Falldarstellung

Dieses Beispiel ist zwar aus der Elternsicht geschrieben, kann aber dem Lehrer bzw. dem Erzieher Hinweise über Beziehungszusammenhänge und über die Vielschichtigkeit der Lebens­situation von Schülern geben.

Die Familie sitzt beim Abendessen zusammen. Der siebenjährige Arno ist bedrückt. Nach einer Weile wendet er sich an die Mutter: „Mama, stell Dir vor, wie gemein der Karsten ist. Er möchte meinen Stuhl haben. Ich will ihm aber den Stuhl nicht geben, weil er so bequem ist. Was soll ich denn tun, wenn er morgen meinen Stuhl einfach nimmt?“
Im Verlauf des Gesprächs mit der Mutter stellt sich heraus, dass Arno befürchtet, Karsten könnte am nächsten Tag vor ihm im Klassenzimmer anwesend sein und den Stuhl für sich beanspruchen. Er hat Angst, dass es zum Streit kommen könnte, und dass dann Karsten die Holger-Bande für sich gewinnen könnte, die wahrscheinlich – bewusst falsch – bezeugen würde, dass der umstrittene Stuhl nicht Arnos, sondern Karstens Stuhl sei, und dass dieser ihn zu Recht zurückhaben möchte.
Arno fühlt sich eingegrenzt von der Annektion des Stuhls durch Karsten. Er nimmt diese Eingrenzung als Bedrohung wahr und erlebt somit Angstgefühle. Er möchte sich einerseits mit Karsten nicht prügeln, andererseits auch kein Petzer sein und der Lehrerin seine Sorgen mitteilen. Zwei Bitten bringt Arno vor: „Mama, komm halt mit und sag der Lehrerin Bescheid!“ und „Könntest Du nicht der Frau M. (das ist die Mutter von Karsten) Bescheid sagen?“
Die Zukunftsaussichten sind in Arnos Augen besorgniserregend: „Wenn die Holger-Bande gegen mich aussagt, dann habe ich keine Spielkameraden mehr, dann fallen sie alle über mich her in der Pause, dann glaubt die Lehrerin bestimmt den anderen, und ich kriege dann noch eine Strafarbeit, weil ich „Holger-Bande“ gesagt habe.

Anm.: Die Lehrkraft hat den Kindern unter Androhung von Strafe verboten, die Bezeichnung „Holger-Bande“ zu verwenden. Sie will damit Stigmatisierungseffekten vorbeugen, kann aber nicht allen negativen Folgen aus dem Wege gehen.
Arno ist sehr betrübt und weint.

Interpretation

Um die typisch pädagogische Fragehaltung zu demonstrieren, die ich in Anlehnung und Fortführung von O.F. Bollnows anthropologischer Betrachtungsweise hier auf­nehme (vgl. z. B. 1975, 1980, S. 16), formuliere ich die Frage: „Wie muss das Wesen dieses jungen Menschen Arno beschaffen sein, damit ich seine Angst als notwendig und sinnvoll begreifen kann?“
Da die Angst die geistig-personale und die psychische Dimension betrifft, ist es sowohl nötig als auch hilfreich zu erfahren, was der Junge in der konkreten Situation erlebt (d.i. der Bezug zur psychischen Dimension) und was die Situation für ihn bedeutet (d. i. der Bezug auf die geistig-personale Dimension). Damit wird eine Analyseebene beschritten, die jeder Lehrer mit ein bisschen Sensibilität für junge Menschen bewältigen kann.
Was also erlebt der Junge in der konkreten Situation des Beispiels? Zunächst erlebt der Junge eine Situation, die er nicht sofort lösen kann. Das Problem beschäftigt ihn längere Zeit, bevor er es artikuliert. Er hat also eine gewisse Zeit in einer psychisch belastenden unentschiedenen Situation gelebt. Entscheidungsoffene Situationen sind für Menschen immer äußerst unangenehm.
(…)
Der Junge erlebt ferner, wie es ist, keinen Ausweg aus einer schwierigen Situation zu sehen, bzw. keinen, dem er guten Gewissens zustimmen könnte. Mit der Äußerung: „Wieso soll ich den Stuhl hergeben, auf dem ich bisher gesessen bin? Ich habe mich daran gewöhnt und er ist bequem“ hat sich Arno selbst festgelegt. Er will auf alle Fälle den Stuhl behalten. Allerdings hat er auch die Grenzen benannt, innerhalb deren er das Ziel erreichen will. Er will sich weder um den Stuhl prügeln, noch die Lehrkraft als Mittler einschalten. Er will kein Petzer sein. Damit hat er sich nicht nur inhaltlich (den Stuhl behalten), sondern auch methodisch (nicht prügeln, nicht petzen) festgelegt oder „eingegrenzt“. Der Grund für die selbstgewählte Eingrenzung ist in Arnos Lebensstruktur zu finden. Prügeln und Petzen passen nicht in seinen Orientierungsrahmen.
Der Sinn dieser selbstauferlegten Eingrenzung wird von dem Rechtsempfinden Arnos jedoch angezweifelt. Wieso soll der Stuhl hergegeben werden, wenn eindeutig feststeht (in Arnos Sicht), dass Karsten den Stuhl zu Unrecht beansprucht und sich Arno im Recht fühlt? Warum kann die Durchsetzung auf legalem Wege nicht möglich sein? Das kann Arno nicht einsehen.
Der Junge erlebt ferner, wie es ist, sich mit inakzeptablen Konsequenzen auseinan­dersetzen zu müssen. Die eine Alternative lautet: Der Gegner darf zuerst im Klassenzimmer sein und den Stuhl besetzen. Es wird dann zum Streit kommen, weil Arno nicht nachgeben möchte. Die Lehrkraft würde Arno nicht glauben, weil eine Clique gegen ihn aussagen würde. Er wäre isoliert und müsste mit einer Strafarbeit rechnen, weil er eine verbotene Bezeichnung anwenden würde. – Die andere Alter­native lautet: Die Mutter soll der Lehrkraft den Sachverhalt schildern und sich um die Klärung der Angelegenheit bemühen. Aber hier fühlt sich der Junge in seiner Selbständigkeit beeinträchtigt. Damit gerät er mit seinem Lebens- oder Selbstkonzept oder mit seinem Real-Ich (seinem Selbstbild, wie es subjektiv wirklich ist) in Konflikt. – Die dritte und letzte Alternative läge darin, die Mutter von Karsten einzuschalten. Aber das würde Kreise ziehen, die Arno nicht recht wären, weil er damit neue Schwierigkeiten mit Karsten voraussieht.
Die Sicht dieser drei Alternativen lässt den Jungen eine anscheinend ausweglose Situation erleben. Daher ist er betrübt und weint. Dieses Verhalten sollte auf Erwachsene wie ein Signal wirken. Es stellt eine Selbstoffenbarung dar. (Vgl. Schulz von Thun 1983)
Wie aber – so müssen wir in pädagogischer Absicht weiter fragen – ist das „Wesen“ dieses so empfindenden, denkenden Jungen zu verstehen?
Das Wesen dieses Jungen ist vom Bemühen um Legalität und von sozialer Einstellung sowie einem Gerechtigkeitsgefühl gekennzeichnet. Seine Lebensleitlinie könnte lau­ten: „Alles muss rechtens sein“ oder „Ich möchte nichts Unrechtes tun“.
Die Angst dieses Jungen, gegen Vorschriften zu verstoßen und sozial isoliert zu sein, ist sinnvoll, weil in seinen Augen die Ausweglosigkeit der Situation ihn zwingt, sich um den Stuhl zu streiten und dann unangenehme Konsequenzen auf sich zu nehmen.

Ergebnis der Analyse
Die Angst stimuliert den Jungen, alles zu tun, um die Konfliktsituation erfolgreich zu bewältigen. Die Angst ist insofern berechtigt und notwendig. Aber die Angst macht offenkundig, dass sich der Junge nicht alle Möglichkeiten vor Augen geführt hatte; denn am nächsten Tag löste sich das befürchtete Problem von selbst. Karsten beanspruchte den Stuhl überhaupt nicht. Also war die Einschätzung der Situation – durch was auch immer verursacht – nicht richtig. Wahrscheinlich ging es Karsten nicht um den Stuhl, sondern um die persönliche Auseinandersetzung mit Arno. Vielleicht empfand Karsten die Situation anders als Arno. Es ließen sich weitere Vermutungen anstellen. Was also hat Arno aus dieser Situation gelernt?

Die Analyse des Beispiels legt fünf Lernergebnisse nahe. Sie werden in Selbstaussa­gen Arnos wiedergegeben.
(a) Ich brauche vor Karsten keine Angst zu haben. Ich habe ihn nicht richtig eingeschätzt.
(b) Ich kann es schwer ertragen, von Spielkameraden abgelehnt zu werden und gegen das Verbot der Lehrkraft zu verstoßen.
(c) Es war richtig, nicht zu schlagen, und mich zu beherrschen.
(d) Der andere kann sich immer auch anders verhalten wie ich meine. Es gibt viele unerwartete Reaktionen, die ich nicht kennen kann, weil ich wenig über ihn weiß.
(e) Ich brauche niemals zu verzagen, weil es immer einen Ausweg gibt. Daraus ergeben sich für den Lehrer die folgenden Konsequenzen:

  • Der Lehrer muss bedenken, wie Verbote auf Kinder wirken (entweder überhaupt nicht oder sehr belastend);
  • Reaktionen und Aktionen der Schüler sind als Signale zu verstehen; sie sagen viel aus über den Menschen selbst (Selbstoffenbarung);
  • Wenn der Lehrer an dem Schüler nichts wahrnimmt, dann heißt das nicht, dass in ihm „nichts los“ ist.

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