Falldarstellung
Der folgende Vorfall wurde von der Studentin I.S. beobachtet und beschrieben.
Schulform: Gymnasium; Klasse: 7
In einer Doppelstunde Sport wird ein Parcours für ein Zirkeltraining aufgebaut. An jeder Station soll zu zweit eine Aufgabe erledigt werden. Da die Klasse aus einer ungeraden Zahl an SchülerInnen besteht, gibt es an einer Station eine Dreiergruppe.
Das Training beginnt. Nach einer halben Runde klagt Oliver, der Trainingspartner von Karl, über Knieschmerzen und setzt sich auf die Bank. Daraufhin spricht die Lehrerin die Dreiergruppe an: „Kann bitte einer von euch zu Karl an die Station gehen?“ Von den dreien will jedoch keiner seine Station verlassen. Schließlich sucht sich die Lehrerin einfach einen Jungen aus: „Peter, du gehst jetzt bitte rüber zu Karl.“
Peter: „Wieso denn ich? Ich habe keine Lust noch mal an die Station von eben zu gehen!“
Lehrerin: „Das ist doch jetzt völlig egal. Ihr drei haltet den ganzen Verkehr auf. Ich würde jetzt gerne die Stunde fortsetzen.“
Peter: „Dann schicken sie doch jemand anderen.“
Nach langem hin und her, was auch Oliver mitbekommt, erklärt dieser sich bereit wieder mitzumachen.
Oliver: „Ach, mit meinem Knie geht’s schon wieder. Ich mache wieder bei Karl mit!“ Die Lehrerin setzt erleichtert ihren Unterricht fort.
Interpretation
Thema der Sportstunde ist ein Zirkeltraining. Die SchülerInnen haben sich paarweise an die Stationen verteilt, mit Ausnahme einer Dreiergruppe. Als Oliver nach einer halben Runde aufhören muss, weil ihm sein Knie weh tut, steht Karl ohne Partner da. Die Lehrerin versucht darauf hin, aus der Dreier- und der Einer„gruppe“ zwei Zweiergruppen zu bilden. Was rein rechnerisch nahe liegt, scheitert jedoch an der Dreiergruppe, die keiner der drei Jungen verlassen will, auch nicht Peter, den die Lehrerin schließlich explizit dazu auffordert: „Peter, du gehst jetzt bitte rüber zu Karl!“
Auf den ersten Blick erscheint die Intervention der Lehrerin nahe liegend: Da Karl ohne Partner ist und die Dreiergruppe „eigentlich“ um einen Jungen zu groß, erscheint es sinnvoll, zwei Paare zusammenzustellen. Trotzdem soll noch einmal genauer nachgefragt werden, warum die Änderung nicht nur von der Lehrerin vorgeschlagen, sondern so nachdrücklich verfolgt wird, dass der gesamte Unterricht stockt. Warum sieht die Lehrerin ein Problem darin, dass Karl nun alleine ist?
Das Zirkeltraining ist – wie allgemein üblich – so angelegt, dass die SchülerInnen paarweise den Parcours durchlaufen. Häufig sind damit das abwechselnde Absolvieren der Übungen sowie eine gegenseitige Unterstützung verknüpft. Diese kann lediglich darin bestehen, dass die pausierende SchülerIn zählt, wie viele Wiederholungen ihre PartnerIn schafft, um das Ergebnis dann ggf. in eine Liste einzutragen. Zum Teil ist es aber auch notwendig, dass weitergehende Hilfe bei der Ausführung der Übungen geleistet werden muss.
Diese Voraussetzungen müssen bei der Unterrichtsplanung berücksichtigt werden, denn die Lehrerin kann vorher nicht wissen, ob an der jeweiligen Unterrichtsstunde eine gerade oder ungerade Zahl von SchülerInnen teilnimmt. Offenbar hat die Lehrerin im vorliegenden Fall diese Unwägbarkeit eingeplant, denn es stellt scheinbar kein Problem dar, dass der Parcours von einer Dreiergruppe durchlaufen wird.
Warum ist es der Lehrerin aber so wichtig, dass Karl einen neuen Partner erhält? Zum ersten könnte es sein, dass die Lehrerin rein „numerisch“ denkt: Der Parcours ist „eigentlich“ für Paare geplant. Da nach Olivers Ausfall noch eine gerade Anzahl an SchülerInnen übrig ist, sollten diese auch paarweise aufgeteilt sein.
Zum zweiten wäre es möglich, dass soziale Gründe eine Rolle spielen. Die Lehrerin möchte nicht, dass Karl den Parcours allein absolvieren muss und will ihm daher einen neuen Partner verschaffen.
Zum dritten könnte es sein, dass Karl aus organisatorischen Gründen einen Partner braucht, sei es, damit dieser seine Punktzahlen notiert, sei es, weil manche Übungen einen Partner zur Unterstützung erfordern.
Wie sind nun diese unterschiedlichen Problemdeutungen einzuschätzen? Dass LehrerInnen bei der Unterrichtsplanung die Anzahl der SchülerInnen ins Kalkül ziehen müssen, ist in Bezug auf den Sportunterricht häufig notwendig. Dabei besteht die Gefahr – und das vorliegende Beispiel könnte so gedeutet werden –, dass über die rein numerische Betrachtung der SchülerInnen vergessen wird, dass diese auch Personen mit eigenen Vorstellungen, Vorlieben und Interessen, Sympathien und Antipathien sind. Die vielfältigen Probleme bei der Einteilung von Paaren, Gruppen oder Mannschaften machen dies mehr als deutlich. So auch in diesem Fall: Auch wenn die Dreiergruppe sicher unmittelbar das rechnerische Argument nachvollziehen kann, ihre Gruppe verlassen will keiner der Jungen. Mögliche Gründe dafür liegen zum einen im sozialen Bereich: Die drei sind vielleicht Freunde und wollen auch weiterhin in dieser Freundesgruppe zusammenbleiben. Umgekehrt könnte natürlich auch von Relevanz sein, dass sie mit Karl gerade nicht befreundet sind, möglicherweise sogar ein schlechtes Verhältnis zu ihm haben. Als dritter Grund, der den sozialen Bereich verlässt, könnte auch der Unterrichtsinhalt angeführt werden. Peters Argumentation, dass er nicht eine Station doppelt absolvieren will – und damit eine andere verpasst – ist unmittelbar einsichtig. Wenn die Lehrerin mit dem Parcours für das Zirkeltraining ein Ziel verfolgt, der Parcours in seinem Aufbau also geplant ist, dann kann es nicht „völlig egal“ sein, ob einzelne Stationen doppelt und andere dafür gar nicht absolviert werden. Ohne die Möglichkeiten des Sportunterrichts überbewerten zu wollen: Die Lehrerin entwertet mit ihrer Äußerung ihren Parcours, dessen Aufbau nicht nur weniger relevant erscheint als die angestrebte Gruppeneinteilung, sondern in diesem Moment als völlig irrelevant.
Was lässt sich hinsichtlich der zweiten Problemdeutung anmerken? Zunächst erscheint es nachvollziehbar, dass die Lehrerin Karl nicht ohne PartnerIn belassen will. Alle anderen SchülerInnen haben einen oder sogar zwei PartnerInnen. Für Karl könnte es daher durchaus frustrierend sein, wenn er den Parcours allein zu Ende führen muss. Wenn aber soziale Gründe für die Intervention der Lehrerin verantwortlich sind, dann stellt sich die Frage, ob die „Verordnung“ eines neuen Partners eine angemessene Lösung darstellt. Im vorliegenden Fall erweist sich dies jedenfalls als eher kontraproduktiv: Karl steht nicht nur immer noch ohne Partner da, die Jungen der Dreiergruppe lehnen es auch noch explizit ab, mit ihm zusammenzugehen. Auch wenn die Gründe nicht eindeutig sind, Peter zudem auf inhaltlicher Ebene argumentiert, Fakt ist, dass keiner der drei Schüler zu Karl wechseln möchte. Die soziale Unterstützung, die die Lehrerin Karl zuteil werden lassen wollte, verkehrt sich damit ins Gegenteil.
Hier lässt sich unmittelbar über Handlungsalternativen nachdenken: Die Lehrerin hätte z.B. Karl fragen können, ob er sich einer anderen Zweiergruppe anschließen möchte. Dann hätte er die Möglichkeit gehabt, sich SchülerInnen auszusuchen, mit denen er befreundet ist. Er hätte aber auch ablehnen können, z.B. wenn er über keine positiven sozialen Beziehungen in der Klasse verfügt, und damit ohne weitere (explizite) Kränkung das Zirkeltraining fortsetzen können.
Die dritte angeführte Problemdeutung betrifft den organisatorischen Bereich. Möglicherweise kann der Parcours nicht ohne PartnerIn absolviert werden, so dass Olivers Ausscheiden Handlungsbedarf hervorruft. Dies erscheint zwar unwahrscheinlich, denn wenn es möglich ist, dass das Zirkeltraining von einer Dreiergruppe durchgeführt wird, dann müsste dies auch für eine Einzelperson möglich sein. Denkbar wäre lediglich, dass innerhalb der Dreiergruppe ein Partner parallel die beiden anderen unterstützen kann. Folgt man dieser Deutung, dann ergeben sich allerdings unterschiedliche Handlungsalternativen. Neben der von der Lehrerin gewählten könnte die stellvertretende Problembearbeitung auch darin bestehen, dass Karl sich einer anderen Gruppe anschließt, inhaltlich gesehen am besten der direkt vor oder hinter ihm, so dass er so wenig Dopplungen bzw. Auslassungen wie möglich hinsichtlich der einzelnen Stationen hat. Da die bereits bestehende Dreiergruppe scheinbar kein organisatorisches Problem bedeutet, kann dies auch für eine zweite Dreiergruppe nicht gelten.
Die stellvertretende Problembearbeitung könnte aber auch darin bestehen, dass Oliver gefragt wird, ob er Karl weiter unterstützen kann, auch wenn er selbst nicht mehr teilnimmt. Das ist selbstverständlich von Olivers Verletzung einerseits und der Art der Unterstützungsleistungen andererseits abhängig.
Als dritte Möglichkeit wäre zu erwägen, ob die Lehrerin dort, wo es notwendig ist, für Oliver einspringt. Auch hier wäre zu klären, wie häufig und ausgiebig Unterstützung erforderlich ist, d.h. inwiefern sich dies mit der Unterrichtsleitung der Lehrerin vereinbaren lässt.
Die bisherigen Überlegungen werfen die Frage auf, ob die Lehrerin nicht unnötigerweise ein Problem konstruiert hat. Da aus konstruktivistischer Perspektive grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass Problemdeutungen entwerfenden Charakter haben und damit u.a. auch stark subjektiv geprägt sind, kann nicht von einer „falschen“ oder „richtigen“ Problemdeutung gesprochen werden. Es lässt sich aber durchaus danach fragen, ob die Deutung der Situation als problemlos und die daran anschließende Entscheidung, nicht zu intervenieren, sinnvoller gewesen wäre. Betrachtet man die dargestellten Problemdeutungen, dann erscheint das numerische Argument jedenfalls nicht als sonderlich tragfähig. Ob es in organisatorischer Hinsicht ein Problem gibt, ist ebenfalls fraglich. Und ob Karl es als Problem empfindet, dass er den Parcours nach Olivers Ausfall allein absolvieren muss, ist auf der Basis der Darstellung nicht zu klären.
Geht man jedoch davon aus, dass die stellvertretende Problemdeutung der Lehrerin durchaus ihre Berechtigung hat, dann erweist sich die stellvertretende Problembearbeitung als wenig zweckmäßig, insofern als sie neue – größere? – Probleme erzeugt. Karls Problem wird nicht gelöst, sondern durch ein zweites „ergänzt“: Jetzt haben auch die Schüler der Dreiergruppe ein Problem, da sie sich nicht trennen wollen bzw. nicht darauf einigen können, wer die Gruppe verlässt. Daraus entsteht wiederum ein Problem für die Lehrerin, da ihren Aufforderungen nicht Folge geleistet wird. Es gelingt ihr offenbar auch nicht, sich auf diese neuen Probleme einzustellen und flexibel zu reagieren. Sie hält lediglich an ihrer Forderung fest, verstärkt diese durch die direkte Anweisung an Peter noch. Andere Alternativen kommen ihr nicht in den Sinn, auch nicht die, die SchülerInnen nach einer Problemlösung zu fragen und damit möglicherweise den Konfrontationskurs verlassen zu können. Demgegenüber bleibt die Lehrerin bei ihrer Strategie und kann von Glück sagen, dass Oliver sie schließlich aus der „Sackgasse“ befreit.
Hinsichtlich des Lehrerin-Schüler-Konflikts stellt sich die Frage, ob die Lehrerin weitergehende Problemdeutungen hätte vornehmen müssen. Dabei kommen zum einen die vorhandenen Rahmenbedingungen in den Blick. Kann sich die Lehrerin überhaupt tiefergehend mit den Ursachen der schülerseitigen Verweigerung auseinander setzen angesichts des Handlungs- und Zeitdrucks, unter dem sie steht? Zum anderen ist aber auch von Relevanz, ob die Aufklärung der Ursachen überhaupt eine Bedeutung für das Lehrerinnenhandeln hat. Ist es entscheidend für sie zu wissen, ob die Schüler sich verweigern, weil sie gute Freunde sind, weil sie mit Karl nicht befreundet sind oder weil sie den Parcours vollständig, also ohne Dopplungen und Auslassungen durchlaufen wollen? Würden der Lehrerin über dieses Wissen neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet? Oder ist es im vorliegenden Fall nicht entscheidender zu wissen, dass offene Machtkämpfe wenig Aussicht auf Erfolg haben und dementsprechend vermieden werden sollten?
Betrachtet man das vorliegende Beispiel, dann scheint es sich um nicht mehr als eine Lappalie zu handeln, deren langwierige Erörterung weit über das Ziel hinausschießt. Möglicherweise ist der Vorfall aber gerade deshalb besonders interessant, weil er verdeutlicht, dass aus „Kleinigkeiten“ Probleme resultieren können, die den Unterrichtsfortgang massiv stören. Die Einteilung von Gruppen im Sportunterricht ist eben keine rein numerische Frage und erfordert dementsprechend Sensibilität für die verschiedenen, sich überlagernden Ebenen.
Ob eine Situation als problematisch wahrgenommen wird und intervenierendes Handeln erfordert, hängt von der jeweiligen Problemdeutung ab, die subjektiv ist und damit von einer Vielzahl von Faktoren bestimmt wird: der Biographie im Allgemeinen, den Berufserfahrungen im Besonderen, den außerschulischen Sporterfahrungen, der eigenen SchülerInnenbiographie u.a.m. Aber auch die Tagesform, aktuelle Belastungen, das Verhältnis zur Klasse usw. spielen eine Rolle. Demzufolge ist es nicht verwunderlich, dass die Problemdeutungen von LehrerInnen manchmal mehr Probleme erzeugen als dass sie zu ihrer „Lösung“ beitragen.
Wenn Problemdeutungen konstruktiven Charakter aufweisen, dann ist damit auf den ersten Blick der Vorteil verbunden, dass sie nicht falsch sein können. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie mehr oder weniger erfolgversprechend in Hinblick auf die stellvertretende Problembearbeitung im weiteren Sinne sind. Da es kaum gelingen wird, immer und auf Anhieb den besten Weg zu finden, zeigt auch das vorliegende Beispiel, dass Flexibilität die Effektivität erhöhen kann. Nicht stur an der einmal eingeschlagenen Strategie festzuhalten, sondern offen für Alternativen zu sein, erscheint als wesentliche Fähigkeit, um kleine und große Probleme erfolgreich bearbeiten zu können. Diese Alternativen können sowohl die Problemdeutung verstanden als Offenheit für Neurahmungen betreffen als auch die Problembearbeitung im engeren Sinne. Flexibilität sollte dabei nicht als Prinzipienlosigkeit oder „Unterwerfung“ unter den SchülerInnenwillen missverstanden werden, sondern als der Situation angemessenes Ausbalancieren der eigenen Möglichkeiten und Grenzen.
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