Falldarstellung
Eindruck der Interviewerin
Frau Bertrams wohnt in einer Altbauwohnung in der Nähe des Stadtzentrums in guter Wohnlage. Die Wohnung ist individuell und künstlerisch eingerichtet. Die Interviewerin vermutet, dass Frau Bertrams dort allein lebt. Sie macht den Eindruck einer „höflichen, sanften, eher ruhigen und tiefsinnigen Frau, ca. Ende 40″, Sie macht Tee und bietet der Interviewerin dazu „Apfelkuchen mit Vollkornteig“ an. Nach kurzen Informationsfragen zum Forschungsprojekt und den Tätigkeiten der Interviewerin reagiert sie auf die Aussage, „nach dem Referendariat habe ich zunächst was ganz anderes gemacht“, spontan: „Ja, genau wie ich.“ Es entsteht etwas Gemeinsames.
Momentane Situation
Frau Bertrams ist freiberuflich als Buchillustratorin tätig. Ihr Mann arbeitet auswärts und kommt nur am Wochenende heim. Die Kinder sind erwachsen und leben nicht mehr bei ihr zu Hause. Das älteste Kind verdient bereits selbst seinen Unterhalt, möchte aber vielleicht noch ein zweites Studium anschließen. Frau Bertrams kann über ihre Zeit innerhalb der Woche frei verfügen und weiß das zu schätzen. Der Beruf gibt ihrem Leben einen Sinn; er ist für sie z. Zt. das Wichtigste, wenngleich sie betont, „daß Freunde insgesamt noch wichtiger sind“. Die Interviewerin: „Selten habe ich einen Menschen so glücklich und zufrieden mit seiner Arbeit erlebt.“
Universitätssozialisation
Anders als bei Fall Abel entwickelt sich der berufliche Werdegang von Frau Bertrams nicht bruchlos. „Ganz, ganz früh, als ich noch zur Schule ging, war mal mein Traum Buchillustratorin. Und dann wollte ich überhaupt nicht mehr zeichnen, … das war mir irgendwie zu viel geworden, weil meine Mutter das so stark gefordert hat. Das war ihr Wunschtraum gewesen …“ Sie will nun lieber etwas „Handfestes“, z.B. Kindergärtnerin, Bewegungs- oder Beschäftigungstherapeutin. „Die Schulen waren damals überfüllt und ich hätte zwei, drei Jahre warten müssen, und da meinte meine Mutter, in der Zwischenzeit könnt’ ich doch schon mal auf ’ne Werkkunstschule gehen und dabei ist es geblieben.“ Die Zeit des ersten Studiums findet von der elterlichen Wohnung aus statt. Jeden Morgen fährt Frau Bertrams mit dem Zug in den Ort der Werkkunstschule und kehrt mittags wieder heim, macht ihre graphischen Entwürfe, wird von der Mutter begutachtet und gelobt. Studentisches Leben findet daneben nicht statt. „Ich bin in dieser Zeit kein Mal mit Freunden einen trinken gegangen.“ Dennoch: Sie befreundet sich mit einem acht Jahre älteren Ingenieurstudenten, der auch zu Hause akzeptiert wird und später ihr Mann ist. Nach sechs Semestern hört sie an der Werkkunstschule auf und zieht um: Ihr Verlobter schlägt vor, dass sie doch auch in seiner Heimatstadt studieren kann. Sie zieht in die Wohnung der Schwiegermutter, bei der sie auch zu Mittag isst. „Aber gerade in dem Moment, als ich hier anfing zu studieren, ergab sich für meinen Mann eine Stelle in Bayern. Da war er also nicht mehr hier.“ Der Ortswechsel bringt Enttäuschungen mit sich. Frau Bertrams wird um mehrere Semester zurückgestuft, weil sie von einer Fachhochschule zur Universität überwechselt. Nach zwei Semestern gibt sie auf. Das Geld bei ihren Eltern wird knapper, der Vater geht in Rente. Es folgen die Heirat, dem Mann zuliebe der Umzug in eine Kleinstadt, die Geburt zweier Kinder und ein einsamer Alltag. Der Mann hat inzwischen Arbeit in einer süddeutschen Großstadt gefunden. Frau Bertrams fehlen in der Neubausiedlung die Kontakte zu anderen Erwachsenen; die kleinen Kinder engen sie ein. Da wird eine Wohnung in dem Haus, in dem auch die Schwiegermutter wohnt, frei – eine willkommene Zwischenlösung. Wieder findet das Leben von Frau Bertrams unter mütterlichen Augen statt. Die Kinder gehen inzwischen zur Schule. „Da meinte mein Mann: ‚Alle Frauen in unserem Bekanntenkreis, die verdienen Geld und du nicht. Und Lehrerin, da wird man so schnell fertig …’ Und das fing hier grad damals an … Ich hab es dann auch gemacht, ohne da ganz groß hinter zu stehen.“ Eine Fortführung der Graphikausbildung schloss Frau Bertrams aus. Die Pause war zu groß geworden. „Also, mit Graphik werde ich nichts.“ Aber machen wollte sie irgendetwas, „weil ich nicht gut ertragen konnte, daß ich von anderer Leute Geld lebte“ (Gemeint ist das Geld, das der Ehemann verdient!). „Das hab ich nie abgelegt … Da wollte ich ’n Beruf haben. Aber wenn ich mich in ein Geschäft an die Kasse gesetzt hätte, wäre ich auch zufrieden gewesen.“ Sie nimmt ein Studium für das Grundschullehramt auf. Es wird etwas stressig mit dem Haushalt, den Kindern, dem am Wochenende heimkehrenden Ehemann. In diese Zeit fällt auch die Wiederaufnahme ihrer künstlerischen Tätigkeit. Wie durch einen Zufall lernt sie einen Hochschullehrer kennen, der ein Schulbuch herausgibt und ihre Zeichenkünste in Anspruch nimmt. Daraus entstehen eine neue Herausforderung und ein guter persönlicher Kontakt. Diesmal erzählt sie ihrer Mutter nichts von ihren Plänen. „Das ist dann wirklich meine eigene Sache gewesen, da hat sie wirklich kein Stück dazu beigetragen … Das glaube ich, war das Entscheidende, daß ich das wirklich alleine gemacht hab.“ Dieser neue Anfang begleitet Frau Bertrams in die Referendarzeit hinüber und wird eine wichtige Erfolgserfahrung, mit der sie über den engeren Berufsbereich von Schule und Unterricht hinauszublicken beginnt.
Konfrontation mit der Praxis in den Schulpraktischen Studien und im Referendariat
An die Schulpraktischen Studien hat Frau Bertrams keine präzise Erinnerung, ebenso wenig wie an andere Hochschulveranstaltungen. Mathematik fand sie grausam, das Kernstudium insgesamt bereichernd. Einige Hochschullehrer wurden für sie bedeutsam. Mit dem Referendariat fingen für Frau Bertrams die härteren Auseinandersetzungen mit der beruflichen Realität an. „Ich konnte mit Kindern sehr, sehr gut. Aber sowie ich eine Autorität hätte darstellen müssen, ging es nicht mehr. Ich hätte mich überhaupt nicht retten können vor diesen Kindern, die einfach nicht das wollten, was ich wollte … Es war total anstrengend, verzweifelt anstrengend.“ Sie scheitert in vielen Klassen an Disziplinproblemen, schafft es nicht, „Druck“ zu machen, konnte ihre eigenen Vorstellungen nicht umsetzen. Das hatte sie sich vor dem Studium nicht klar gemacht. Sie wollte „Kinder in ihrer Entwicklung unterstützen, in ihnen etwas anklingen lassen, etwas Kreatives wecken, schwierige Kinder fördern“. Sie mag die Neugier und das Staunen von Kindern. Aber das ständige Disziplin-halten-Müssen verleidet ihr die Schule. Sie kann sich mit der Lehrerrolle insgesamt nicht identifizieren, macht aber die Ausbildung zu Ende und wird dann arbeitslos. Die Illustrationen für das Schulbuch stellten eine psychische Überbrückungshilfe dar. Sie fühlt sich nicht ganz fallengelassen, ist im Übrigen eingebunden in den familiären Zusammenhang und bewirbt sich bei vielen Stellen (vor allem im graphischen Bereich).
Berufliche Identitätsbildung
Heute ist Frau Bertrams als Buchillustratorin voll ausgefüllt. Sie freut sich an interessanten Aufträgen im Kindersachbuchbereich, hat einen Preis bekommen für einen Kindermuseumsführer über ein ethnologisches Thema und muss sich seither keine Gedanken mehr machen, ob sie Aufträge bekommt. Der Lehrerberuf ist für sie kein Thema mehr, wenngleich sie die Ausbildung rückschauend als wertvoll einschätzt und zufrieden feststellt, dass sich in ihrer jetzigen Tätigkeit Pädagogisches und Gestalterisches verbinden. Der Weg in die berufliche Selbständigkeit beginnt unsicher und schmerzhaft. Zunächst probiert Frau Bertrams viele verschiedene Tätigkeiten aus und bewirbt sich bis 1985 auch im Schulbereich. Ein Jahr hilft sie in einer Arztpraxis aus. Drei Tage betätigt sie sich auch als Buchwerberin, bricht diesen Versuch aber gleich wieder ab, weil sie merkt, dass es ihr überhaupt nicht liegt, mit ihrer Person zu werben. Immer wieder bemüht sie sich um graphische Aufträge von Werbeagenturen und Zeitungen. Mit ihren Mappen stellt sie sich Verlagen und auf Buchmessen vor, ein mühsames und enttäuschendes Geschäft – bis dann der große Durchbruch kommt, als sie durch Vermittlung von Bekannten den Auftrag für den Kindermuseumsführer erhält, der später prämiert wird. Bis heute hat sie drei Bücher dieser Art fertiggestellt, daneben andere Sachbücher und Kinderbücher. Bei der Arbeit ist ihr wichtig, „daß ich den Text durch meine Bilder lebendiger mache …, daß da auch Sachen hineinkommen, die in der einfachen Faktenbeschreibung nicht drin sind.“ Diese Arbeit macht ihr Spaß. Manchmal ist es „wie Musik“, die Freude, etwas schaffen zu können. Die tiefen Depressionen, die sie früher durchgemacht hat, kann sie heute kaum mehr verstehen. Es gab eine Zeit, in der sie keinen Mut und keine Kraft mehr zum Leben hatte. „Ich hab nicht geglaubt, daß ich noch einmal lachen könnte.“ Und nun ist es so anders geworden: Frau Bertrams lebt in der Gewissheit, ans Ziel gekommen zu sein, es geschafft zu haben.
Familiäre Anamnese
Frau Bertrams wächst in einer süddeutschen Stadt mit wesentlich älteren Geschwistern auf. Sie erinnert sich daran, dass sie bis zu ihrem fünften Lebensjahr ein liebevolles Verhältnis zu ihrem Vater hatte, sich gern auf seinen Schoß setzte. Dann gewinnt die Mutter eine zunehmend dominante Rolle. Sie wacht über ihrer Entwicklung, ist stolz auf ihr Talent im Zeichnen, möchte sie fördern und hält sie unselbständig. Die Interviewerin: „Alle bewunderten sie um ihre doch so aufgeschlossene Mutter, doch sie selber stand im Schatten der Mutter. Ihre Mutter nahm ihr den Lebensraum.“ Sie entwickelte ihrerseits eine sehr enge Bindung an die Mutter, ließ sich von ihr bestimmen, traut sich keine eigenen Entscheidungen zu. Noch heute erinnert sich Frau Bertrams in allen Einzelheiten an das traumatische Ereignis, als sie ihrem Freund den Abschied geben wollte. „Dann sagte ich, so jetzt diesmal will ich das lösen und hab ihn am Bahnhof abgefangen, gar nicht erst nach Hause kommen lassen und ihm erzählt, daß ich nicht mehr will … hab dann natürlich geheult, hab’s aber fertiggebracht, daß ich allein nach Haus gegangen bin.“ Als sie wieder zuhause war, klingelte mehrfach das Telefon. Immer war es ihr Freund, der sich nicht abweisen lassen wollte. Schließlich entschied die Mutter, dass er doch wenigstens eine Nacht bei ihnen schlafen könne, er wüsste ja nicht mal wohin. „Und als ich dann am nächsten Morgen aufwachte, da saßen sie schon am Frühstückstisch und alles war geklärt. Da waren sie sich wieder einig, und ich war erleichtert, ich hatte mir alle Mühe gegeben, aber es hat nicht hingehauen. Ihr Entschluss sich zu trennen, wurde überhaupt nicht respektiert. Das war auch in anderen Dingen so. Erst als Frau Bertrams später selber Kinder hat, distanziert sie sich innerlich von der Mutter, erzählt ihr nichts mehr, entwickelt Wut auf sie. Sie weiß, dass es wichtig war, den neuen beruflichen Anfang vor der Neugier der Mutter zu schützen. Sie erkennt heute, dass ihre Mutter in der Sehnsucht nach eigenem künstlerischen Erfolg und nach gesellschaftlicher Anerkennung lebte. Sie fühlte sich ihrem Mann haushoch überlegen, stellte ihn als Dorftrottel hin. Man durfte ungeniert über ihn lachen. Frau Bertrams fing als junges Mädchen an, sich wegen ihres Vaters zu schämen. Heute hat sich die Einschätzung ihrer Eltern ganz und gar verändert: Rückschauend sieht sie in ihrem Vater einen freundlichen, stillen und hilfsbereiten Menschen, den sie durch die enge Beziehung zu ihrer Mutter weitgehend aus ihrem Leben ausgeschlossen hat. Die Überlegenheitsgefühle ihrer Mutter seien unbegründet gewesen und hätten ihr letztlich keine Genugtuung gebracht. „Meine Mutter ist keine glückliche Frau gewesen.“ Heute habe sie zu ihrer Mutter eine ganz erträgliche Beziehung. Allerdings ist sie doch wohl froh, dass ihre Mutter an einem anderen Ort wohnt und die meisten Kontakte per Telefon stattfinden, so kann sie auch mal sagen, wann Schluss sein soll. Ihren Vater hat sie vor drei Jahren verloren und sehr um ihn getrauert.
Beziehungsgeschichte
In der Verlobungs- und Ehegeschichte lässt sich Frau B. vornehmlich durch die anderen bestimmen. Zunächst durch die Mutter, die den Trennungsversuch von ihrem Freund negiert und dann immer wieder bei der Wahl der Orte und Wohnungen durch ihren späteren Ehemann. Es hat den Anschein, als wenn Frau Bertrams gar nicht ihr eigenes Leben lebt, sondern durch die anderen gelebt wird. Der Berufsort des Mannes ist schon zu Beginn der Ehe ein anderer als der Familienwohnort, so dass die Ehe nur am Wochenende stattfinden kann. Zunächst gibt es noch ein paar Versuche, eine Wohnung am Arbeitsort zu suchen; vielleicht sind sie jedoch auch nicht so ernst gemeint, denn es ändert sich nichts. Das Ehepaar richtet sich mit dieser Art von Einsamkeit und Gemeinsamkeit ein. Innerhalb der Woche ist der Mann von der Arbeit total besetzt (abends liest er lediglich Zeitung und sieht fern). Am Wochenende erwartet er von seiner Frau ein großes Unterhaltungsprogramm. Wenn er am Freitagabend nach zweistündiger Autofahrt gegen 22 Uhr angestrengt und müde nach Hause kommt, muss noch etwas passieren. Er möchte Freunde besuchen, gemeinsam Essen gehen, einen Film sehen. Beide Ehepartner tun das Ihre zur Aufrechterhaltung des Status quo. In der Woche kümmert sich Frau Bertrams um den Haushalt, die Schwiegermutter und die Kinder. Wenn der Mann kommt, muss fürs Wochenende alles vorbereitet sein; die Kinder werden aus dem Weg gehalten, sie sollen den Vater nicht zusätzlich strapazieren. Für seine Kinder habe ihr Mann nie viel getan. „Er war nicht bei den Geburten dabei, hat, als sie klein waren, nicht die Windeln gewechselt oder die Flasche gegeben.“ Sie resümiert bitter: „Und schon damals, obwohl ich so blöd war … und überhaupt keinen Durchblick hatte, hab ich mal gesagt, du merkst erst, daß du ne Tochter hast, wenn ich sie in die Mülltonne stecke, dann fängst du an zu jammern!“ Ihr Mann könne nichts hergeben, sich von nichts trennen, vor allem nicht von materiellen Dingen (das ginge bis zu Zeitungsstapeln und Pappkartons). Frau Bertrams weiß, dass ihr Mann Freundinnen hat, es wäre immer so gewesen, aber es wundert sie, dass das alles nur am Familienwohnort passieren muss, alles in das Wochenende hineingepresst wird. Ihr Mann sei an seinem Arbeitsort völlig inaktiv. Es wäre doch sehr leicht, sich dort eine Freundin zu halten. Aber da täte er nichts dafür. Offensichtlich findet er die Teilung zwischen Wochenende und Arbeitswoche ganz bequem. So geht es jahrelang ungestört, bis sie mit der Zeichnerei anfängt. Erst hätte ihr Mann gedacht, das sei nur ein Hobby, auf das er keine Rücksicht nehmen müsse. Aber Frau Bertrams wird zunehmend ernster; sie riskiert die ersten Konflikte. „Zeichnen werde ich, das ist mir wichtiger als du.“ Später unterstützen sie ihre Kinder. Die zunehmende Beanspruchung durch die neue Tätigkeit führt dazu, dass Frau Bertrams nun auch am Wochenende nicht mehr soviel Zeit hat. Herr Bertrams ist darüber ärgerlich. Frau Bertrams fährt nun auch nicht mehr mit ihrem Mann in den Urlaub. Ein neuer Status quo pendelt sich ein und bleibt jahrelang erhalten. Die berufliche Tätigkeit nimmt Frau Bertrams zunehmend mehr in Beschlag, die Kinder schließen die Schule ab, gehen nach auswärts in die Ausbildung und entlasten damit auch die Mutter, die mit ihrer neuen Situation zunehmend zufriedener wird. Dann ergibt es sich, dass der Sohn psychotherapeutische Hilfe braucht, weil er eine Hautallergie entwickelt (immer wenn er mit seiner Freundin zusammen war). Er sucht sich an seinem Studienort einen Therapeuten, der auch das familiäre Umfeld kennenlernen möchte. So kommen auch Frau Bertrams und später auch einmal Herr Bertrams mit ihm ins Gespräch. Frau Bertrams fängt an, über ihre Ehe nachzudenken und möchte ihren Mann gern für eine Ehetherapie gewinnen, aber der wehrt sich. Dann stirbt seine Mutter, die von Frau Bertrams versorgt und betreut worden war. Der Mann nahm ihr in dieser Hinsicht so gut wie gar nichts ab, hatte wenig Kontakt „nach unten“ und war auch nur auf hartnäckiges Betreiben bereit, seiner Frau am Wochenende den halbstündigen Spaziergang mit der Mutter abzunehmen. Aber nun, da die Mutter gestorben ist, ist es für ihn eine Katastrophe. Er muss die Wohnung auflösen, kann sich aber von nichts trennen. Zum ersten Mal verbringt er seinen vierwöchigen Urlaub in der Wohnung der Frau, um die Hinterlassenschaft seiner Mutter zu sichten und den Haushalt aufzulösen. Diese Zeit hat Frau Bertrams in grauenhafter Erinnerung. Die Spannung wird unerträglich, sie weiß, so kann es nicht weitergehen. Sie stellt ihren Mann vor die Alternative, dass etwas passieren muss (eine Ehetherapie) oder sie sich trennen müssen. Sie will ihrem Mann die Wahl des Therapeuten an seinem Arbeitsort überlassen und wäre dann bereit, jeweils freitags zu ihm zu fahren, um gemeinsam mit ihm am Samstag zurückzufahren. Zum Zeitpunkt des Interviews liegt diese Absprache erst kurze Zeit zurück, und ihr Mann hat ihres Wissens nach noch keinen Therapeuten angesprochen. Sie weiß aber, dass sie nicht locker lassen will und wirkt dabei so entschieden, dass sie sich nun nicht mehr kleinkriegen lassen wird.
Interpretation
Psychoanalytisch orientierte Diskussion der Identitätsbildungsprozesse bei Frau Bertrams
Am Identitätsbildungsprozess von Frau Bertrams fällt auf, dass es ihr erst in den mittleren Lebensjahren gelingt, ihre „außengeleitete Persönlichkeit“ (Riesman), die deutliche Züge einer Pseudoidentität trägt, nochmals einem wesentlichen Wandel zu unterziehen und – mindestens im beruflichen Bereich – einen kreativen Identitätsbildungsprozeß zu initiieren, der zu einem hohen Maß an Befriedigung der beruflichen Entfaltung für Frau Bertrams führt: „Der Beruf ist also eigentlich das Wichtigste jetzt in meinem Leben … geworden … Er gibt nicht den Tagen das Ziel, sondern einfach dem Leben das Ziel …“ (Tiefeninterview, 1).
Lebensgeschichtlich steht dieser verspätete Entwicklungsprozess in Zusammenhang mit der engen Mutterbindung von Frau Bertrams. In ihrer Erinnerung hatte sie in ihrem Vorschulalter eine zärtliche Beziehung zu ihrem Vater, der sich aber ebenfalls von der Mutter dominieren ließ. – Im Grundschulalter rückte dann aber die Beziehung zu ihrer Mutter mehr und mehr in den Vordergrund. Sie wachte mit einer „Affenliebe“ (12) über die schulische, künstlerische und soziale Entwicklung ihres Nesthäkchens und zwar bis weit in deren Studentenzeit hinein. Frau Bertrams stellt nachträglich fest, wie sehr sie ihre Mutter idealisierte, wie übrigens auch ihre Freundinnen, die sie wegen der „modernen Einstellung ihrer Mutter“ beneideten. Sie realisiert nun allerdings auch, welchen Preis sie für diese enge Mutterbeziehung in ihrer Adoleszenz zahlte: „Vor den Männern hatte ich eine Heidenangst“ (10) … „Ich bin kein einziges Mal abends mit Freunden einen trinken gegangen“. Stattdessen bleibt sie „bei Muttern“, lässt sich von ihr versorgen und sich ihre künstlerische Tätigkeit bewundernd überwachen. Die einzige eigenständige Regung, von der wir aus dieser Zeit erfahren, ist der Versuch, sich von ihrem Freund zu lösen. Doch in der erwähnten, eindrücklichen Frühstücksszene scheitert dieser Autonomie- und Loslösungswunsch kläglich: Sie fügt sich ins Schicksal, dass sie sich weder von ihrer Mutter noch von ihrem Freund trennen kann. „Er (der Trennungswunsch) war vergeblich, und er wurde überhaupt nicht respektiert“. Nach diesem abgebrochenen Autonomieversuch verstärkt sich ihre Fremdbestimmung durch die Mutter, später auch durch den Ehemann und die Schwiegermutter. Psychoanalytisch gesehen bildet sie mehr und mehr Züge einer Pseudoidentität aus. „Und nach weiteren zwei Semestern habe ich dann abgebrochen und hab geheiratet … Ich hab keinen einzigen Tag in meinem Leben nie ohne dieses Eingebundensein auf eigenen Füßen gestanden, mit eigenem Zimmer und so. Das ist immer von einem zum andern nahtlos übergegangen.“ (11) Wie es dem Bild der Pseudoidentität entspricht, findet sie zusammen mit ihrem Mann ein stabiles Rollenarrangement (Wochenendbeziehung, seine Freundinnen etc.). Doch ermöglichen ihr die ungelösten Separations- und Autonomiekonflikte, sowie vermutlich darüber hinaus auch die unbewusst weiterbestehenden ödipalen Bindungen weder eine kreative Entfaltung im beruflichen Bereich, eine tragende narzisstische Selbstregulation, noch eine erwachsene Liebesbeziehung zu ihrem Partner (der übrigens offensichtlich seinerseits unter einer starken Mutterbindung leidet): Die gemeinsamen Wochenenden und Ferien werden für sie zur Qual; es kommt auch zu keinem gemeinsamen befriedigenden Erleben der Elternschaft: „Meine Kinder sagen, sie hätten eine Mutter und einen Vater, aber keine Eltern“. – Dass dieses Arrangement aber mit viel unbewusstem Hass und Enttäuschung verbunden ist (vgl. z.B. „Mülltonnenfantasie“), und sie in eine schwere Depression stürzte, wird von ihr rückblickend mit erstaunlicher Selbstreflexion beschrieben: „Ich glaube, es war ein paar Jahre so, daß ich das Gefühl hatte, ich könnte nie wieder lachen …“ (8)
Wir wissen wenig Konkretes über die frühen Vorläufer ihrer schweren Autonomieproblematik; doch ist aufgrund der Schilderung der mütterlichen und väterlichen Persönlichkeiten durch Frau Bertrams selbst anzunehmen, dass die Mutter auch schon im 2./3. Lebensjahr ihre Schwierigkeiten hatte, sich von ihrer Jüngsten zu trennen und deren autonome Bedürfnisse positiv zu besetzen. Auch scheint wahrscheinlich, dass der Vater nur ungenügend zur frühen Triangulierung zur Verfügung stand. Wir fanden relativ viele Hinweise in den Interviews, dass ihre tiefe Autonomieproblematik, die wenig „Pendeln“ zwischen Innen und Außen, Selbst und Objekt, in der frühen Individuations- und Separationsphase vermuten lässt (vgl. M. Mahler 1985), ihr eine Entwicklung sicherer Selbst- und Objektgrenzen, sowie die Integration eigener archaischer, aggressiver Impulse in ein tragendes Selbst- und Selbstidealbild erschwerte. Dass sie zu den Kindern bis heute eine auffallend harmonische Beziehung unterhält (ihre Kinder unterstützten z.B. als Adoleszente die Berufswünsche der Mutter ohne negative Gefühle und Handlungen!), sowie das Faktum, dass ihr spätadoleszenter Sohn unter einer psychogenen Hautallergie (ausgelöst durch die körperliche Nähe zu seiner Freundin) leidet, lassen vermuten, dass unbewusst dieser Separationskonflikt auch in ihrer Beziehung zu ihren Kindern eine entscheidende Rolle spielte.
Für unsere Thematik ist nun interessant, dass die erschwerte Berufssituation Frau Bertrams eine Chance bietet, ihre Pseudoidentität aufzubrechen und sukzessiv einen kreativen Identitätsbildungsprozess zu initiieren, der ihre künstlerische Begabung zu „ihrer eigenen“ werden lässt. [Sie erzählt wohlweislich ihrer Mutter, die sie nun übrigens oft hasst (und real nie mehr als zwei Tage hintereinander aushält!) nichts von ihren erneuten künstlerischen Versuchen.] Psychodynamisch ist es wohl kein Zufall, dass gerade ein junger Professor als erster ihr dazu verhilft, einen künstlerischen Erfolg zu erzielen: Innerlich knüpft sie wahrscheinlich damit an die abgebrochene, zärtlich-ödipale (evtl. auch präödipale) Beziehung zu ihrem Vater, als „Drittem“, in der engen Mutter-Tochter-Beziehung an, einer „eigenen Entwicklungslinie“, die mindestens ansatzweise unabhängig von ihrer Mutter verläuft. Durch diese Wiederentdeckung von sich selbst als autonomer, kreativer, künstlerischer Persönlichkeit und den damit verbundenen realen Erfolgen mit ihren „ureigensten Produkten“ erlebt sie sukzessiv eine narzisstische Stärkung ihres bis dahin sehr fragilen Selbstwertgefühls, für sie eine beglückende Erfahrung.
Diese Erfahrungen sind nur möglich dank des durch die Arbeitslosigkeit entstandenen „psychosozialen Moratoriums“: Beide Interviewer hatten den Eindruck, dass sich Frau Bertrams nach dem Studium zwar auf offene Lehrerstellen bewarb, aber, da sie selbst diesen Beruf eigentlich nicht wollte, dabei halbherzig vorging und „Gottseidank“ auch keinen Erfolg erzielte. Wahrscheinlich hätte sie direkt nach Abschluss des Studiums eine ihr angebotene Stelle (z.B. in Zeiten des Lehrermangels) annehmen müssen, vor allem um ihrem Ehemann zu beweisen, „daß sie auch eine Frau ist, die ihr Geld selbst verdienen kann“. Ihr langsamer, zwar schwieriger, aber schließlich so erfolgreicher Selbstfindungsprozess im künstlerischen Bereich wäre dadurch unterbunden worden.
An dieser Stelle ist allerdings zu bedenken, dass Frau Bertrams sich dieses verspätete, „individuelle“ (d.h. nicht gesellschaftlich vorgesehene) psychosoziale Moratorium nur dank der Existenzsicherung durch ihren Ehemann erlauben konnte.
Eindrücklich ist schließlich, dass ihr Zuwachs an Selbstvertrauen durch das Entwickeln einer kreativen Identität im beruflichen Bereich (der übrigens nur dank realer äußerer Erfolge zustande kommen konnte) ihr aktuell auch eine Infragestellung ihrer Ehesituation und die damit verknüpfte sichere Existenzgrundlage erlaubt: Nun kann sie trotz ihrer frühkindlichen Separations- und Autonomiekonflikte einer evtl. Trennung von ihrem Ehemann ins Auge sehen bzw. eine Veränderung ihrer Ehesituation in Richtung einer für sie, als erwachsene Frau, befriedigenderen Objektbeziehung initiieren (vgl. Therapiewunsch mit ihrem Mann). Pointiert ausgedrückt, ermöglichte die erschwerte Berufssituation Frau Bertrams einen eindrücklichen Selbstheilungsprozess: Sie konnte ihre Pseudoidentität aufbrechen und einen verspäteten Identitätsbildungsprozess, ein Sich-selbst-Suchen nachholen, das sie, mindestens im beruflichen Bereich, zu einer kreativen, flexiblen Identität als Künstlerin führte.
Literatur:
Mahler, Margaret S. (1985): Studien über die ersten drei Lebensjahre. Stuttgart.
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