bearbeitung weiter beherrscht, ist nicht zu übersehen. Die Szene lebt, dieser Vorentscheidung entsprechend, ganz von der ironischen Darstellung der Klischees der negativen ödipalen Position: Die phallische Mechtild von Stolzenfels darf ihre sexuellen Wünsche offen, aber ohne Erfolg, einfordern, der von zwanghafter Arbeit beherrschte Xaverl agiert konsequent in der passiv-ödipalen Position. Die Polarisierung zwischen den Geschlechtern ist unverkennbar von ödipalen Klischees der negativen ödipalen Konstellation beherrscht, die narzisstischen Tendenzen des bisexuellen Moratoriums scheinen, verglichen mit Büchners Szene U3, nur noch wenig Platz zu haben. Im Monolog des Xaverl dominiert das Motiv der Arbeit, die sexuelle Verdrängung als Opfer und ehernes Schicksal einfordert, nicht das Motiv der Selbstbegegnung. Als der heimliche „Herr der Szene“ und als Mischwesen besonderer Art entpuppt sich der Opa Beppo. – Dass es sich bei all dem um ein „Spiel mit Geschlechtsrollenklischees“ handelt, zeigt unmissverständlich die Doppelrolle Alexandras, also etwa der Vergleich der Originalszene mit der Szene des Komödienstadls: In Büchners Szene identifiziert sich Alexandra recht überzeugend mit der trauernden Rosetta – im Komödienstadl bleibt sie nach der Zurückweisung ganz die „Siegerin“. Das Spiel mit den weiblichen ödipalen Rollenklischees dient also hier der Darstellung „entgegengesetzter, idealisierender Fluchtpunkte“, zwischen denen der „Heranwachsende seine eigene Vermittlung“ (Schäfer 1989, 80) sucht. Andererseits wird im Blick auf die gesamte szenische Bearbeitung jedoch deutlich, dass durch das Dominieren von Identifizierungen die Darstellung verdrängter und abgespaltener Aspekte aus dieser Position nur geringen Raum einnehmen kann. Das Spiel mit der Identifizierung dient also zugleich der Abwehr. Diese relative Unfähigkeit der Schüler, sich vom passivödipalen Klischee im Spiel zu lösen, und sich dem bedrohlichen Anteil im adoleszenten Erleben stärker zuzuwenden, dürfte dann auch die Ursache für das wiederholt von der Gruppe geäußerte „Unbehagen“ mit dem eigenen Ergebnis der Gruppenarbeit gewesen sein. Wird die unbewusste negative ödipale Bindung nicht in den Prozess der adoleszenten Ich-Ideal-Bildung einbezogen, so kommt es nicht zur Entautomatisierung der Ichfunktion. Der Adoleszenzprozess bleibt unter dem Einfluss frühkindlicher Fixierung unvollständig und wird „unterbrochen“ (Blos 1962, 210), das Über-Ich wird nicht modifiziert.

„Szene im Weltraum“

Ein ähnlicher, vom Machtkampf bestimmter gruppendynamischer Prozess ließ sich in der Phase der Gruppenarbeit auch in der Gruppe „Szene im Weltraum“ beobachten. Meine Gegenübertragungsproblematik bis hin zu Gefühlen von Ohnmacht und Verzweiflung habe ich oben im Protokoll ausführlich darzustellen versucht. Diese für mich schwer zu ertragende Regressionslust der Schüler verlor für mich deutlich das Belastende in der zweiten Phase der Gruppenarbeit. Der dabei in der Gruppe zu beobachtende Prozess war ein Wechsel in der Besetzung der Führerposition. Peter wurde nach einer Phase des Rivalisierens mit Michael aus seiner dominierenden Stellung verdrängt und nun übernahm Michael die Regie. Aufgrund dieses Wechsels setzte sich auch offenbar eine neue Version des zweiten Teils der szenischen Bearbeitung durch. Ursprünglich sollte ER nach der Zurückweisung durch SIE einen „Monolog über Essen und Sterne“ halten und sich dann an einem Computer einem „Kriegsspiel“ zuwenden. Nun aber, unter dem dominierenden Einfluß Michaels, verschwindet ER und „kommt plötzlich als Steinzeitmensch wieder auf die Bühne“. Dieses Steinzeit-Urwesen setzt sich dann vor eine Trommel und schreit „Monolog, Monolog…“ Doch nun wird ER in der Position solcher Selbstgenügsamkeit von IHR und einer Gruppe von Dienern, den mit Mülltüten bekleideten Mädchen, mit einer Schlinge um den Hals erhängt. Der Wechsel und die Entwicklung der Gruppenphantasie verweist also auf einen Wandel der Darstellung zerstörerischer Tendenzen. Aus dem „Kriegsspiel“, also einem Spiel im Spiel, das zunächst Aggressivität verleugnete, wurde eine Szene des lustvollen Schmerzes und des Selbsthasses. Man könnte auch an die „Schwellenzustände“ und „Schwellenwesen“ Turners (1989, 95) denken. Schwellenwesen wie Neophyten in Initiations- und Pubertätsriten können symbolisch als Wesen dargestellt werden, die nichts besitzen. Sie mögen als Monsterwesen verkleidet sein, nur ein Minimum an Kleidung tragen oder auch nackt gehen und so demonstrieren, dass sie als Schwellenwesen keinen Status, kein Eigentum, keine Insignien, keine weltliche Kleidung, also keine Dinge besitzen, die auf einen Rang, eine Rolle oder eine Position im verwandten System hinweisen“ (95). „Tod“ und „Bisexualität“ sind nach Turner Symbole für „Schwellenzustände“, also in „Übergangsriten“ für jene Phase, in der die Situation des rituellen Subjekts durch „Ambiguität“ gekennzeichnet ist und weder Merkmale eines vergangenen oder zukünftigen Zustandes aufweist (Turner 1989, 94).

In psychodynamischer Hinsicht ist das „Übergangswesen“ des Urmenschen in der Szene der Schüler jedoch zugleich Ausdruck einer bisexuellen Abwehr und des „idealisierten Körperbildes“ (Laufer/Laufer 1984, 96). Der neue sexuelle Körper wird dann in eigentümlicher Verkehrung der Erlebnisform als Verfolger wahrgenommen, das idealisierte, bisexuelle Körperbild wird zur Zufluchtstätte, die dem Jugendlichen das Gefühl der Sicherheit noch einmal vermitteln kann (Laufer/ Laufer, 97).

Der gruppendynamische Prozess der Arbeitsgruppe „Szene im Weltall“ und die in der szenischen Bearbeitung sich objektivierenden Phantasien zeigen dabei insgesamt ein beachtliches Maß an Regressionslust, der offenbar nicht immer eine ebenso große Kraft zur Integration zur Seite steht. Die Gruppe „Szene im Weltall“ ist in dieser Hinsicht das diametrale Gegenstück zur Gruppe „Heustadl“. Die Begegnung zwischen Leonce und Rosetta wird zunächst in ein megaloman anmutendes Kontinuum von Raum und Zeit hineinphantasiert, das alle realistischen Möglichkeiten auch zur Inszenierung sprengen musste. Die Begegnung des Paares bleibt ein kosmisches Ereignis. Identifizierungen aus dem Bereich des ödipalen Erlebens treten zurück. Auch das Spiel mit dem weiblichen Rollenklischee löst sich scheinbar auf im Chor der liebevoll-sadistischen Verfolgerinnen. Im Gegensatz zu „Komödienstadl“ lebt die Szene „Weltraum“ eher vom Versuch der Individuierung also von der Symbolisierung negativer Erlebnisformen und Phantasien im Umgang mit der passiv-ödipalen Konstellation.

,,Johnny de Barone“ und „Münchner Realsatire“

Beide Gruppen entwickelten in der Phase der Gruppenarbeit ein relativ stabiles Arbeitsmilieu, in dem Spaß und Gelächter die Kräfte der Selbstkontrolle nicht sprengten. In beiden Gruppen entwickelte sich auch in dieser Phase keine Übertragungsbeziehung, in der irgendwelche Aspekte des Gruppenprozesses an mich delegiert wurden. Was das Spiel mit den Rollenklischees betrifft, so nehmen beide Szenen eher eine mittlere Stellung ein. Beide Gruppen versetzen Büchners szenische Idee mit satirischer Absicht in ein Milieu (Großstadt, Villa in der Provinz), das den Schülern selbst sehr vertraut war und das durch Übertreibung, Ironie und Verfremdung bewusst in Frage gestellt werden sollte. Man könnte an die Negation früherer Idole denken.

Die Abweichungen zu Büchners Szene ergeben sich darüber hinaus durch das Dominieren männlicher Aggressivität: In „Johnny de Barone“ ist das Spiel mit dem Geschlechtsrollenklischee durch Erlebnisformen der „manischen Abwehr“ überformt. Die Szene nimmt das Motiv der Trennung zwischen Leonce und Rosetta durchaus auf, reagiert aber mit Hohn, Triumph und Ausstoßung. In „Kay’s Bistro“ bricht die Männerkumpanei in die Szene heterosexueller Begegnung mit einer Dynamik und Vehemenz ein, die nur noch Konfusion erzeugt. Der narzisstische Monolog findet nicht statt, an dessen Stelle tritt sozusagen übergangslos projektives Agieren auf der Stufe der paranoiden Position. Der bisexuelle Kampf um Geschlechtsidentität wird durch Lösungen aus früheren Positionen stark beeinträchtigt. Fast scheint es so, als würden frühere Erlebnisformen in das brüchige Spannungsfeld bisexueller Polarisierung einbrechen, um die durch Identifizierung auf der Ebene der Geschlechtsrollenklischees nicht mehr gewährleistete Integration dann doch zu retten.

Vorläufiges Resümee

„Die Identitätsbildung“, so sagte Erikson, „beginnt dort, wo die Brauchbarkeit der Identifizierungen endet“ (Erikson 1956, vgl. auch Jacobson 1978, 206). Ich denke, es ist in den szenischen Bearbeitungen eindrucksvoll zu sehen, wie der Adoleszente in diesem Drama seine entwicklungsbedingte Ohnmacht erlebt und zu begreifen versucht, also den Kampf um Identität aufnimmt. Dabei zeigt sich in der Interpretation des szenischen Materials, das sich durch die Bearbeitung der Szene U3 von Büchners „Leonce und Lena“ ergeben hat, dass eine Identitätsfindung und die Überwindung der defensiven Position des Ichs so etwas wie die Quadratur des Kreises darstellt. Ich-Libido wird frei durch die Auseinandersetzung mit der passiven ödipalen Position. Im System der passiv-ödipalen Identifizierungen zu sehr befangen, werden im Spiel die damit verbundenen schmerzhaften Erlebnisse – Ekel, Scham und Hass – weitgehend in Verdrängung gehalten. Das „Unbehagen“, das die Gruppe „Heustadl“ bei ihrem Spiel empfand, resultiert vermutlich aus dieser Anpassungs- und Verdrängungstendenz. Der Ansatz zur Individuierung, der immer auch schmerzhafte Erlebnisse zulassen müsste, wird dadurch allzu rasch geopfert. – Durch die allzu große Lust an Regression und Chaos gerät jedoch im Gegenzug hierzu das adoleszente Ich relativ rasch in einen beängstigenden Strudel von präödipalen Erlebnisformen. Das Problem der Integration und Sublimierung ist also offenbar nicht einfach zu lösen: Versteht sich der Jugendliche zu sehr als Ingenieur seiner Zukunft, der nur mit erprobten und bewährten Materialien (den ödipalen Identifikationen) umgeht, so tritt die Auseinandersetzung mit dem Problem der Individuierung in den Hintergrund; entwirft er sich als Hermeneut oder gar als Therapeut seiner selbst und sucht nur den Weg der Individuierung, so wird sein Wunsch nach Autonomie möglicherweise an der Inkonsistenz seiner Identifizierungen scheitern. Auch in diesem Fall bleibt nur die Möglichkeit, den andrängenden, aktiven körperlichen Wünschen mit massiver Abwehr zu begegnen. Zwischen dem Identifizierungs- und Individuierungsschicksal wird sich der Jugendliche dann irgendwann entscheiden müssen, denn der Spielraum, den die Natur ihm belässt, ist nicht grenzenlos. Symbolbildung im Unterricht mit einer 11. Klasse stößt sicher auf entwicklungsbedingte Grenzen. Das Konzept einer Bildung als „Symbolbildung“ auch im institutionalisierten Lernprozess erscheint mir dennoch sinnvoll. Das szenische Material zeigt, dass in einem von Wiedergutmachungstendenzen getragenen pädagogischen Klima Adoleszente vom Spiel mit den „polaren Möglichkeiten“ (Schäfer) fasziniert sind; dass sie sich über szenische Bearbeitung mit ihrer „Entwicklungskrise“ (Laufer/ Laufer) auseinandersetzen wollen; dass sie um Relativierung ihrer Stärken und um Integration ihrer Schwächen bemüht sind; dass sie das, was bislang konkretistisch ausagiert wurde und werden musste, symbolisch fassen wollen.

Schattenhaft und sicher nur im Medium einer „Übergangsaktivität“ ist den Schülern zugänglich geworden, was in der ersten Hälfte des Schuljahres die Entwicklung ihres Denkens blockierte: Die vom schulischen Lernarrangement mitverursachte Verstrickung in den eigenen Hass auf den neuen sexuellen Körper. Dieser chronisch gewordene Hass hinderte sicher eine große Zahl von Schülern in dieser Klasse daran, sich aus ihrer infantilen Befangenheit in eine dyadische Erlebnisform endlich zu lösen und das Denken in dyadischen Klischees schließlich zu überwinden. Die Befreiung des „neuen Körpers“ wäre auch die Befreiung des „neuen Denkens“ gewesen, nicht weil der neue Körper schon neu denkt, sondern weil der Hass gegen ihn den Infantilismus dyadischer Erfahrungsmodi petrifizieren muss. „Ich habe auf die Tatsache hingewiesen, daß die Primitivität des Denkens, wie sie in dyadischen Objektbeziehungen verankert ist, in krassem Gegensatz zum dialektischen Denken steht. Im triadischen Gemütszustand geht es um Selbst, Objekt und Identität sowie um objektgerichtete, emotionale und sexuelle Themen. Dieser Zustand transzendiert seinen infantilen Ursprung und die Triebverstrickung, indem er seiner Existenz in der kognitiven Sphäre Dauer verleiht, d.h. im unendlichen Bemühen, die Welt und das Selbst in immer komplexeren Bedeutungen und Strukturen zu verstehen“ (Blos 1990, 92 f).

Das Problem der Schule als Bildungsinstitution erscheint mir in dem hier von Blos angesprochenen Sinn nicht so sehr das der „Neurose“ sondern nur das einer „Verödung“ zu sein. Die Erscheinungsformen des Neurotischen und des Kreativen gehen in der Adoleszenz völlig fließend ineinander über. Schüler (natürlich auch Lehrer) haben ein Recht – sozusagen ein Naturrecht – auf projektive Identifizierung, wenn diese als vorübergehendes Stadium das Ich schützt und späteres Wachstum ermöglicht. Diese dyadischen Aktivitäten auf der Stufe des „frühen Ich“ müssen als Vorstufe zu dem aufgefasst werden, was später Reflexivität des reifen Ich ausmachen könnte.

In Fortführung und Radikalisierung einer These von Neidhardt (1986), „Übertragung“ sei der „fruchtbare Moment“ im Bildungsprozess, könnte man daher sagen: Wenn der Kampf um Objektkonstanz in der Schule aufgenommen wird, ist alles schon gewonnen. Verödung herrscht im Gegensatz dazu, wo der Wunsch zur „Wiedergutmachung“ erloschen ist und der kognitive Prozess in infantilen Beziehungsmodi befangen bleibt. Dann begegnen sich Lehrer und Schüler in einer mehrfach überdeterminierten „Zwangsmaschinerie“. Wer wüsste nicht, dass die Schule in einigen Bereichen eine Produktionsstätte von bedeutungslosen Fertigkeiten und irrealen Konstanzphänomenen im Dienste des sog. „Realitätsprinzips“ ist.

Literaturangaben:

Blos, Peter (1962): On adolescence. A psychoanalytic interpretation. New York. Free Press.

Blos, Peter (1990): Sohn und Vater: diesseits und jenseits des Ödipuskomplexes. Stuttgart.

Erdheim, Mario (1984): Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß. Frankfurt/M.

Jacobson, Edith (1978): Depression: Eine vergleichende Untersuchung normaler, neurotischer und psychotisch-depressiver Zustände. Frankfurt/M. 206

Kaplan, Louise J. (1988): Abschied von der Kindheit. Eine Studie über die Adoleszenz. Stuttgart.

Laufer, Moses/Laufer, M. Eglé (1984): Adolescence and developmental breakdown. A psychoanalytic view. New Haven u.a. Yale University Press. 96

Neidhardt, Wolfgang (1986): Wenn das Erleben zum Thema wird. Ein Beitrag zur Beziehung zwischen Psychoanalyse und Didaktik. – Ein Unterrichtsbeispiel. In: Westermanns pädagogische Beiträge 11 (1986), S. 28-31

Racker, Heinrich (1982): Übertragung und Gegenübertragung. Studien zur psychoanalytischen Technik. München. 161

Schäfer, Gerd E. (1989): Spielphantasie und Spielumwelt. Spielen, Bilden und Gestalten als Prozesse zwischen Innen und Außen. Weinheim und München. 80

Turner, Victor (1989): Das Ritual. Struktur und Antistruktur. Frankfurt/M. u.a. 95

Turner, Victor (1989): Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt/M. u.a.

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