Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung

In der von uns untersuchten Grundschule ist es Praxis, vor Beginn der Hofpause im Klassenraum am Sitzplatz das Frühstück einzunehmen. Wenn die Kinder von der Hofpause wieder zum Klassenterritorium zurückkehren, dann führen viele von ihnen, wie erwähnt, unterschiedliche Dinge mit sich, darunter, das konnten wir beobachten, häufig Naschzeug. Dieses kann mitunter Aufhänger sein für Interaktionsprozesse, an denen – wie im Folgenden – eine Reihe von Schülern beteiligt sind.

Die Beschreibung setzt ein, als etwa die Hälfte der Schüler nach Pausenende im Raum sind. Der Lehrer ist noch nicht anwesend. Nach und nach kommen weitere Kinder hinzu, einzelne verlassen zwischendurch den Raum wieder. Die meisten bewegen sich zwischen den Tischen, auf dem Gang und im Türbereich. Nur wenige haben bereits ihre Sitzplätze eingenommen.

Klasse 5x, 19.3.1999 (Sitzordnung 2) Übergang Pause – Unterricht 10h26:15-10h27:41

Jeanette kommt mit einer Plastiktüte mit weißem Inhalt in der Hand aus dem Garderobenbereich gelaufen, hüpft den Mittelgang entlang in Richtung Tür und bleibt vor Nina stehen, die ihr entgegenkommt. Nina greift zur Tüte von Jeanette. Jeanette zieht schnell die linke Hand mit der Tüte über den Bauch nach rechts, hält die rechte Hand darauf und weicht zurück. Nina geht auf sie los, greift ihr mit beiden Händen im Würgegriff um den Hals. Jeanette weicht weiter zurück und wehrt erfolglos mit der rechten Hand ab. Nina hält sie im Würgegriff, folgt ihr bis zu ihrem nahegelegenen Sitzplatz. Jeanette streckt sich, stützt sich von hinten mit der rechten Hand an ihrem Tisch ab, Nina ruft abschließend „Ähhh äh!“ und läßt von Jeanette ab. Jeanette setzt sich auf ihren Sitzplatz, Nina wendet sich ab. Jeanette blickt ihr kurz nach, hält noch eine Weile die Tüte in der Hand, dann legt sie sie auf ihren Tisch, nimmt sich etwas aus der Tüte und führt es zum Mund.

Tacim kommt in den Raum. Breitbeinig schlendert er zum Mittelgang, geht am Tisch von Jeanette vorbei. Unmittelbar hinter Jeanette dreht er sich um, fuchtelt mit der rechten Hand von der Seite an ihrem Gesicht herum und greift schnell über ihre Schultern hinweg in die Tüte mit dem weißen Inhalt. Jeanette hält Tacims Hand fest, er weicht zurück, zieht die Hand zurück, schüttelt Jeanettes Hand ab. Jeanette setzt nach und stößt ihn heftig zurück, runzelt die Stirn, blickt ihn an und ruft laut: „Das ist meins!“ Tacim bleibt einen Meter entfernt im Gang breitbeinig stehen, neigt den Kopf nach hinten und führt die Hand zum Mund. Dann geht er in Richtung Tafel.

Währenddessen ist Ömer, gefolgt von Ulak in den Klassenraum zum Mittelgang gekommen. Ömer tritt an Jeanettes Tisch heran und sagt: „Aber ich krieg was!“ Er tippt auf die Tüte, die Jeanette in den Händen festhält, während sie noch Tacim nachschaut. Jeanette wendet sich Ömer zu, der ihr beide Hände zusammen weit geöffnet hinhält. Jeanette sagt: „Ja“. Ulak ist gleichfalls herangetreten, stellt sich zwischen Ömer und Jeanette und hält Jeanette eine geöffnete Hand unters Gesicht. Auch Ayla ist herbeigekommen, steht hinter Ulak und streckt Jeanette ihre beiden geöffneten Hände entgegen. Ömer sagt zu Jeanette: „Man laß mich doch nehmen!“, ergreift die Tüte, nimmt sich eine Handvoll des Inhalts und geht. Jeanette nimmt etwas, das davon auf den Tisch gefallen ist, in den Mund, wischt den Tisch, blickt sich nach Ulak um, der ihr noch immer die geöffnete Hand entgegenstreckt. Jeanette schüttelt den Kopf, Ulak geht. Jeanette ruft Ulak mit erhobenem Zeigefinger hinterher: „Du hast gekriegt.“ Ayla klatscht spaßhaft bittend mehrmals in ihre Hände, dann hält sie sie lächelnd Jeanette geöffnet entgegen. Ulak geht zu seinem Tisch, legt etwas ab und entgegnet: „Das ist voll lieb.“ Dann wendet er sich zur Garderobe. Ayla blickt zu Ulak herüber, ruft abwehrend: „Oahh!“ und schaut erneut Jeanette an. Diese entnimmt etwas der Tüte und gibt es in Aylas geöffneten Hände. Ayla wendet sich ab, ruft in triumphierendem Tonfall Ömer zu: „Ich hab die ganze …!“, zeigt ihm ihre gefüllten Hände und schwenkt ihre Schultern dabei hin und her. Ömer blickt sie an, winkt ab und setzt sich an seinen Sitzplatz, noch die Schildkappe auf dem Kopf, die Jacke über den Stuhl geworfen. Vor sich auf dem Tisch hat er die erhaltene Nascherei abgelegt und ißt davon. Ayla führt sich etwas von ihrer Nascherei zum Mund, verzieht das Gesicht, kneift die Augen zusammen und ruft: Äch!“ Sie ißt erneut etwas davon und geht zu ihrem Sitzplatz neben Ömer, wo sie den in der Hand bewahrten Rest nach und nach aufißt. Jeanette ist aufgestanden, wischt sich das herabgebröselte weiße Pulver von der schwarzen Hose und setzt sich wieder. Der Lehrer kommt währenddessen in den Raum und geht zum Pult.

Uzman tritt an Jeanette heran und bittet sie darum, etwas von dem weißen Tüteninhalt zu bekommen. Jeanette verwehrt es ihm, Uzman erwidert: „Okay Du hast (… Wahl), des wars“, während er um sie herum zu seinem Sitzplatz geht. Jeanette blickt sich nach Ulak, Ayla und Ömer um und packt ihre Tüte in die Schultasche.

Interpretation

Die von Jeanette aus der Pause mitgebrachte Leckerei führt zu einer ganzen Kette von Interaktionen mit einer Reihe unterschiedlicher Schüler. Zunächst ist es Nina, die in das Besitzterritorium von Jeanette eingreift, woraufhin Jeanette ihr dieses vorzuenthalten sucht. Die territoriale Streitigkeit gewinnt schnell an Dramaturgie, weitet sich auf das Körperterritorium aus: Nina attackiert Jeanette mit einem Würgegriff, droht ihr damit, die Luft zum Atmen zu nehmen. Nach einer Weile erfolglosen Widerstandes von Seiten des Opfers lässt Nina ab und kehrt zu ihrem Sitzplatz zurück. Die körperterritoriale Attacke bildet offensichtlich für Nina den Ausgleich, da sie ablässt und nicht weiter auf der Herausgabe des begehrten Gutes beharrt. Dieser körperliche Angriff wird von Jeanette als keine reale existentielle Gefährdung, vielmehr als reine Drohgebärde gedeutet, denn sie führt zu keiner weiteren Hilfesuche und wird, nach Ablassen seitens Nina, von ihrer Seite mit einer Geste der Vergewisserung – indem sie den begehrten Gegenstand einen Moment in der Hand behält – abgeschlossen.

Es erfolgt eine neue interaktive Auseinandersetzung um den Gegenstand, den Jeanette – trotz der körperlich expressiven Attacke durch Nina – nicht vor weiteren Angriffen sichert. Tacim gelingt es durch geschickte, zunächst verdeckte, d.h. erst im Moment des unwiderruflichen Vollzugs erkennbare Entwendung, sich einen Teil von dem Besitzterritorium Jeanettes zuzuführen, trotz körperterritorialer Abwehr- und Rückeroberungsgesten von Seiten Jeanettes. Dabei nutzt er nicht zuletzt die dem Gegenstand bezüglich seiner Verwendung innewohnende Eigenschaft der Unwiderrufbarkeit (der nicht umkehrbare Verzehr), indem er ihn sich – auf Abstand – in Ruhe einverleibt, die Eroberung nach vollzogener Entwendung nochmals performativ inszeniert. Bedeutsam ist, dass Tacim, wie Nina, nicht den Versuch unternimmt, Jeanette zur freiwilligen Abgabe zu bewegen. Dieser Weg wird von anderen Kindern, Jungen wie Mädchen, eingeschlagen.

Sowohl Ömer als auch Ayla „erbetteln“ sich etwas von der Leckerei, wobei beide dies mit sichtbarer Ambivalenz vollziehen. Ömer stellt zunächst in seinem Tun eine Differenz zwischen sich und Tacim her, begleitet seine eigene bittende Geste geöffneter Hände mit einer verbalen Aufforderung zur Andersbehandlung: „Aber ich krieg was!“ Gleichwohl vollzieht er diese Geste, die ein (geduldiges) Warten auf die Gabe einschließen würde, nicht vollständig, sondern bricht sie ab, indem er zunächst verbal, schließlich performativ seinen Anspruch geltend macht, sich selbst zu bedienen. Ayla wiederum überzeichnet und ironisiert durch Lachen die bittende Geste, in die sie gleichzeitig über das In-die-Hände-Klatschen eine fordernde Geste einlagert. Auch sie setzt sich in Form einer parasprachlichen Äußerung von einem Mitstreiter um das Naschzeug ab, und zwar von Ulak, der trotz bittender Geste leer ausgeht. Sowohl Ömer als auch Ayla stellen jeweils über die Distanzierung gegenüber Tacim und Ulak eine situative Solidarität mit Jeanette her. Die (wenn auch ambivalente) bittende Geste wiederum unterstreicht die Distanzierung auf performativer Ebene. Doch auch zwischen diesen beiden Kindern entsteht eine Differenz: Wie Ayla verbal und körpersprachlich gegenüber Ömer zum Ausdruck bringt, erhält sie freiwillig von Jeanette mehr als er, der die Bittgeste nicht vollständig vollzogen hat. Allerdings kann das Geben und Verweigern nicht lediglich als Folge eines bestimmten Verhaltens derjenigen, die sich um das Naschzeug bemühen, gedeutet werden, denn Ulak und später Uzman erhalten beide im Gegensatz zu Ömer und Ayla trotz bittender Geste nichts. Dies führt zu der Frage, welche Bedeutung dieses süßsaure Naschzeug für die Beteiligten einnimmt. Dabei lassen sich im wesentlichen zwei Aspekte unterscheiden: das Naschzeug als Medium für die Anbahnung und als Ausdruck von Beziehungen einerseits, das Naschzeug als Ausdruck und Möglichkeit der Fortführung einer auf Lust und Genuss bezogenen Handlungspraxis anderseits.

Das Naschzeug als Medium für die Anbahnung oder die Darstellung von Beziehungen kann sowohl in seinem positiven Ausdruck (Gabe, bittende Geste) als auch in seiner Negation (Verweigerung, Enteignung) betrachtet werden. Insgesamt wird in dieser Szene deutlich, dass zwischen Jeanette und denjenigen, die sich um das Naschzeug bemühen, keine Selbstverständlichkeit des Gebens und Nehmens besteht, d.h. eine auf gemeinsamem, solidarischem Handeln beruhende Freundschaftsbeziehung existiert hier nicht. Dies lässt sich insbesondere in der Verweigerung gegenüber Nina, Tacim, Ulak und Uzman erkennen. Gegenüber den anderen, also Ayla und Ömer, wiederum besteht eine gewisse Bereitschaft zur Anbahnung einer solidarischen Beziehung, die allerdings von deren Seite nur schwach erwidert wird, stellt man die deutlich markierte Ambivalenz in Rechnung. Umgedreht stellt die Reaktion Ulaks und Uzmans auf die Andersbehandlung eine Distanznahme gegenüber Jeanette dar, die nun selbst durch Aufkündigung („Das war’s“) oder Ironisierung („Das ist voll lieb“) aus einer potentiellen solidarischen Gemeinschaft ausgeschlossen wird.

Tacims körperterritorialer Übergriff wiederum enthält Züge eines provokativen (rituellen) Eindringens in das private weibliche Territorium, eines Versuchs der aktionistischen Anbahnung einer Mädchen-Jungen-Beziehung, bei dem er allerdings von Jeanettes Seite in Form einer körperlichen Gegenwehr abgewiesen wird. Die Eroberungsgeste Tacims kann so auch als ein die Abweisung wieder relativierender Akt der Selbstdarstellung gesehen werden.

Der Aspekt des Naschzeugs als Ausdruck und Möglichkeit der Fortführung einer auf Genuss, auf Lust bezogenen Handlungspraxis verweist in verstärktem Maße auf die gegenwärtige Situation, innerhalb derer es zum Brennpunkt der Aufmerksamkeit wird: auf den Übergang von der Pause zum Unterricht. Als Gegenstand ist dieses Besitzterritorium eher der Pausenzeit, der unterrichtsfreien Zeit zuzuordnen, und so ist es auch charakteristisch, dass es dieser Phase entstammt und über die Garderobe, der auf den Außenraum bezogenen Kleidung, in das Klassenterritorium hineingetragen wird. Denn Essen und Leckereien gehören, wie in anderen Beobachtungssequenzen für uns deutlich wurde, nicht in den geregelten Unterrichtsablauf bzw. -raum hinein. So bemerkte der Klassenlehrer Herr Maier beispielsweise an der Schwelle zum Englischunterricht: „Die Essenssachen verschwinden bitte jetzt“ und ruft damit eine für alle offensichtlich bekannte Regel in Erinnerung. Diese Regel ist Teil des Organisationssystems des Unterrichts, ihr nachzukommen Teil der Markierung und Aufführung einer (aktualisierten) sozialen Identität des Schülers und der Schülerin. Das Mitführen dieses privaten, unterrichtsfernen Besitzterritoriums und das starke, nahezu kollektive Interesse an einer Teilhabe daran signalisieren eine Ambivalenz hinsichtlich der aktualen Einbindung in das institutionelle (disziplinierende) Ablaufschema, welche etwa mit der Ablage der Garderobe und der Bereitstellung schulischer Besitzterritorien (Mäppchen, Heft) auf dem Tisch vollzogen wird. Das Lust und Genuss markierende Naschzeug rettet so ein Stück aus dem Kontext: Pause, Freizeit herüber, macht den Kontextwechsel zum Disziplin abfordernden Unterricht erträglicher.

Die Szene kann als charakteristisch gerade für die Schwellenphase des Übergangs von der Pause zum Unterricht bezeichnet werden. Aufgrund ihrer Strukturschwäche – die bestehenden Strukturen der Beziehungen der Peergroup können nicht mehr vollständig aufrechterhalten werden und das Regelwerk des Unterrichts hat noch keine primäre Geltung – bietet sie einerseits Möglichkeiten der interaktiven Verwicklung, der Anbahnung neuer sozialer, auch zwischengeschlechtlicher Beziehungen, wenngleich sie auch, wie bei Tacim, Ulak und Uzman erkennbar, die Gefahr des Scheiterns in sich birgt. Dabei kommen unterschiedliche Beziehungsmodi zur Darstellung, von der Gabe und Solidarität rsp. Verweigerung und Distanzierung über die zwischengeschlechtliche Provokation bis hin zu Symmetrie herstellenden körperlich-expressiven Grenzüberschreitungen. Anderseits werden in diese Phase immer wieder unterrichtsferne Elemente aus dem Kontext Pause transferiert, hier am Beispiel des lustbetonten Besitzterritoriums Naschzeug; diese Elemente, ihre Attraktivität im Unterrichtsraum, machen nicht nur eine Ambivalenz im Hinblick auf die aktuale Übernahme einer sozialen Identität als Schüler und die damit einhergehende Einbindung in disziplinierte Verhaltensmuster deutlich, sie bewirken auch eine Verzögerung, einen Aufschub des Vollzugs eben jener, am Organisationssystem Unterricht orientiertenHandlungsschemata.

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