Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung

Klasse 5x, 16.03.1999, Übergang Pause – Unterricht (10h26)

Yussif bleibt am Overheadprojektor stehen, umfaßt ihn mit den Händen und blickt auf die Auflagefläche. Das Licht des Projektors geht kurz an, dann wieder aus.

Klasse 4y, 25.03.1999, Übergang Pause – Unterricht (10h28)

Claudia wendet sich ab und geht über den Mittelgang zurück in Richtung ihres Sitzplatzes. Beim Overhead-Projektor vorbeikommend hält sie inne, faßt die auf dem Projektor liegende Folie an, und geht dann weiter in Richtung ihres Platzes.

Klasse 4y, 25.03.1999, Übergang Pause-Unterricht (10h28-10h29)

Nachdem Frau Kasek den Bereich vor dem Lehrerpult verlassen hat, nimmt Sybille, die dort stehengeblieben ist, die CD, die Yussif liegenließ, in die Hand und schaut sich das Cover an, dreht es um, blickt eine Weile darauf, dreht sie erneut und schwingt ein paar Momente tanzähnlich Kopf und Oberkörper.

Interpretation

Der Umgang der Kinder mit dem Projektor und mit Dingen vom Lehrerpult kann als Übergriff auf Lehrerterritorium, als Widerstandsritual gedeutet werden. Die Versunkenheit der Kinder und ihre fehlende Bezogenheit auf andere in diesen Situationen weist jedoch darauf hin, daß ihr Verhalten hier anders zu interpretieren ist.

Das Handeln der Schüler ist in diesen Beispielen nicht sonderlich auf eine Gemeinschaft (Peergroup, Klassen- oder Unterrichtsgemeinschaft) und deren Struktur bezogen. Was geschieht, scheint regelloses Spiel zu sein, bei dem die Kinder im Benjaminschen Sinne mit den Dingen sprechen. Wir bezeichnen dies als Aisthetisierung, da das Verhalten darauf angelegt zu sein scheint, die Dinge zu versinnlichen, die Wahrnehmung der Dinge zu erweitern und zu intensivieren.

Wenn Yussif den Projektor mit seinen Händen umfaßt, macht er diesen über den visuellen hinaus weiteren Sinnen zugänglich. Zugleich umarmt er ihn aber auch, nähert sich ihm also freundschaftlich an. Daß er das Projektorlicht an und ausschaltet, zeigt seinen Spaß am Ausprobieren, Experimentieren, Spielen.

Auch Claudia hält auf dem Weg zu ihrem Sitzplatz beim Projektor nicht nur einfach kurz inne, sondern faßt etwas an, setzt also neben dem visuellen ihren haptischen Sinn ein (Aisthetisierung). Sie umarmt allerdings nicht den ganzen Projektor, sondern faßt nur die daraufliegende Folie an. Wieder entsteht zwischen der Schülerin und dem Gegenstand eine so starke Attraktion und Faszination, daß die Schülerin in eine körperliche Zwiesprache mit dem Ding eintritt.

Wie stark die Zwiesprache der Kinder mit bestimmten Dingen körperlich nachhallt, kommt insbesondere beim dritten Beispiel zum Ausdruck. Berührung und Betrachtung einer CD genügen, um Musik zu erzeugen, den Körper in Schwingung zu versetzen und so etwas wie Tanz erscheinen zu lassen.

Auch wenn diese Zwiesprache mit Dingen, die wir als Aisthetisierung und Spiel bezeichnen, kein Ritual und keine Ritualisierung, ja im engeren Sinne nicht einmal eine soziale Interaktion, sondern eben Kommunikation mit Dingen ist, und auch wenn die Aisthetisierung der Dinge zumeist ein einmaliges Geschehen und eben keine Wiederholung ist, hat sie doch mit Ritualen und Ritualisierungen etwas gemeinsam: Sie gibt dem Geschehen eine besondere Atmosphäre, eine sakrale Komponente.

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