Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung

Beim rituellen Übergang zum Unterricht ist die personenspezifische Einnahme der Sitzplätze von besonderer Bedeutung. Diesen Handlungsschritt des institutionellen Ablaufschemas zu unterlaufen, wirft, wie folgendes Beispiel aus der Klasse 5x zeigt, entsprechend Konflikte auf. Der Ausschnitt setzt ein zu einem Zeitpunkt, als bereits alle Schüler im Klassenraum sowie der Lehrer (im Tafelbereich) anwesend sind.

Klasse 5x (Sitzordnung 1), 16.3.1999, Übergang Pause – Unterricht, 10h26:37-10h26:59

Fast alle Kinder sitzen. Yussif schlängelt sich durch den schmalen Raum zwischen Overheadprojektor und Davids Stuhl in der Mitte des Klassenzimmers durch, die rechte Hand zunächst am Projektor, die linke dann an Aylas Tisch abstützend. Yussif blickt auf den freien Stuhl, der davor steht und blickt dann hinter in Richtung Garderobe. Geschwind macht er eine ganze Drehung und setzt sich auf Aylas leeren Stuhl links neben Ömer, sagt dabei etwas auf Türkisch. Ayla kommt aus dem Garderobenbereich hervor, geht zielgerade zu Yussif, legt ihre rechte Hand kurz auf seine rechte Schulter und sagt auffordernd: „Hallo Yussif“. Yussif erhebt sich sofort, Ayla nimmt die Hand von der Schulter, macht eine wegwinkende Gestik, während sie einen Schritt zurücktritt. Yussif hat einen Stift vom Tischplatz ergriffen, er wendet sich im Aufstehen nach hinten um, blickt Ayla an, zeigt ihr den Stift. Ihre Gesichter begegnen einander auf wenige cm. Abstand. Ayla sagt „Laß!“ während sie mit der Linken zum Stift greift. Yussif behält den Stift in der Hand und geht grinsend zu seinem Sitzplatz am andern Tisch. „Mann, gib her!“ ruft Ayla. Die Stirn runzelnd folgt sie Yussif zu dessen Sitzplatz, streckt ihre Hand nach dein Still aus. Sie blickt zu Herrn Maier, der vor dem Pult steht, und wieder zu Yussif, der ihr nach einem Moment des Wartens einen länglichen Gegenstand hinhält. Ayla ergreift diesen mit schneller Bewegung und wendet sich ab. Im Weggehen blickt sie auf den Gegenstand, bleibt stehen, nimmt ihn in die andere Hand, wendet sich wieder nach Yussif um, kehrt zu ihm zurück, streckt die Linke nochmals aus und erhält nun den Stift. Jemand im Hintergrund lacht kurz auf. Ayla geht zu ihrem Platz zurück und setzt sich hin.

Interpretation

An der Schwelle zum Unterricht nimmt der Junge Yussif den leeren Sitzplatz des Mädchens Ayla ein, zu einer Zeit, als mit der Positionierung des Lehrers – stehend im Tafelbereich – und mit der kollektiven Einnahme der schulisch charakteristischen Haltung des Sitzens durch die Mitschüler eine Unterrichtsbereitschaft deutlich markiert worden ist. Indem Yussif sich setzt, scheint er dieser, dem institutionellen Ablaufschema entstammenden Regel nachzukommen. Das einzige Kind, das sich nunmehr noch in anderer räumlicher Positionierung bzw. Bewegung im Klassenraum (gehend) befindet, ist das Mädchen Ayla, das gerade von der Garderobe auf dem Weg zu ihrem Sitzplatz ist. Yussif jedoch sitzt auf dem – im Rahmen der Sitzordnung – regelwidrigen Platz, er spielt doppeldeutig genau vor dem Hintergrund der schulischen Verpflichtung auf die Regel der durch Wiederholung und Personengebundenheit charakterisierten Sitzordnung. Gleichzeitig eröffnet Yussif damit einen kurzen spielerischen Kampf mit Ayla, der rituellen Peergoup-Aktivitäten des provokativen territorialen Übergriffs entspricht. Die verbale Interaktionsaufnahme in der türkischen Sprache mit dem Jungen auf dem Nachbarstuhl, der gleichfalls türkischer Herkunft ist, fordert seine Solidarisierung als Zuschauer dieser territorialen zwischengeschlechtlichen Provokation. Ömer unternimmt nichts, den neuen Tischpartner zu vertreiben. Ayla verteidigt selbst ihren territorialen Anspruch mit knappen, gleichwohl friedlichen Gesten und Worten, deren indexikaler Gehalt unmittelbar verstanden wird. Yussif macht sogleich den fremden Platz frei. Doch führt er seine doppeldeutige Handlungsweise fort, indem er nun den Territorialkampf weg vom Sitzplatz, hin zu Aylas Besitzterritorium verlagert, und zwar durch Entwendung, eines persönlichen Gegenstandes. Dabei ist charakteristisch, dass es sich um ein Schreibgerät handelt, also um einen schulbezogenen Gegenstand – mit symbolischem Bezug zur Herstellung einer Unterrichtsbereitschaft – weshalb letztlich die Rückforderung in Anbetracht des Unterrichtsbeginns dringlich wird. Ayla klagt nunmehr ihr (besitz-)territoriales Recht mit erhöhter Vehemenz verbal und handlungspraktisch, gleichwohl erfolglos ein, weshalb sie nun ihrerseits dem amüsierten Yussif zu dessen Territorialbereich, dem Sitzplatz, nachgeht. Der Blick zum Lehrer veranschaulicht die prekäre Situation, die sich einerseits mit Yussifs Entwendung, anderseits mit der Auffälligkeit ihres eigenen Tuns, der fortwährenden Bewegung durch den Raum, d.h. mit dem potenziellen Regelbruch entfaltet. Das Spiel wiederholt sich erneut: Yussif scheint zunächst dem Anliegen Aylas performativ Geltung zu verschaffen, doch täuscht er sie wieder: Er gibt ihr nicht ihren eigenen, sondern einen anderen Gegenstand heraus. Ayla wendet sich erneut Yussif zu und beharrt gestisch auf ihre Rückforderung, bis sie schließlich den Stift zurückerhält und sich zu ihrem Sitzplatz zurückbegibt.

Dieses vielfältige Täuschungsmanöver, das Yussif hier gegenüber Ayla vollzieht, sabotiert wiederholt und in zunehmender Steigerung die Einnahme der Sitz-Haltung durch Ayla, die Übernahme der für alle – auch den Lehrer – erkennbaren Haltung einer Schülerin. Diese Szene lässt sich als ein Spiel mit und um die Einnahme der sozialen Identität des Schülers beschreiben, ein Spiel, mit dem von Yussif die individual-territorialen Grundlagen dieser Identität – hier die Positionierung entsprechend der Sitzordnung und die Bereitstellung schulisch-funktionaler Besitzterritorien – vorübergehend unterlaufen werden. Gleichzeitig kann die Szene als Ritualisierung der Peergroup betrachtet werden, als eine kurze zwischengeschlechtliche körperlich-expressive Interaktion, im Sinne eines von Yussif auf dem Wege der territorialen Grenzüberschreitung, der Provokation initiierten, wenngleich erfolglosen öffentlichen Flirts. Die Übergangsphase von der Pause zum Unterricht ist für solcherlei Verwicklungen prädestiniert. Sie bietet Möglichkeiten der experimentellen, aktionistischen Anbahnung neuer (hier: zwischengeschlechtlicher) Beziehungen, wenngleich sie auch die Gefahr des Scheiterns in sich birgt. Die von Yussif bis zum Unterrichtsbeginn ausgedehnte Liminalität dieser Phase ist nicht zuletzt durch eine ausgeprägte Form ludischer und performativer Elemente gekennzeichnet.

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