Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Ein zentraler Aspekt der Unterrichtskommunikation ist die Umwandlung der Sprechsituation – von der Permutabilität zur Regel „only one at a time“. Hierzu bedienen sich Lehrpersonen einer Fragetechnik – der sogenannten „tag positioned address terms“ (McHoul 1978, S. 205) -, die zunächst alle Schüler adressiert, um dann einen Schüler aufzurufen. Ein Beispiel: „Was ist ein Syn­drom? (1) Ines“. Es ist eine Frage-Pause-Anrede-Konstruktion, die Überlap­pungen von Seiten der Schüler ausschließt. Von ihnen wird Aufmerksamkeit gefordert, da die Lehrperson die Schüler zunächst im Unklaren darüber lässt, wen sie auswählt. Man kann hier von einer Doppelstruktur pädagogischen Handelns sprechen, die zunächst die Gesamtheit der Schüler einschließt, schließlich aber auf einen einzelnen abzielt, dem dann das Rederecht erteilt wird. An diesen Ablauf und die damit verbundene Legitimation des Sprechens erinnern Lehrpersonen im Unterricht immer wieder. Dabei beziehen sich ihre Ordnungsrufe auf Nebengespräche, die die Schüler führen, oder auf inhaltliche Beiträge derjenigen Schüler, die nicht ‚dran’ sind. Drei Beispiele, in denen die Regel aktualisiert wird:

Beispiel 1

Als die Lehrperson einen Schüler, der sich gemeldet hatte, auswählt, platzt ein anderer Schüler mit der Antwort in die kurze Sprechpause zwischen letzter Lehrersilbe und erster Schülersilbe. An dieser Stelle unterbricht die Lehrperson das (eigentliche) Unterrichtsgeschehen und macht die Regel explizit: „Pssst, (1) LEUTE (P) das geht nicht. Wenn ich einen dran nehme, kann nicht ein anderer einfach dazwischenreden.“ Die Lehrperson ruft den Schüler, der seine Antwort noch nicht formuliert hatte, noch einmal mit Namen auf.

Beispiel 2

L:    … Welche Rolle spielt heut noch dieser Eid? (2) Ja (P) Peter

P:    Ich nehm an┌ wenn der Arzt eingeführt wird, äh nämlich ┐

S1:                        └   (… ) ((beginnt Nebengespräch)                     │

L:                                                                                           MARIO┘

P:    = (P) sozusagen um um als Arzt bestätigt zu werden

Beispiel 3

L  … Sechs be Quadrat Wurzel drei be gleich (2) Valerie.

V: (   ) (3)

L: Was mach ich mit der sechs?

V: (   ) (7)

L: Haben wir eben gesagt

V: (   ) (4)

Sn: (…) ((Geflüster))

L: HÄJ: (1) wer kann’s der Valerie nochmal schnell erklären …

In Beispiel 1 unterbricht die Lehrperson ihre Stoffbearbeitung und erinnert die Schüler an die geltende Regel, die besagt, dass das Rederecht demjenigen Schüler zufällt, den sie ausgewählt hat. Kein anderer darf dann sprechen. Nach dem kurzen Unterbrecher wird die Stoffbearbeitung mit dem Schüler fortge­setzt, der noch nicht zu seiner Antwort gekommen war. Eine andere Form der Regelerinnerung und Regeldurchsetzung zeigen Beispiel 2 und 3: Mit einem kurzen, aber lautstarken Ordnungsruf, der sich an einen Schüler („Mario“) oder an die Klasse („Häj“) richtet, erinnern Lehrpersonen Schüler an die Re­gel und re-orientieren sie hiermit auf das offizielle Unterrichtsgeschehen. Was die Lehrperson in einem Fall durch Explizierung, wird in den anderen Fällen durch einen Ordnungsruf, gewissermaßen durch abgekürzte Verfahren er­reicht.

Neben der Gemeinsamkeit, an die Regel zu erinnern, zeigen die Beispiele eine Differenz in der Art und Weise, wie dies erreicht wird. Wird im Beispiel 1 das Prinzip der Unterrichtskommunikation aufrechterhalten – nämlich: es gibt nur einen offiziellen Kommunikationskanal -, so zeigen die Beispiele 2 und 3, dass für einen kurzen Moment mehrere Kommunikationskanäle nebeneinan­derliegen, und zwar der thematische Beitrag oder das Schweigen eines Schü­lers, das unterschwellige Gespräch eines zweiten Schülers und der laute Ruf der Lehrperson. Auffällig ist auch, dass das Geflüster der Mitschülerinnen in das dritte Schweigen der Schülerin (Beispiel 1) einsetzt, so als handelte es sich hier um einen Raum, der – aufgrund der vergeblichen Versuche – nicht mehr durch die „only-one-at-a-time“ Regel umstellt ist.

Die Unterrichtsstunden sind nun durchzogen von der Aktualisierung dieser Regel; dabei bevorzugen Lehrpersonen insbesondere die Kurzversion (Bei­spiele 2 und 3). Die Erinnerung an die Regel impliziert für die Schüler, dass ihr Fingerzeig (Meldung) das legitime Mittel ist, das Rederecht zu reklamieren, und dass es eine kommunikative Ausrichtung des Unterrichtsgeschehens gibt. Diese Permanenz der Regelerinnerung darf aber nicht zu der Annahme verlei­ten, dass jedes Nebengespräch oder jede Nebenhandlung von Schülerinnen durch die Lehrperson als solche auch markiert wird. Lehrpersonen reagieren vielmehr unterschiedlich auf das „Reinquatschen“ von Schülern. So kommentierte eine Lehrperson im Unterricht: „Quatsch doch nich rein Mensch, und dann noch so was!“ Lehrpersonen sind eher bereit, den Eigensinn von Schülern zu akzeptieren, wenn sie Adäquates zum Unterricht beitragen. Es ist eine Art ökonomischer Sinn der Unterrichtsführung, der in diesen Momenten auf die Einhaltung der Regel verzichtet. Lehrpersonen verrechnen gewissermaßen die Verletzung der Regel mit der Qualität der Aussage. Eine passende Antwort wiegt somit den partiellen Bruch der zeitlichen Abstimmung auf. Dies bedeutet auch, daß ein ‚reinquatschender‘ Schüler ein doppeltes Risiko trägt, denn adä­quate Antwort und Recht auf Redezeit sind eng miteinander gekoppelt. Trifft die erste Bedingung (adäquate Antwort) nicht zu, wird nicht nur sie korrigiert, sondern insbesondere das Schülerverhalten.

Literatur

McHoul, A.W.: The organization of turns at formal talk in the classroom. In: Language in Society 7 (1978), S. 182-213.

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