Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

 

Falldarstellung

Klasse 5x, 24.03.1999, Übergang Pause-Unterricht (12h15-12h16)

Carlos zieht Andy, den er an der Kleidung gepackt hat, vom Flur in den Klassenraum bis in den Bereich zwischen Tafel und Ninas Tisch, schleudert ihn dort zu Boden, kniet auf ihm und schaut hoch. Die danebensitzende Nina wendet ihren Kopf zu ihm. Carlos schaut sie an, steht auf, hält Andy dabei mit beiden Händen am Kragen fest und zieht ihn so mit hoch.
Zeitgleich steht Nina auf und geht auf die andere Seite des Tisches. Carlos dreht sich beim Aufstehen um die Achse, hält Andy fest und schaut Nina an, die ihm nun hinter dem Tisch gegenüber steht. Carlos drückt Andys Kopf und Oberkörper auf Ninas Tisch. Nina schaut zu.

Klasse 4y, 18.03.1999, Übergang Pause -Unterricht (10h26)

Sabine betritt den Raum unmittelbar hinter Sören. Sören geht, mit seinen Händen tanzähnlich kreisende Bewegungen vollziehend, zu seinem Tisch neben der Tür. Sabine drückt seinen Oberkörper und Kopf von hinten mit ihrer rechten Hand auf den Tisch hinunter. Sie lächelt dabei. Er legt seinen rechten Arm auf den Tisch, winkelt ihn an und stützt seine rechte Wange mit der Hand, so daß seine Abwärtsbewegung kurz vor der Tischplatte endet und sein Kopf diese nicht berührt. Während der Abwärtsbewegung ruft Sören: „Oh, oh, oh, oh!“

Sabine geht weiter, streckt sich, strahlt, reckt triumphierend ihren Kopf hoch und wirft ihre Haare nach hinten. Sie faßt mit jeder Hand eine Vorderseite ihres Anoraks an, dessen Reißverschluß bereits offen ist, geht bis zu ihrem Tisch, dreht sich dort Sören zu (der sich, ihr hinterher schauend, wieder aufgerichtet hat), öffnet ihren Anorak weit und zieht ihn aus. Sören senkt seinen Blick, schaut auf seinen Tisch, ergreift dort etwas (einen Block?) und legt es wieder hin. Sabine schaut, während sie ihren Anorak auszieht, weiter zu Sören. In der Zwischenzeit gelangt Cennet, die während Sabines Ausziehbewegung einen kurzen Blick auf diese wirft, in den tischfreien Raum nahe Sabine. Ihr folgen Andre und Canel. Andre stolpert, als er zwischen Cennet und Sabine durchgeht, wendet sich Cennet zu und spricht zu ihr. Sabine dreht sich etwas in Richtung Cennet. Der Andre folgende Canel drängt sich zwischen Andre und Sabine durch und dreht dabei Sahinc weiter zu Cennet um.

Sören springt auf seinen Stuhl, richtet sich sofort ganz auf, singt laut „Eh, oh, …(unverständlich)…“ und vollführt mit seinen Händen dabei (wie eingangs) tanzähnliche kreisende Bewegungen. Sabine dreht sich wieder in seine Richtung, geht in seine Richtung (bzw. in Richtung der hinter ihm befindlichen Garderobe; sie hält ihren Anorak in der Hand) und schaut zu ihm hoch. Als sie bei ihm ist, springt Sören auf seinen Tisch, weiter über Eces und Sabines Tisch auf Eces Stuhl, dann auf Sabines Stuhl und schließlich wieder auf den Boden. Sabine schaut ihm bei der gesamten Bewegung zu und ruft langgezogen „Maaann!“ Dann wendet sie sich zur Wand, hängt ihren Anorak an einem Kleiderhaken auf, dreht sich wieder um und geht hinter der Lehrerin (die soeben den Raum betreten hat), in Richtung ihres Sitzplatzes. Umgekehrt geht Sören in Richtung seines Sitzplatzes, hält sich im Vorbeigehen an Sabines unbesetztem Stuhl fest und hüpft dort einmal auf seinem linken Bein, während die Lehrerin um ihn herumgeht. Im Weitergehen schubst Sören die hinter der Lehrerin entgegenkommende Sabine, wobei er selbst ins Wanken gerät. Sabine dreht sich einmal um ihre Achse, stoppt dann lächelnd an ihrem Stuhl, setzt sich hin, schaut Sören hinterher und wirft mit der linken Hand ihre Haare zurück. Sören geht zu seinem Tisch, rangelt unterwegs mit Andrè, steigt schließlich auf seinen Stuhl und setzt sich – in Richtung Sabine schauend – neben seinem bereits auf dem Tisch sitzenden Platznachbarn Paul auf den Tisch.

Interpretation

Was wir hier sehen, sind ritualisierte Spiele um Macht und Geschlecht (Oben/Unten, In-Besitz-Nahme des Territoriums Anderer). Sie generieren und bearbeiten jene Differenzen, die der Schwellenphase soziale Struktur verleihen (Turner). In den täglichen Übergängen von der Pause zum Unterricht sind sie, wenn auch nicht stets in so deutlicher Ausprägung, immer wieder zu entdecken.

Der Tisch wird als Bühne genutzt. Auch wenn es sich bei dieser Nutzung des Tisches nicht um ein bewusstes In-Szene-Setzen – womöglich durch einen Regisseur – handelt und insofern nicht im strengen Sinne von Inszenierung gesprochen werden kann (Fischer-Lichte 1998), so sind die beschriebenen Aktivitäten doch zumindest als Aufführungen zu bezeichnen, die sich der Szenerie, der Requisiten und der Zuschauer ausdrücklich versichern. Der Tisch wird dabei in einer Weise verwendet, die der schulorganisatorisch vorgesehenen Nutzung zuwiderläuft. Insofern sind die Aufführungen schuloppositional. Über die implizite Setzung, dass sie im klasseninternen Raum stattfinden und Akteure sowie Zuschauer ausschließlich Klassenmitglieder sind, tragen diese schuloppositionalen Aufführungen paradoxerweise zur Verlebendigung der zunächst formal begründeten Schulklasse, damit zur Schaffung einer klasseneigenen Welt und letztlich zur Bildung einer Klassengemeinschaft bei.

Schauen wir uns die im ersten Beispiel gezeigten Interaktionen und die Rolle, die der Tisch dabei spielt, näher an. Zu Beginn der ersten Szene wird die möglicherweise bereits im Schulhof oder Treppenhaus, spätestens jedoch im Flur, also außerhalb der Klassengrenzen begonnene Auseinandersetzung zwischen Carlos und Andy in den Klassenraum verlagert. Was zuvor ein Ringkampf zwischen zwei Klassenkameraden in einem klassenübergreifenden Kontext war, wird nun zu einer klasseninternen Aufführung. Der Blickwechsel von Carlos und Nina bringt hier die entscheidende Zäsur. Aus dem Ringkampf wird eine Aufführung vor zumindest einer Zuschauerin. (Im hier nicht ausgeführten Fortgang des Geschehens treten weitere Zuschauer, teils kommentierend, in Erscheinung.). Nun gewinnt auch der Tisch an Bedeutung, der Tisch der Zuschauerin. Zum einen in der oben bereits aufgezeigten distanzstiftenden Funktion: Nina geht auf die andere Seite des Tisches, bringt diesen zwischen sich und die Kämpfer, schaut von dort aus zu und definiert sich damit als Zuschauerin. Zum anderen in der Funktion als Bühne oder, in diesem Fall, Opferstätte: Wenn Carlos Andys Kopf und Oberkörper auf Ninas Tisch drückt, präsentiert er sich damit als machtvoll und eröffnet zugleich Nina die Möglichkeit, Andy als Opfer auf ihrem Tisch zu sehen.

Während der Aspekt des Opferns am Tisch eines dritten Klassenmitglieds eher selten zu beobachten ist, sind die in diesem Beispiel zu erkennenden Rituale der Macht in beiden Klassen häufig wiederzufinden. Die zweite der oben wiedergegebenen Situationen ist ein Beispiel dafür, dass sie nicht nur zwischen gleichgeschlechtlichen stattfinden können, sondern auch zwischen gegengeschlechtlichen stattfinden können. Es handelt sich dann sicherlich nicht mehr nur um Macht-, sondern auch um Liebesrituale. Die Interaktionen erhalten hierbei einen leichteren, spielerischen Charakter.

Wie Carlos Andys, so drückt Sabine Sörens Kopf und Oberkörper auf den Tisch. Aber Sabine lächelt dabei, und Sörens dreifaches Stöhnen wirkt klanglich und angesichts seiner bequemen Arm-Kopfstütze eher lustvoll als ohnmächtig. Auch der Tanz auf dem Stuhl, der Sabines abgelenkte Aufmerksamkeit wieder von neuem auf Sören zieht, hat dieses spielerische Moment. Ernster wird es erst, als sich Sören bei Sabines Annäherung über Tisch und Stuhl Sabines von dannen macht. Denn damit verletzt er deren Besitzterritorium (Goffman 1974). Nicht nur das protestierende, Sören als Peer (Peersprache) und in seinem Geschlecht anrufende „Mann!“, sondern auch die anschließende (im Vergleich zur Kopfbeugung auf dem Tisch aggressive) Rangelei zwischen beiden ist die Folge. Ist Sabines Zurückwerfen ihrer Haare als Ausdruck des Triumphs zu deuten, so kann Sörens Sich-auf-seinen-Tisch-Setzen (das die Pose seines Nachbarns Paul, der bereits auf dem Tisch sitzt, mimetisch aufgreift) als Versuch verstanden werden, die Szene „cool“ abzuschließen. Bei all dem schauen Klassenkameraden zu, sei es direkt oder aus den Augenwinkeln. Es ist ein zwar nicht in allen Einzelheiten, aber doch insgesamt ritualisiertes klasseninternes Geschehen, dessen Regeln und Bedeutung von den Anwesenden akzeptiert werden und das so deren Gemeinschaft stärkt.

Literaturangaben:

Fischer-Lichte, E.: Inszenierung und Theatralität. In: Willems, H./Jurga, M.: Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Opladen 1998, S. 81-92

Goffman, E.: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt/M. 1974.

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