Falldarstellung I

Teilbarkeitsregel

Mathematikklasse 5, 19. April, 8:30-8:31 Uhr

Abbildung 1: Tafelbild zur Teilbarkeitsregel

Frau Müller, die während des Kopfrechnens der Kinder sechs Zahlen: „90, 99,108, 117, 135“ nebeneinander und etwa 40 cm darunter zunächst vier Zahlen: „99,102, 105, 108“ dann Auslassungszeichen: „…“ sowie drei weitere Zahlen: „303, 306, 309″ an die Tafel geschrieben hat, beendet das Kopfrechnen der Kinder: „So! Es reicht“ und deutet auf die obere Zahlenreihe an der Tafel. Dann stellt sie die Frage: „Was fällt Euch zu dieser Reihe ein?“ Die meisten Kinder haben sich zur Tafel gedreht und blicken darauf.
Die ersten Zeigefinger gehen nach oben, Frau Müller blickt in die Runde und sagt: „Fast allen fällt was ein? Tayfun“. Tayfun: „Des is die Neunerreihe.“ Frau Müller: „Was heißt des? Warum ist das eine Neunerreihe oder die Neunerreihe?“ Mehrere Kinder melden sich, Frau Müller: „Gerhard“. Dieser antwortet: „Ähm weil da immer neun zu der Zahl dazugerechnet werden“. Frau Müller nickt, „Genau, es werden immer neun mehr.“ Dann wendet sie sich zur Tafel, während sie fragt: „Kennt jemand das Wort“ – sie schreibt „Quersumme“ an die Tafel. Ein Schüler sagt laut: „Quersumme“. Frau Müller dreht sich gleich wieder zur Schülerschaft hin und vervollständigt ihren Satz: „Quersumme?“ Sie blickt in die Klasse, nur einzelne, wie Jonathan, melden sich. Frau Müller ruft lächelnd auf: „Jony“. Jonathan antwortet langsam: „Also die Quersumme ist, wenn man alle Ziffern zusammenrechnet“. Fuat sagt, den Kopf von Jonathan zur Tafel und wieder zu ihm drehend: „Okay“. Frau Müller entgegnet „Schschscht“.

Abbildung 2: Lehrerin: „Was fällt euch zu dieser Reihe ein?“

Interpretation I

Das lehrerzentrierte Lehrgespräch nimmt Bezug auf das klassenöffentliche Medium Tafel und die dort fixierten mathematischen Zeichen, Begrifflichkeiten und Rechenergebnisse. Die Fragen der Lehrerin, die die verschiedenen Gesprächsabschnitte jeweils einleiten, sind ganz im Sinne des Buck’schen Verständnisses der Erfahrung als Anfang und Grund eines Lernprozesses sowohl darauf angelegt, an bereits Bekanntes, Erfahrenes anzuknüpfen und Regelmäßigkeiten zu entdecken bzw. zu explizieren, als auch durch die Aufführung des Neuen (der Begriff der Quersumme) das Denken in Bewegung zu setzen.
Zugleich scheint die Lehrerin durchaus von einem unterschiedlichen Wissen auszugehen und aus dem darin liegenden Potenzial zu schöpfen, wenn sie z. B. bei Einführung des Begriffs ‚Quersumme’ danach fragt, wer diesen kennt und ihn durch einen kundigen Schüler erklären lässt. Sind die Fragen der Lehrerin zu Beginn allerdings noch sehr offen gestellt, werden sie ihrer Struktur nach zunehmend geschlossen, bis sie ganz und gar rhetorisch werden. („Ihr habt gesagt des is ne Neunerreihe. Sind die alle durch neun teilbar?“)
Die Kinder kooperieren bei dieser Einführung in die Teilbarkeitsregel zur 9. Die offene Frage zu Beginn gewinnt große Resonanz: „Fast allen fällt was ein“ und fast alle sind bereit, ihren (immer auch erfahrungsbasierten) Einfall kundzutun. Die Identifikation der Zahlenreihe als Neunerreihe zeigt, dass auf Regelmäßigkeiten geachtet wird. Die Bedeutung des Begriffs, die dann erläutert wird, entspricht allerdings nicht der mathematischen Definition einer Neunerreihe, sind doch noch andere Zahlenreihen denkbar, bei denen „immer neun zu der Zahl dazugerechnet werden“. Hier wird ein besonderes Problem des Mathematikunterrichts erkennbar, das sich mit einem solchen Lehrer-Schüler-Gespräch konturiert stellt: die Übersetzung von mathematischen Sachverhalten, Operationen, Begriffen und Regeln in mündliche Sprache. Die mathematischen Erfahrungen und Kenntnisse sind nur mühsam in Sprache zu fassen, das machen die vergleichsweise brüchigen mündlichen Antworten der Kinder in diesem Videoabschnitt insgesamt deutlich. Wie Krummheuer (2003) überzeugend darlegt, folgen Kinder im Primarschulbereich bei mathematischen Argumentationen dem Prinzip der Narration, d. h. sie erzählen die Geschichte, wie sie zu bestimmten Lösungen und Ergebnissen oder Erkenntnissen gekommen sind. Solchermaßen lässt sich tendenziell auch die Erläuterung verstehen, die einer sequentiellen Abfolge gemäß aufzeigt, wie die Neunerreihe hergestellt wird. Eine auf der Ebene des axiomatischen Systems operierende mathematisch-analytische Argumentation ist im primarschulischen Mathematikunterricht weniger anzutreffen.
Es ist auf der Grundlage des empirischen Materials nicht rekonstruierbar, inwiefern die Lehrerin eine Differenz zwischen sprachlicher Explikation und dem, was jeweils zu artikulieren versucht wird, in Rechnung stellt, wenn sie sich mit der gegebenen Erläuterung für „die Neunerreihe“ zufrieden zeigt, ja sie sogar inhaltlich wiederholt. Diese Differenz, die bei Gerhard eher angedeutet bleibt, zeigt auch Jonathans Formulierungsversuch zum mathematischen Sachverhalt „Quersumme“. So erläutert er z. B. zunächst korrekt, wie man zu einer solchen kommt, also die hinter dem Begriff stehende Operation bzw. die generative Formel oder Geschichte der Quersumme. Jedoch die generalisierende Form seines narrativ angelegten Satzes fügt sich nicht ganz den Regeln der Grammatik.

[1] Krummheuer erklärt dies u. a. entwicklungstheoretisch mit Verweis auf Piagets Untersuchungen zum kausalen Denken bei Kindern.

Falldarstellung II

Teilbarkeitsregel

Mathematikklasse 5, 19. April 8:31-8:33 Uhr

Abbildung 3: Tafelbild zur Teilbarkeitsregel

Frau Müller sagt zu Jonathan: „Kannste=en Beispiel sagen?“, Jonathan antwortet: „Zum Beispiel neun plus null ist neun. Und bei der neun ist es auch meistens die neun“, Frau Müller, die inzwischen „9“ über der ersten Zahl, in der Mitte der beiden Ziffern der 90 geschrieben hat, lächelt Jonathan an und sagt: „Weiter“, währenddem Jonathan sagt: „die Quersumme.“ Frau Müller wartet einen Moment, dann sagt sie: „Macht mal mit der Quersumme weiter, Jony nimm mal den nächsten dran“. Einige Kinder melden sich, Jonathan sieht sich um und ruft auf. „Noah“. Noah sagt: „Neun plus neun ist achtzehn“, Frau Müller schreibt „18“ über die zweite Zahl (99) und sagt: „Nächste“. Noah ruft: „Samuel“, dieser antwortet: „Eins plus null plus acht sind neun“. Frau Müller schreibt „9“ über die Zahl 108 und wendet sich zur Klasse. Samuel ruft: „Petra“, diese antwortet: „Eins plus eins plus sieben ist auch neun“. Frau Müller schreibt „9“ über die Zahl 117, setzt die Kreide wieder von der Tafel ab, Petra ruft: „Gerhard“, dieser antwortet: „Eins plus zwei plus sechs sind auch neun“. Frau Müller schreibt „9“ über die Zahl 126. Samuel, der erst den rechten Zeigefinger, dann auch den linken erhoben hat, schnippst und kreist die Finger umeinander; er wird von Gerhard aufgerufen: „Sami“. Er sagt: „Eins Plus drei plus fünf sind auch neun“. Frau Müller schreibt „9“ über die letzte Zahl und sagt, während sie sich zur Tafel dreht: „Meine Güte gibt es auch noch was anderes? Nehmen wer mal ne ganz große Zahl, ähh Fünfhundertneunundvierzig“. Sie schreibt die Zahl während des Sprechens an die Tafel, wendet sich wieder zur Klasse, in die sie blickt. Helena, die aus ihrer Flasche getrunken hatte, während Frau Müller mit dem Rücken zur Klasse stand, packt diese schnell weg. Mehrere Kinder strecken ihre Zeigefinger in die Höhe. Frau Müller ruft: „Petra“. Petra antwortet: „Des ergibt achtzehn“. Frau Müller schreibt „18“ über die Zahl 549 und sagt dabei: „Endlich mal was anderes“. Dann zeichnet sie mehrere Punkte „…“ neben die Zahl und fragt: „Fällt Euch was auf?“, während sie sich wieder zur Klasse dreht und lächelnd zur rechten Tafelseite schreitet. Einzelne melden sich. Frau Müller ruft: „Nadine“. Nadine, die den Zeigfinger in die Höhe gehalten hat, lässt den Arm sinken und sagt: „Wenn man die Quersumme berechnet, dann ist die Zahl von der Neunerreihe“. Frau Müller nickt, wendet sich sogleich zur Tafel hin und deutet von links nach rechts nacheinander auf jede einzelne Zahl der oberen Zahlenreihe, während sie fragt, „Ähh was ist mit diesen Zahlen, ihr habt gesagt des is ne Neunerreihe. Sind die alle durch neun teilbar?“ Einige Kinder murmeln etwas (unverständlich), andere sagen in mittlerer Lautstärke mit- und nacheinander: „Ja“, ein Kind haucht laut und gedehnt: „Jahhhhh“. Frau Müller deutet mit der linken Hand auf die vorletzte Zahl der Zahlenreihe, runzelt die Stirn, führt die andere Hand zu ihrem Ohr und sagt: „Hab ich was anderes gehört?“ Weitere Kinder sagen: „Ja!“ Frau Müller dreht sich wieder zur Tafel, deutet von links nach rechts auf die Quersummenzahlen über den jeweiligen Zahlen und sagt: „Und die Quersummen dieser Zahlen? Jony?“ Jonathan, der sich bereits gemeldet hatte, antwortet langsam: „Die sind auch durch neun teilbar.“ Während Frau Müller sagt: „Gut! Guckt euch mal die Reihe“ – sie deutet auf die untere Zahlenreihe an der Tafel -, setzt Jonathan seine Rede fort: „an wenn man“ Frau Müller unterbricht ihre Rede und fragt nach: „Hm?“, während Jonathan sagt: „die Quersummen auch immer wieder von der Quersumme auch wenn eine größere Quersumme dann ist äh immer wieder äh wenn die Quersumme größer ist, wenn man die Ergebnisse wieder addiert, kommt am Ende neun raus.“ Frau Müller antwortet: „Ich hab’s nicht ausprobiert aber es ist anscheinend gar nicht so einfach ne Quersumme zu finden die ((lachend gesprochen:)) größer als achtzehn ist. Wahrscheinlich müsste man so ne große Zahl“, Frau Müller, halb zur Klasse, halb zur Tafel gewandt stehend, hält kurz ihre Hände in Brusthöhe auf etwa einen Meter Abstand, „nehmen. Ob wer des dann hinkriegen müssen nachher“, Frau Müller winkt ab, „einmal probiern. So“, sie dreht sich zur Tafel, klopft auf die erste Zahl der unteren Zahlenreihe an der Tafel, „diese Reihe.“ Frau Müller dreht sich wieder zur Klasse, einige Kinderhände gehen nacheinander nach oben.

Interpretation II

Noch deutlicher wird die schon genannte Differenz zwischen dem Verstehen mathematischer Sachverhalte und ihrer sprachlichen Explikation an Jonathans Versuch der Erläuterung einer nicht von der Lehrerin erfragten Regel zu den Quersummen der Neunerreihe. Zunächst formuliert er seine Beobachtung zum Ergebnis (neun) errechneter Quersummen bei der Neunerreihe. Niemand der Anwesenden, einschließlich der Lehrerin, lässt dabei eine Reaktion erkennen. Etwas später reformuliert er dann seine vorige Aussage: „wenn man die Quersummen auch immer wieder von der Quersumme auch wenn eine größere Quersumme dann ist äh immer wieder äh wenn die Quersumme größer ist, wenn man die Ergebnisse wieder addiert, kommt am Ende neun raus“. Das, was Jonathan offensichtlich zu formulieren sucht, ist (1) dass aus Quersummen mit mehreren Ziffern wieder selbst neue Quersummen gebildet werden können (also die Quersumme der Quersumme), so lange, bis sie nur noch aus einer Ziffer bestehen, und (2) dass dann bei der Neunerreihe das Ergebnis immer aus einer 9 besteht. Die in starker Suchbewegung befindliche Formulierung zeigt, dass Jonathan die Worte fehlen für einen von ihm erkannten mathematischen Sachverhalt. Zugleich geht die Argumentation über das Narrative hinaus und enthält deduktiv-analytische Elemente [2]. Auch bei seinem zweiten Formulierungsversuch scheint Jonathan nicht verstanden worden zu sein, auch nicht von der Lehrerin, die ganz mit ihrer aktualen Lehr-Erfahrung beschäftigt scheint, dass – offenbar unbeabsichtigt – der von ihr an die Tafel geschriebene Ausschnitt der Neunerreihe fast vollständig Quersummen hervorbringt, die die Zahl 9 nicht übersteigen, ganz so, wie Jonathan dies in seiner ersten unbeachteten Aussage bereits vorausgesagt hat. Denn ihr anschließender, für die spätere Unterrichtszeit vorgesehener Handlungsvorschlag bezieht sich nicht auf Jonathans Äußerung, sondern auf ihre aktuale Schwierigkeit zu demonstrieren, dass nicht nur die Zahlenreihe selbst, sondern auch deren Quersummen der Neunerreihe entspringen. Nicht nur die Kinder hängen also jeweils spezifischen (mathematischen) Erfahrungen und Gedankengängen an, sondern auch die Lehrerin selbst, in deren Lehrplanung die mathematische Operation „Quersumme der Quersumme“ offenbar keine Rolle spielte, weshalb diese nun, da sie als Thema von Jonathan aufgeworfen wird, keine weitere Beachtung findet. Wenn auch dieser Unterrichtsabschnitt auf den ersten Blick mit spannungsaufbauenden Elementen des Entdeckenlassens und Rätselerschließens arbeitet, so wird die Entdeckung dort, wo sie in etwas offenere Gewässer führen würde, gleichsam abgebremst. Die bereitgestellte Lernkultur lässt zwar andere als geplante Entdeckungen sichtbar werden, sie gibt jedoch nicht den Raum dafür, diesen nachzugehen und das sich hier ankündigende axiomatische mathematische Denken zu entfalten. Denn sonst wäre der von Jonathan postulierten Regel nachgegangen und der Zusammenhang mit der aktualen Entdeckung der Lehrerin zur Wiederkehr der 9 als Quersumme herausgearbeitet worden. Solche spontanen, außerplanmäßigen Entdeckungsfahrten scheinen jedoch das für die Unterrichtsstunde vorgesehene Lernziel (auf den ersten Blick) zu gefährden, weshalb sie, wie in diesem Fall, häufig entweder gar nicht vorgenommen oder vertagt werden. Hier wird deutlich, wie die Didaktik auf Grund ihrer Eigenlogik, dem Systematisieren und Vorstrukturieren von Lernprozessen, schnell auf Grenzen stößt: Denn, wie bereits dargelegt, das Neue, das der Lernende als solches erfährt, lässt sich nicht eigentlich planen und vorstrukturieren. Auch aus diesem Grund plädiert von Hentig für eine Lehre des Lernens, die Mathematik, eine Pädagogik, die durch spezifische Lernarrangements Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten bereitstellt, um „der self-direction, dem Lernbedürfnis der Kinder selbst den Weg zu überlassen“ (von Heutig 1985, 80) . Er verweist neben der Montessori-Pädagogik auch auf diejenige Deweys, bei der die Auswahl der Erfahrungsmöglichkeiten so getroffen ist, „daß das Kind durch sie statt durch den Lehrer belehrt wird“ (ebd.).

Im vorliegenden Beispiel peilt die Lehrerin im weiteren (hier aus Platzgründen nicht abgedruckten) Unterrichtsverlauf allerdings wieder didaktisch die Abstraktion von konkreten mathematischen Operationen an. So fordert sie die Kinder nach Berechnung der Quersummen der zweiten Zahlenreihe (Vielfache von Drei: 99, 102, 105, 108 etc.) dazu auf, eine Regel zu den bisherigen Operationen zu formulieren, also eine Generalisierung des vorgestellten Falls vorzunehmen – zunächst mit Bezug auf das Vielfache von (3) Auch bei dieser inhaltlich anspruchsvollen Unterrichtssequenz des induktiven Schließens wird zweierlei deutlich: Erstens wie die Kinder, die der Aufforderung nach Regelformulierung nachzukommen versuchen, erneut mit einem Problem der Versprachlichung mathematischer Operationen bzw. Regeln zu kämpfen haben. So erläutert z. B. Petra zunächst: „Durch jede Zahl kann man die Drei teilen“ und später: „Von die da sind die da an der Tafel stehen“. Sie nimmt dabei Gesten zu Hilfe, sich auszudrücken: So deutet sie in Richtung Tafel und zeichnet eine imaginäre horizontale Linie nach. Als Frau Müller sie auffordert: „Noch mal“, deutet sie wieder in einer abwärts laufenden Linie in Richtung Tafel: „Also alle Zahlen die da an der Tafel stehen davon die Quersumme die kann man durch drei teilen“. Zweitens zeigt sich auch dort, dass die anfänglich offene Frage der Lehrerin: „Versucht jemand eine Regel zu formulieren“ zunehmend geschlossen bzw. rhetorisch wird: „Was ist mit allen Vielfachen von der Drei und der Quersumme. Formuliert=s mal als Satz.“ Insgesamt werden an diesem Videoabschnitt auf mehreren Ebenen Differenzen erkennbar:

  • zunächst die Rollendifferenz, die das belehrende Unterrichtsgespräch strukturiert,
  • die Differenz zwischen dem, was von der Lehrerin im Unterrichtsprozess spontan akzentuiert wird und dem, was unerwartet einzelnen Schülerinnen und Schülern spontan auf- und einfällt, das heißt, die Differenz zwischen den (auch rollenbezogenen) Erfahrungen und den darauf aufbauenden Bezugnahmen in einer spezifischen Lernsituation,
  • die Differenz zwischen den Schülerinnen und Schülern selbst, die unterschiedliches Wissen und Vorerfahrungen mitbringen und auf dieser Grundlage unterschiedliche Entdeckungen machen bzw. Unterschiedliches als Neues präsentieren,
  • und schließlich: die Differenz zwischen dem Verstehen mathematischer Sachverhalte und ihrer sprachlichen Artikulation, die ganz offenbar ein spezifisch zu bewältigendes Problem in diesem Fach darstellt: einerseits für die Lehrerin, die in erhöhtem Maße aufgerufen ist, die mathematischen Gedankengänge ihrer Schüler/-innen zu antizipieren bzw. aus den Äußerungsmodi selbst zu erschließen, und andererseits für die Schüler/-innen, die die Erfahrung machen, dass ihre Sprache ihren mathematischen Einsichten nicht Stand hält und zugleich einen Weg finden müssen, ihren Erkenntnissen sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Die Wiederholung und die Reformulierung einer Äußerung, wie auch die Zuhilfenahme des Körpers durch Handgesten etc. sind solche Formen der Bewältigung dieses Übersetzungsproblems, auf Seiten der Lehrerin auch die Rückfragen und Reformulierungsangebote.

Wie sich bisher gezeigt hat, ist das Neue, das hier von der Lehrerin, aber auch von Schülerinnen und Schülern (z. B. von Jonathan) präsentiert wird, nicht deckungsgleich mit dem, was an Neuem von den Kindern wie der Lehrerin (selbst) entdeckt bzw. verstanden wird. Darüber hinaus bewegt es sich auf unterschiedlichen Ebenen: der definitorischen Ebene im Sinne des „Was ist“, der operativ-narrativen Ebene im Sinne des „Wie wird das praktisch hergestellt?“ sowie der reflexiven Ebene im Sinne der Induktion, des Findens einer übergeordneten Regel für die vollzogenen Operationen. Die oben genannten Differenzen sind es, die die Kommunikation über das Neue im Unterricht so komplex gestalten, zumal in einer solch großen Gruppe. Die Komplexität wird in dem gewählten Interaktionsrahmen unter der Regie der Lehrerin dann im Wesentlichen durch zwei Formen reduziert: zum einen, indem bestimmte Entdeckungspfade nicht in den Aufmerksamkeitsbereich gelangen bzw. aus ihm wieder eliminiert werden, zum andern, indem die zunächst offen inszenierten Entdeckungspfade durch die starke, zunehmend geschlossene (rhetorische) Frage­-Antwort-Struktur in ein vorgefertigtes Gleis geführt werden.

Fussnoten

[2] Es wäre an empirischen Vergleichsfällen noch zu überprüfen, inwiefern die gesteigerte Suche nach dem richtigen sprachlichen Ausdruck mit dem Übergang von einer narrativen hin zu einer deduktiv-analytischen Argumentation in Zusammenhang steht, also der Wechsel der Ebenen mathematischen Erkennens, von einer eher „empirischen“ Theorie hin zu einer eher „mathematischen“ Theorie (vgl. zu den Begriffen Krummheuer 2003)

Literaturangaben:

Hentig, Hartmut von (1985): Versuch über Kunst und Leben. Subjektivität – Weltverstehen – Kunst. München und Wien

Krummheuer, Götz (2003): Wie wird Mathematiklernen im Unterricht der Grundschule zu ermöglichen versucht? Strukturen des Argumentierens in alltäglichen Situationen des Mathematiklernens der Grundschule. In: Journal für Mathematikdidaktik 24 (2003) 2, S. 122-138.

Wagner-Willi, Monika (2005): Kinder-Rituale zwischen Vorder- und Hinterbühne. Der Übergang von Pause zu Unterricht. Wiesbaden

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