Falldarstellung
Konflikte mit einer anderen Klasse, besprochen im Kreis
Lehrerin: Hiba, du hast das Wort. Und bitte nur ganz kurz, was war gestern?
Hiba: Gestern, da haben Kinder aus Frau Müllers Klasse gesagt, ich soll mal ins Lehrerzimmer zu Frau Müller. Und da bin ich hingegangen, und da hat sie gesagt, wir sollen ihre Klasse nicht immer beschuldigen.
Yilmaz: Ha, ha, ha!
Hiba: Und die Kinder sagen, sie (betont) haben noch nie etwas gesagt.
(Viele Kinder rufen laut und empört durcheinander. Sebastian und Josef umarmen sich.)
Lehrerin: Lasst sie mal ausreden.
Hiba: Und sie hat gesagt, wir sollen das nicht mehr tun.
Lehrerin: Also mein Vorschlag von gestern bleibt heute noch erhalten. Es geht jetzt nicht um einen Kampf der Klassen gegeneinander. Es geht darum, dass wenn man die Vorwürfe begründet und noch mal drüber spricht, dann kann man es besser von der anderen Seite auch hören. Dann können die sagen, jawohl, hab ich doch gesagt und seh ich heute anders. Aber ihr müsst es auch mit eurer Anklage sozusagen aufschreiben, sonst steht ihr blöde da. Wenn ihr nur sagt, die haben aber und sagt nicht, was sie haben, das ist schlecht. Von daher bleibt es bestehen. Bitte schreibt es auf und wir besprechen dann, wie wir das miteinander regeln. Wenn nichts kommt, sind wir gezwungen tatsächlich rüberzugehen und zu sagen, na ja, dann war das ein Windei.
Einige Kinder (lachen): Ein Windei!
Alena (meldet sich): Frau Abel!
Lehrerin: Bitte?
Alena: Also, als ich mal, äh, bei uns unten in der Gruppe war von der Bücherei. Nicht hier von der Schule. Da ist der Markus auch drinne und dann hat er gesagt, da ist ja die Blöde von der blöden Abelklasse.
Lehrerin: So, dann schreibst du mir das bitte auf, und dann bereden wir das mit dem Markus. Fertig, von mir aus ist das jetzt fertig.
Interpretation
Die Anfangssequenz dieser Szene aus einem Kreisgespräch wurde mit der Methode der objektiven Hermeneutik interpretiert.
Zunächst stand die doppelte Ansprache (“Hiba, du”) im Zentrum. Durch diese Art der Ansprache wird die benannte Person aus einem Kollektiv herausgehoben. Der Aufmerksamkeitsfokus wird auf das „Du“ gelenkt und durch die Nennung des Vornamens eine spezifische Individualität unterstrichen und gekennzeichnet. Da Hiba gegenüber der Lehrerin kein “Du” benutzt, ist die Informalisierung einseitig entsprechend der asymmetrischen Lehrer-Schüler-Beziehung. Was Hiba zu Beginn dieser Gesprächssequenz erhält, ist “das Wort”. Ihr wird damit die Möglichkeit eröffnet über ein besonderes Gut zu verfügen, welches für den Interaktionszusammenhang limitiert und in einer Schulklasse nicht leicht erreichbar ist. Eine Differenzmarkierung wird vorgenommen, weil Hiba durch die Verfügung über “das Wort” eine Sonderstellung erhält, denn ihr werden damit Artikulationsspielräume eingeräumt, die den anderen TeilnehmerInnen der Situation verschlossen bleiben. Außer Hiba befinden sich alle in einer defizitären Situation, gleichsam einem Zustand des Mangels. In der Besonderung wird der Handlungszusammenhang im Zeichen eines Defizits hergestellt. Integration wäre für diesen Zusammenhang demnach, “das Wort” nicht zu haben. Entweder Hiba verbleibt nun in dieser Handlungssituation in der Besonderung oder die Differenz wird getilgt, indem Hiba als Person nicht mehr in den Blick der Aufmerksamkeit rückt.
Die Sprecherin, die das Gut verteilen darf, sagt nicht etwa “Ich übergebe dir das Wort”, vielmehr scheint die Angesprochene darauf aufmerksam gemacht werden zu müssen, dass sie das Wort schon hat. Entweder wird hier unterstellt, dass Hiba ihre Möglichkeit zu sprechen nicht wahrnimmt oder es handelt sich um einen Interaktionszusammenhang, in dem das Wort erst wahrgenommen werden kann, wenn es eingeräumt wird (“Der Staatsanwalt hat das Wort.”). In diesem Fall wird Hiba in eine besonders exponierte Stellung gebracht, wird ermächtigt, wobei die Ressource vorhanden ist. Es wird auf eine Potentialität verwiesen, die schon da ist, von der Angesprochenen jedoch entfaltet werden soll. Die Sprecherin, die über die Macht verfügt zu ermächtigen und zu ermutigen, gibt Hilfestellung und rahmende Stützung, um die Potentialität sozial zu entwickeln. Es handelt sich in diesem Fall um einen stützenden und rahmenden Gestus, weil es in der Situation schwierig
ist, sich zu erheben und aus der Gemeinschaft heraus zu treten.
“Das Wort” lässt Assoziationen zur Bibel entstehen (“Am Anfang stand das Wort…”) und deutet auf Dominanzverhältnisse und symbolische Gewalt hin. Oder könnte Hiba im Besitz eines bestimmten Wortes sein (z.B. des Rätsels Lösung oder eines Codewortes)? Im Besitz bestimmter Wörter, Worte oder Formeln eröffnen sich Handlungsoptionen, die sonst verschlossen bleiben. Was gesprochen werden soll, hat vermutlich hohe Bedeutung. Auch der Bezug zu transzendenten Geltungsquellen (Gott) oder Rechtsverhältnissen (Staatsanwalt) unterstreicht dies. (Hiba, du hast das Wort. vs. Hiba, du kannst jetzt sprechen.). Der Bezug zu diesen Geltungsquellen legt nahe, dass es etwas mit Stellungnahmen, Positionen u.ä. zu tun hat, wenn Hiba “das Wort hat”.
Unklar ist, ob Hiba in dieser Situation das Wort eigentlich haben will. Sie hat sich nicht gemeldet und nicht um das Wort gekämpft, vielmehr wird sie von der Lehrerin herausgehoben. Da im Moment der Formulierung des Satzes die Sprecherin noch das Wort hat und eine Entscheidung in der Zukunft antizipiert bzw. verordnet wird, weiß die Lehrerin vermutlich, was Hiba sagen will. Sie könnte z.B. informiert sein, dass Hiba im Besitz eines Codewortes oder einer zu verlesenden Anklageschrift ist.
Insgesamt wird in diesem Interaktionszusammenhang die kognitive Ebene mit Bedeutung versehen; es handelt sich um eine durch Dominanzstrukturen gekennzeichnete Lebenspraxis, in welcher das Kognitive bedeutsam gemacht und Emotionalität ausgeblendet wird. Die Lehrerin, welche über Rederecht verfügen kann, unterstellt der Angesprochenen hier Rederecht, obwohl sie selbst noch spricht. Pädagogischer Bezug wird in Form einer “Als-ob-Beziehung” hergestellt. Es wird so getan, als ob die Angesprochene das Wort habe, als ob das Kind über Handlungsoptionen verfügen könne.
Wenn man den weiteren Verlauf dieses Gesprächsausschnitts verfolgt, fällt zunächst auf, dass Hiba im Folgenden nur sehr kurz über “das Wort” verfügen kann: Sie darf oder muss die Anklage einer anderen Klasse und deren Lehrerin gegenüber ihrer eigenen Klasse vorbringen. Hiba erklärt, dass man ihrer Klasse vorwirft, sie würde die Kinder der anderen Klasse zu Unrecht beschuldigen. Das Vortragen dieses Vorwurfs löst Solidarität in der Klasse aus, der Zusammenhalt der Gruppe wird angesichts des äußeren “Gegners” gestärkt.
Die Lehrerin bemüht sich darum, die emotionalen Reaktionen der Kinder sogleich zu begrenzen. Sie will keinen “Kampf der Klassen gegeneinander” und verhindern, dass sich ihre SchülerInnen in dieser Kreissituation einer konfrontativen oder aggressiven Stimmung hingeben. Indem sie verlangt, dass die Kinder ihre Vorwürfe aufschreiben, verweist sie auf eine rationale und formalisierte Ebene der Konfliktbewältigung. Auch als Alena einen konkreten Vorwurf mündlich vorbringt, weist sie diesen zurück und fordert, dass Alena ihre Anschuldigung schriftlich fixiert. Sie lässt diesem Konflikt nur eingeschränkten Raum und setzt ihr Interesse auch durch (“… von mir aus ist das jetzt fertig”), vielleicht auch weil sie fürchtet, dass eine zu deutliche emotionale Solidarisierung der Kinder sich gegen die Institution und auch gegen sie selbst richten könnte. Möglicherweise wird sie hier auf der unbewussten Ebene durch die Angst “vor den ungezähmten Kindern” geleitet.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in der angeführten Gesprächsszene die Lehrerin eine Einübung in (politisch-gesellschaftliche) Partizipationsformen, rationale Konfliktbewältigung und herrschende Normen intendiert und inszeniert, indem sie eine Als-ob-Beziehungsstruktur herstellt, eine Spannung zwischen Enteignung und Überforderung erzeugt und die emotionale Beteiligung der Kinder auszugrenzen versucht. Die Besonderung desjenigen, der in der Kreissituation über das Rederecht verfügen kann, ist konstitutiv für die Kreissituation, auch wenn durch die Form der Auswahl (Lehrerin erteilt “das Wort” bzw. ruft auf, Kinder rufen auf, reihum, Geschlechterwechsel …) der Widerspruch zwischen individueller Besonderung und Herstellung von Gemeinschaft unterschiedlich akzentuiert wird.
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