Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Folgende Fälle liegen dem Vergleich zugrunde:

Vergleich der Argumentationsprozesse
Im Hinblick auf unser theoretisches Interesse dient die Komparation hier der vertiefenden Rekonstruktion von Argumentationsformaten und der dabei aufgetretenen Partizipationsweise. Die thematische Konstanz der Szenen ermöglicht, sich in der Hervorbringung der Argumentation abzeichnende Unterschiede der Konstellation der Paare, hier die Zusammensetzungen Schüler-Schüler und Schüler-Lehrerin, zuzuschreiben.

Argumentation und Rationalisierungspraxen
Hier soll vor allem der Umgang mit den verschiedenen Darstellungen für die additive Zerlegung verglichen werden.
In der mathematischen Sprache wird die Zerlegung als Additionsterm beschrieben. Die verschiedenen Darstellungsformen werden von uns im Folgenden als unterschiedliche „Sprachen“ aufgefasst:

  • In der Blockdarstellung wird diese Addition durch die formale Gestaltung der Kästchen wiedergegeben: Die Summe steht oben, die Summanden unten. Die entsprechenden Zahlen kann man ablesen bzw. müssen eingetragen werden.
  • In der Kreisdarstellung werden die Summanden durch unterschiedliche Farbgebung präsentiert. Die Summe lässt sich durch die Gesamtanzahl der Kreise zählend ermitteln.
  • An der Perlenkette werden die Summanden ebenfalls durch unterschiedliche Farben gekennzeichnet. Hier ist jedoch das Abzählen der Summanden und das Zusammenschieben – eventuell durch Einsicht in die Struktur der Rechenkette verkürzt – als Handlung der visuellen Abbildung vorgeschaltet. Die Summe entspricht der Gesamtanzahl der Perlen. Für die Ermittlung des Ergebnisses müssen jedoch wie bei der Kreisdarstellung nur noch die Perlen abgezählt werden und es dürfen keine weiteren Handlungen erfolgen.

In der ersten Erklärung, die die Lehrerin Efrem anbietet, wird die Blockdarstellung als Additionsaufgabe vorgelesen. Somit lassen sich hier Ansätze erkennen, wie die Blockdarstellung in die Sprache der Mathematik zu übersetzen ist. Darüber hinaus bleibt die Argumentation jedoch rudimentär; die Konklusion, die gerade diese Übersetzung leisten könnte, ist lediglich implizit angedeutet.
Differenzierter erscheint der Umgang mit verschiedenen Darstellungsebenen in der zweiten Argumentation, in der die Rechenkette als Hilfsmittel herangezogen wird.
Diese Argumentation ist in der Tiefe voll ausgearbeitet und mehrgliedrig strukturiert. Dies scheint sich hier durch die verschiedenen Übersetzungsleistungen von einer Darstellung in die andere zu ergeben. Dabei werden die Darstellungsebenen von der Lehrerin teilweise in einer Anweisung zusammen angesprochen, etwa: leg mir das mal hin . zeig mir das mal (Rechenkette) ne Zehn / und ne Drei (Blockdarstellung) <535>. Es lässt sich eine begriffliche Trennung der Darstellungsebenen erkennen, wobei die Lehrerin die jeweilige Übersetzungsarbeit übernimmt (durch Pfeil angedeutet):

  1. jetzt steht hier (Block) –> leg mir das mal hin (Rechenkette)
  2. wieviel haste dann (Rechenkette) –> wo schreibst du die hin (Block)

Hier emergiert ein Argumentationsformat für den Umgang mit der Rechenkette als Hilfsmittel (Rationalisierungsmittel): Man muss die zu lösende Aufgabe aus der Blockdarstellung in die Sprache der Rechenkette übersetzen (1). Dort kann das Ergebnis abzählend ermittelt werden und ist als Zahlenfakt wieder in die ursprüngliche Darstellung zu übertragen (2). Diese inszenierte Homologie zwischen den Darstellungen wird nicht ausgesprochen; die Lehrerin erteilt Efrem Handlungsanweisungen immer bezüglich einer Darstellungsebene (s. a. Krummheuer 1989).
Die Lehrerin, die dieses Argumentationsformat initiiert, bezieht Efrem in die Hervorbringung mit ein. Er ermittelt an der Rechenkette das Ergebnis und ergänzt immer in der gerade von ihr verwendeten Sprache:

  • Er zählt die Perlen für die Summanden einzeln ab,
  • Er zählt dann die Perlen insgesamt und schreibt die abgezählte Zahl als Ergebnis in das noch leere Kästchen.

In der Analyse der Sprecherfunktion ließ sich dies an einer eingeschränkten Verantwortung für seine Redebeiträge erkennen.

Aus dem Argumentationszyklus, der in der Szene zwischen Efrem und Wayne rekonstruiert wurde, werden Efrems Überlegungen <432-436> und die gemeinsame Argumentation <452-456> herangezogen.
Efrem ist bemüht, einen Zusammenhang zwischen den beiden Darstellungen zu finden. Das Abzählen als Handlungspraxis auf der Kreisebene kommt nur durch das Nennen der Anzahlen zum Ausdruck. Hinschreiben als Tätigkeit auf der Blockebene wird direkt verbalisiert. Dies wurde schon von Wayne für diese Ebene eingefordert – und wird auch im weiterem Verlauf der Interaktion als einzige auszuführende Handlung mehrfach direkt angesprochen. Efrem setzt die Tätigkeiten Abzählen und Eintragen der Veranschaulichungsebenen passend ein, der Zusammenhang bleibt jedoch sehr vage, so dass hier wohl keine begrifflichen Aspekte beinhaltet sind.

Die Argumentation, die Wayne und Efrem gemeinsam hervorbringen <453-456>, beschränkt sich auf die Blockebene. Hier werden daher keine „Übersetzungen“ notwendig. Sie verlassen sich auf die Aufgabenfolge, die sie aus den Lösungen in den ersten drei Reihen ableiten. Die Rationalisierungspraxis ist somit einerseits vollständig auf das Arbeitsblatt bezogen. Andererseits ist sie „universell“ anwendbar auf Arbeitsblätter, die ähnliche Aufgabenabfolgen – etwa als Möglichkeit der Selbstkontrolle – aufweisen, unabhängig von der begrifflichen Zielstellung der Aufgaben (hier: dezimale Zerlegung).
Auch wenn es Efrem gelungen ist, den Zusammenhang zwischen dem Abzählen der gelben Kreise und dem vertikalen Eintragen der Lösungszahlen wahrzunehmen, wird damit nicht die dezimale Zerlegung, die in den beiden Darstellungsformen repräsentiert ist, thematisiert. Vielmehr zeichnet sich auch hier eine eher generelle Einstellung für Mathearbeitsbögen ab: die verschiedenen Darstellungen sind in einen Zusammenhang zu bringen und entsprechend Lösungen einzutragen (siehe hierzu auch Bauersfeld 1982). Diese Grundeinstellung für die Bearbeitung von Aufgabenblättern im Mathematikunterricht wird durch die abschließende Reduzierung der Interaktion auf die leeren Kästchen durch Wayne zum „Beurteilungskriterium“ für das Gelingen der Hilfe: Wenn Efrem die Kästchen (richtig) ausfüllen kann, hat er das [Arbeitsblatt] verstanden. Ein Argumentationsformat ist dabei nicht rekonstruierbar.

Die Sprechenden und das production format
Die Helfenden der jeweiligen Szenen beziehen sich anfangs ausdrücklich auf das Arbeitsblatt und sprechen so mit eingeschränkter Verantwortlichkeit. In den Äußerungen der Lehrerin ließ sich das Motiv erkennen, die Zerlegung bzw. Addition als „Lerninhalt“ weiterzugeben. So wurde die Lehrerin für die entsprechenden Äußerungen in der Funktion des Traduzierers rekonstruiert und das Aufgabenblatt als Formulator gesehen. Durch den Rückgriff auf die Rechenkette, der an dieser Stelle nicht unmittelbar dem Arbeitsblatt zu entnehmen ist, verschob sich die Interaktion auf den Umgang mit Veranschaulichungsmaterial als Rationalisierungsmittel. Hier wurde die Lehrerin wiederholt in ihren Äußerungen in der Funktion eines Kreators rekonstruiert.

Ein Motiv mit didaktischer Zielsetzung ließ sich in Waynes Äußerungen nicht rekonstruieren. Auch wurden keine von der Aufgabe losgelösten Rationalisierungsmittel (wie die Rechenkette von der Lehrerin) herangezogen. Aber in seinen Erklärungsversuchen ließ sich durchaus auch eine gewisse Originalität erkennen, die über ein bloßes Vorsagen hinausgehen. Nach unseren Analysen wollte er Efrem zu einer eigenständigen Bearbeitung des Blattes verhelfen und hat dazu die Lösungen des Arbeitsblattes herangezogen, so dass auch hier zunächst das Arbeitsblatt als Formulator fungierte und Wayne in der Funktion des Traduzierers rekonstruiert wurde. Durch die Konvergenz der Bearbeitungsweisen von Wayne und Efrem kam es hier zu Verschiebungen, die Wayne in Teilen seiner Äußerungen als (Paraphrasierer) mit Efrem als Initiator rekonstruieren ließen.

Für Efrem als den Hilfeempfänger in den beiden Szenen ließen sich unterschiedliche Partizipationsformen rekonstruieren. In beiden Interaktionen ließen sich jedoch Sequenzen ausmachen, in denen er „Antworten auf Probe“ in der Funktion eines Imitierers formuliert hat. In der Szene mit der Lehrerin wurde er als Imitierer für die akustische Hervorbringung der Zahlen auf dem Arbeitsbogen bzw. als Paraphrasierer für die Umsetzung von Handlungen auf den verschiedenen Ebenen verstanden. Hingegen griff er Teile der Erklärung von Wayne als Traduzierer auf und konnte seine sich daraus entwickelnde Idee in die schließlich gemeinsam hervorgebrachte Argumentation einbringen.

Schlussbemerkungen
Ausgangslage der hier beschriebenen Interaktionen waren offenkundige Schwierigkeiten, die Efrem bei der Bearbeitung des Aufgabenblattes hatte. Im Rahmen der Tischarbeit hatte er die Gelegenheit, sich mit verschiedenen Interaktionspartnern als Helfende thematisch mit dem Arbeitsblatt auseinanderzusetzen. Die Zusammenarbeit sollte Efrem zum Überwinden der Schwierigkeiten verhelfen. Die soziale Bedingtheit seiner möglichen Lernprozesse soll daher nochmals anhand der Originalität und Authentizität, wie wir sie Efrem in der Analyse der Argumentationsprozesse zugeschrieben haben, beleuchtet werden.
Wie schon aufgezeigt, war die Art seiner Beteiligung an den Argumentationsprozessen unterschiedlich gestaltet. In beiden Interaktionen wurden zu Beginn ähnliche Partizipationsstrukturen rekonstruiert: Efrem konnte in der Funktion eines Imitierers Antworten auf Probe einbringen, während das Arbeitsblatt als Formulator und die Helfenden als Traduzierer fungierten. Im weiteren Verlauf der Situationen kam es jedoch zu unterschiedlichen Weiterentwicklungen:

  • Die begrifflichen Vorstellungen, die die Lehrerin mit dem Arbeitsbogen verbindet (Zerlegung, Addition), kommen implizit in der Emergenz eines Interaktionsmusters zur Sprache. Die Lehrerin hat mit der Rechenkette ein Hilfsmittel herangezogen und sich vom Arbeitsblatt und der unmittelbar vorliegenden Aufgabe gelöst. Im zweiten Argumentationsstrang ließ sich so ein Argumentationsformat identifizieren, das den Umgang mit der Rechenkette als Rationalisierungsmittel bestimmt. Efrem wurde in ein Argumentationsformat eingebunden, das im Kern auch für andere Aufgaben geeignet sein könnte. Dieses Muster kann offenbar flüssiger hervorgebracht werden, wenn der noch nicht souverän partizipierende Hilfeempfänger in der Verantwortlichkeit seiner Beiträge eingeschränkt handelt. Efrem fungiert hier bzgl. seiner Verantwortlichkeit lediglich als Imitierer, so dass seine Beteiligung als „Teil-Sein“ an einem Argumentationsformat beschreibbar ist. Als vorläufige Deutung lässt sich gerade die der Lehrerin zu unterstellende didaktische Absicht als eventuell hinderlich für verantwortliche Beiträge des Hilfeempfängers verstehen.
  • Waynes Äußerung ließen eine direkt am Ausfüllen des Arbeitsblattes orientierte Erklärungsabsicht erkennen, die kaum „übertragbare“ Elemente für andere Arbeitsblätter erwarten lässt. Hierbei konnte Efrem seine Beiträge recht eigenständig gestalten. Es wurde über das gesprochen, was direkt vorlag – bzw. als Arbeit anlag. Keine darüber hinausgehenden Konzepte wurden thematisiert. Die Funktionen der Kinder für die Beiträge der Argumentation waren von ähnlicher Art der Verantwortung. Insofern waren sie als Interaktionspartner gleichberechtigt. Orientiert am Ausfüllprozess lässt sich Efrem als „Mitgestalter“ des Argumentationsprozesses beschreiben, verbunden mit Verantwortlichkeit auch für Motive einzelner Beiträge. In dieser pragmatischen Auseinandersetzung mit dem Arbeitsblatt, die sich zu keinem Argumentationsformat ausformte, ließen sich somit auch Aspekte des „Teil-Nehmens“ für Efrem rekonstruieren. Die sich hier abzeichnende Zunahme an Authentizität und Originalität in den Beiträgen des Hilfeempfängers ging somit einher mit einer zunehmend pragmatischen Ausrichtung der Interaktion. Hier zeigen sich exemplarisch aus partizipationstheoretischer Sicht die Stärken und Schwächen von Gruppenarbeit.

In der peer-interaction zwischen Efrem und Wayne kann man dem Hilfe suchenden Schüler Efrem zwar eine höhere Eigenverantwortlichkeit und Authentizität bei seinen mathematischen Handlungen unterstellen. Aus argumentationstheoretischer Sicht waren sie jedoch nicht in eine formatmäßige Struktur eingebunden: Sie enthalten gleichsam nicht die Option auf einen (fachlichen) Autonomiezuwachs bei der Bearbeitung ähnlicher Aufgaben.
Die Partizipationsstruktur in der Interaktion zwischen Efrem und der Lehrerin bedingten für Ersteren eine deutlich größere Abhängigkeit. Dies drückt sich in seiner vorwiegenden Partizipationsfunktion als Imitierer aus. Die dabei rekonstruierte kleinschrittige Vorgehensweise erinnert an entsprechende Interaktionsmuster im fragend-entwickelnden Klassengespräch. Der geringeren Authentizitätszuschreibung seiner Äußerungen steht die Einbettung in ein Argumentationsformat, das die Rechenkettenveranschaulichung als Rationalisierungsmittel zum Inhalt hat, gegenüber. Ein Autonomiezuwachs in Efrems mathematischen Handlungen ist hier aus theoretischer Sicht als Option möglich. Sie ist in der analysierten Episode jedoch noch nicht von ihm ergriffen worden. Der (Lern-) Erfolg steht noch aus.

Die durch die Komparation gewonnenen Einsichten in die Tischarbeit sind somit hinsichtlich der dort geschaffenen fachlichen Lernbedingungen zweischneidig. Dies weist auf einen erhöhten Forschungsbedarf und eine weitergehende Theoriereflexion hin.

Literatur

Bauersfeld, H. (1982): Analysen zur Kommunikation im Mathematikunterricht. In: Bauersfeld, H./ Heymann, H. W./ Krummheuer, G.; Lorenz, J. H. & Reiss, V.: Analysen zum Unterrichtshandeln. Köln: Aulis.

Krummheuer, G. (1989): Die Veranschaulichung als „formatierte“ Argumentation im Mathematikunterricht. In: mathematica didactica 12: 225-243

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