Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
- Persönliche Requisiten: die Kleidung I
- Persönliche Requisiten: die Kleidung II
- Persönliche Requisiten: die Kleidung III
Falldarstellung
Ein besonders interessantes kleidungsbezogenes Ritual ist der Umgang der Kinder mit ihren Kopfbedeckungen (Kappen bzw. Wollmützen). Die Zahl der Kappen- bzw. Mützenträger in den untersuchten Klassen ist klein. Wer allerdings eine solche Kopfbedeckung trägt, geht mit ihr in so auffälliger und vielfach weihevoller Weise um, dass von einem Ritual im engeren Sinne gesprochen werden kann. Auf performative Weise, nicht zuletzt in dem wechselseitigen mimetischen Aufgreifen der mützenbezogenen Umgangsweisen verschiedener Kinder trägt dieses Ritual nicht nur zur individuellen Identität, sondern auch zur kollektiven Identität bei. Zum einen ist die Kopfbedeckung persönlicher Besitz und wird als solcher geschützt. Zum anderen haben ihre Träger etwas gemeinsam und können über sie und mit ihrer Hilfe leichter zueinander finden und interagieren. Die Kopfbedeckung ist hierbei stilistisches Ausdrucksmittel einer bestimmten Peer-Kultur.
Klasse 5x, 16.03.1999, Übergang Pause -Unterricht (10h25)
Ayla, mit Jacke und Schildkappe bekleidet, geht von der Tür aus an der Wand entlang und verläßt das Kamerablickfeld in Richtung Garderobe. Kurz darauf taucht sie (mit Jacke und Schildkappe) wieder im Blickfeld der Kamera auf, legt an ihrem Platz ihre Schildkappe auf den Tisch, dreht sich um und geht wieder in Richtung Garderobe.
Klasse 4y, 25.03.1999, Übergang Pause-Unterricht (10h26-10h31)
Dicht hintereinander betreten Martin im geschlossenen Anorak, Andre, Binol mit einer roten Schildkappe auf dem Kopf den Raum. (Fünf Minuten später, die anderen haben längst ihre Anoraks und Jacken abgelegt, die Lehrerin war bereits einmal im Raum, hat ihn aber wieder verlassen, um etwas zu holen:) Binol nimmt, an seinem Tisch stehend, seine Kappe ab, fährt sich durchs Haar, antwortet der ihn ansprechenden Birgiel und hält dabei die Kappe in der Hand. Als Birgiel zu ihrem Platz zurückgeht, setzt er die Kappe noch einmal auf. Als Frau Kasek wieder den Raum betritt, setzt Binol die Kappe ein zweites Mal ab und legt sie auf seinen Tisch.
Interpretation
Unmittelbar sichtbar wird hier, dass Kappen (im Unterschied zu Anoraks etc., die an der Garderobe aufgehängt bzw. abgelegt werden) am Platz, genauer: auf der dem Kappenbesitzer institutionell zugeordneten Tischfläche, abgelegt werden. Das spricht für eine hohe Wertschätzung der Kappe als persönlicher Besitz, möglicherweise auch als Zeichen, sei es als Zeichen der Zugehörigkeit zur besonderen Gruppe der schon jugendlichen Klassenkameraden, sei es als Zeichen für die während des Unterrichts jederzeit greifbare Option, sich zumindest in Bezug auf den Kopf ausgehbereit zu bekleiden.
Unmittelbar sichtbar wird auch, dass die Kappen erst spät, nämlich erst kurz vor der offiziellen Unterrichtseröffnung durch den Lehrer bzw. die Lehrerin, auf den Tischen abgelegt werden. Das spricht dafür, dass das Kappentragen tendenziell unterrichtsverzögernd und damit schuloppositional praktiziert wird. Wo mehrere in der Klasse Kappen tragen, stiftet dieses Ritual des sehr späten und jeweils am eigenen Tisch erfolgenden Ablegens der Kappen eine tendenziell unterrichtsoppositionale Binnengruppe innerhalb der Klassen- bzw. Unterrichtsgemeinschaft, deren Zusammenhalt allerdings (wie am letztlich doch erfolgenden Ablegen der Kappen zu erkennen ist) nicht gesprengt, sondern nur labilisiert wird.
Im zweiten Beispiel wird darüber hinaus, und zwar noch deutlicher als beim oben erörterten Anbehalten des Anoraks, die pausenverlängernde Funktion des Kappentragens im Klassenraum sichtbar. Binol bleibt nach Betreten des Raums die ganze Zeit bis zur Unterrichtseröffnung im Klassenraum, legt seine Kappe aber erst fünf Minuten später, mit dem Wiedereintritt der Lehrerin, ab.
Schließlich sei noch angemerkt, dass die hier wiedergegebenen Beschreibungen zwar keine detaillierten Angaben über die Art und Weise enthalten, in der die Kappen jeweils auf den Tischen abgelegt werden. Aber im Begriff des „Ablegens auf“ wird doch zumindest deutlich, dass es sich einerseits nicht um hektisches und entweihendes Werfen oder Ziehen, sondern um ein ruhiges, würdevolles (Ab-)Legen handelt, und dass der Ablageort nicht die schuloffiziell vorgesehene Garderobe, aber auch nicht etwa der Boden oder der unsichtbare Raum im Schulranzen oder unter dem Tisch ist, sondern eben jene unterrichtliche Tabu-Fläche, die während des Unterrichts offiziell ausschließlich Unterrichtsutensilien vorbehalten ist.
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