Falldarstellung (mit interpretierenden Abschnitten)

Bei den Untersuchungsgruppen handelt es sich um eine erste Klasse und eine die Jahrgangsstufen 1 bis 3 übergreifende Lerngruppe aus zwei Berliner Grundschulen. Als Grundlage für die Rekonstruktion dienen Transkripte, die anhand von Videos und ergänzenden Feldnotizen angefertigt wurden. Die Transkripte werden zunächst in Anlehnung an die ethnomethodologische Konversationsanalyse interaktionsanalytisch untersucht (s. z.B. Vollmer/Krummheuer 1997); anschließend werden die Interpretationen vergleichend analysiert. Die Darstellung der folgenden Analysen ist stark gekürzt.

Franzi und Nicole – Abgucken und Können
Franzi und Nicole aus der Klasse 1 arbeiten an demselben Gruppentisch. Franzi ist mit einem Mathematikarbeitsbogen beschäftigt.

Franzi wendet sich an Daria und fragt, ob sie deren Ordner zum Abgucken haben dürfe <1, 3>. Dabei scheint sie das Abgucken nicht als eine Tätigkeit einzuschätzen, die man verbergen oder derer man sich schämen müsse; vielmehr scheint sie es als ein Argument dafür anzuführen, Daria zum Verleihen ihres Ordners zu bewegen. Daraufhin wendet sich Nicole an Franzi und kündigt an, sie werde der Lehrerin sagen, dass bzw. wenn Franzi abgucke <5>. Sie scheint es als wichtig einzuschätzen, dass die Lehrerin darüber informiert wird. Nicoles Äußerung könnte auf die Möglichkeit hinweisen, dass Abgucken eine von der Lehrerin nicht gern gesehene Tätigkeit ist. Vielleicht legt sie Franzis Äußerung auch als Versuch aus, sich einen Vorteil beim Erfüllen der Anforderungen zu verschaffen – das würde implizieren, dass sie die Situation als Konkurrenzkampf definiert. Umgangssprachlich formuliert, droht Nicole damit zu petzen. Diese Androhung des Petzens lässt sich als Spekulation darauf deuten, dass die Lehrerin Franzis Abgucken unterbinden wird. Die beiden Schülerinnen streiten sich, tauschen aber keine Argumente über das Für und Wider des Abguckens aus. Dann geht Franzi vom Tisch weg <11>. Als die Lehrerin den Raum betritt, ruft Nicole diese <12> und petzt Franzis Absicht abzugucken <14>. Die Erwiderung der Lehrerin wirkt nicht sehr konzentriert <15>. Sie lässt sich dahingehend deuten, als habe sie nicht ausnahmslos etwas dagegen, dass abgeguckt wird. Eventuell hält die Lehrerin Abgucken unter bestimmten Umständen für eine mögliche und akzeptable Art des Lernens. Mit einer Rechenkette an den Tisch zurückgekehrt, sagt Franzi dann, dass sie jetzt erst einmal rechnen wolle <18>. Sie scheint das Rechnen als eine zum Abgucken alternative und diesem vorausgehende Tätigkeit zu benennen. Nicole klärt sie dann darüber auf, dass sie abgucken dürfe <19>. Die Betonung auf „DARFST“ kann als Eingeständnis eines Irrtums verstanden werden. Franzi weist sie daraufhin mit einem betont gedehnten „J A H A \ . U N D /“ ab <20 >.
Nach einer kurzen Pause folgt Nicoles Erwiderung „.. aber wenn du abguckst kannste dis nicht \“ <21>. Hier äußert Nicole erstmals etwas über die Tätigkeit des Abguckens als solche. Die Äußerung lässt sich mindestens auf die zwei folgenden Weisen auslegen:
(1) Sie könnte Abgucken als ein Zeichen dafür interpretieren, dass jemand etwas nicht kann. Wer abguckt, zeigt demzufolge, dass er etwas nicht kann. In dieser Deutung hätte die Äußerung deskriptiven Charakter.
(2) Das grammatische Präsens in dieser Äußerung kann aber auch mehr zukunftsgerichtet verstanden werden. Es könnte darin eine Vorstellung über Lernprozesse liegen, die beinhaltet, dass beim Abgucken nicht gelernt wird. Bei dieser Interpretation hätte die Äußerung einen prospektiven bzw. normativen Charakter.
Im Zusammenhang mit dem Abgucken-Dürfen bzw. dessen In-Frage-­Stellung ist die zweite Deutungsmöglichkeit plausibler, denn dürfen hat normativen Charakter und ist als Norm zukunftsgerichtet. Insofern ist diese Analyse Beispiel für eine Rekonstruktion alltagspädagogischer Vorstellungen einer Schülerin.

Lars – Abgucken und Schlau-Werden

Sandra, Lars, Aram und Sheila sind aus der jahrgangsübergreifenden Lerngruppe und im zweiten Schuljahr. Sie arbeiten an Mathematikaufgaben.

Lars entdeckt, dass ihnen die Ergebnisse zugänglich sind und erzählt dies Sandra <1>. Die Kinder, auch Adi, wirken überrascht und leicht erregt. Dann verkündet Lars, dass er aber nicht abgucke, weil man dann nicht schlau werde <6>. Er verbindet eine Aussage über das Abgucken explizit mit einer Aussage über das Lernen oder, wie er es nennt, „Schlau-Werden“. Für ihn besteht beim Abgucken keine Möglichkeit zu lernen. Diese alltagspädagogische Vorstellung leitet sein Handeln. Er formuliert prospektiv und normativ, dass er sich hinsichtlich des Abguckens nicht lernhinderlich verhalten werde. Hierin ist eine Art Regel enthalten: Man sollte nicht abgucken, wenn man lernen möchte. Als dem Abgucken ähnlich kann das Sich-etwas-vorsagen-Lassen betrachtet werden. Auch hierbei übernimmt einer das Wissen eines anderen, ohne es sich selbst zu erarbeiten bzw. zu konstruieren.

Yussuf und Franzi – Sagen und Selber-Rechnen

Franzi und Yussuf aus der Klasse 1 arbeiten nebeneinander an unterschiedlichen Mathematikaufgaben.

Yussuf beginnt vernehmbar zu rechnen <2>, was Franzi aufgreift <3>. Yussuf aber wehrt ab mit den Worten „sags nich \“ und „nein ich will SELBER R E C H N E N“ <4>. Dann führt er das genauer aus und stützt seine Aussage mit einem Kommentar: „N E I N wenn du NICHT sagst ist viel besser“ <6>. Diese Äußerung lässt sich vergleichen mit der obigen von Nicole: „..aber wenn du abguckst kannste dis nicht \“ <21>.
Yussufs Äußerung ist wie Nicoles als die Formulierung einer Art Regel interpretierbar. In Yussufs Fall würde diese Regel lauten: Man soll nicht vorsagen. Nun könnte man versuchen, auch bei Yussufs Äußerung einen Zusammenhang zwischen Sagen und Lernen zu rekonstruieren, indem man das „Besser-Sein“ auf Vorstellungen von Lernprozessen bezieht. Diese Vorstellung könnte dann, als Regel formuliert, lauten: Es ist besser, sich nichts vorsagen zu lassen und selber zu rechnen, weil man so besser lernen kann.

Interpretation (zusammenfassend)

Anhand der drei vorgestellten Beispiele von Schülerinteraktion im Rahmen von Wochenplanarbeit konnten alltagspädagogische Vorstellungen von Schülerinnen und Schülern und deren Aushandlungen rekonstruiert werden. Schülerinnen und Schüler äußern sich hier dazu, wie man handeln soll, damit man „es kann“, damit man „schlau wird“, damit „es besser ist“. Diese Vorstellungen angemessenen Handelns beziehen sich auf Kooperationsweisen. Dabei argumentieren die Schülerinnen und Schüler zielgerichtet, orientiert am Lernen und an als geteilt geltend unterstellten Wertungen. Sie stellen also einen Zusammenhang zwischen Kooperation und Lernen her. An den Beispielen lässt sich illustrieren, dass ihre alltagspädagogischen Vorstellungen es ihnen ermöglichen können, lernproduktiv zu handeln.
In Bezug auf Wochenplanarbeit kommt den alltagspädagogischen Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler ein besonderes Gewicht zu, weil sie in diesem Rahmen freier und selbstständiger handeln als in lehrergelenktem Unterricht und sie sich ihre Lernbedingungen hier in stärkerem Maße selber schaffen.
Wenn man davon ausgeht, dass die handlungsleitenden Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler von Aushandlungen mit den jeweiligen Lehrerinnen bzw. Lehrern geprägt sind, heißt das: Eine wichtige Möglichkeit, um als Lehrende Einfluss auf die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler zu nehmen, besteht über deren Alltagspädagogik (vgl. Bruner 1996, 63). Dafür scheint es zwei Wege zu geben: Erstens können Aspekte der Alltagspädagogik direkt thematisiert werden (z.B. die Zielorientierung von Kooperation: Primat eines erledigten Arbeitsauftrages oder Autonomiezuwachs als Ausdruck von Lernen?); zweitens können Lehrende methodische Regeln für die Kooperation angeben. Im Hinblick auf die auf Eigenverantwortung, Autonomie und „soziales Verhalten“ zielende Konzeption von Wochenplanunterricht allerdings halte ich die erstgenannte Möglichkeit für angemessener, weil sie die Entscheidungsautonomie der Schülerinnen und Schüler nicht beeinträchtigt. Inwieweit diese Einschätzung auch empirisch zu fundieren ist, muss hier jedoch offen bleiben.

Transkriptionsregeln

L : Lehrerin

Name: namentlich identifizierter Schüler

S: ein nicht namentlich identifizierter Schüler

S 1 / S2: verschiedene, namentlich nicht identifizierte Schüler

Intonation:

/ Stimme wird gehoben \ Stimme wird gesenkt • Stimme bleibt in der Schwebe

KAPITÄLCHEN: besonders betont gesprochene Wörter

g e s p e r r t: gedehnt/ langsam gesprochene Wörter

Pausen:

, Atemholen

. .. … Sprechpausen (längere Pausen –> mehr Punkte) (Es werden im Transkript in den Sprechpassagen keine Satzzeichen benutzt.)

Weitere Zeichen:

(Wort): eingeklammerte Wörter sind nicht zweifelsfrei verständlich

(unverständlich) : Äußerung eines fokussierten Sprechers ist gänzlich unverständlich kursiv: Ausdruck, Gestik, Mimik, Handlungen etc.

+ : Ende des angegebenen Ausdrucks, Gestik, Mimik, Handlung

< : Beteiligte sprechen teilweise gleichzeitig (in Partiturschreibweise)

# :es entsteht keine Sprechpause; der zweite Sprecher fällt dem ersten ins Wort

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