Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
Jungen sprechen miteinander über Schule I
Jungen sprechen miteinander über Schule III
Jungen sprechen miteinander über Schule IV
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Vergleich in der Gruppe
Der soziale Kontakt in der Schule ist, wie sich auch im weiteren Gesprächsverlauf zeigt, für die Kinder zentral. Vor allem der Kontakt zu Gleichaltrigen steht immer wieder im Mittelpunkt der Erzählungen. Ausführlich wird geschildert, welchen Pausenaktivitäten die Jungen nachgehen und wer oder was sie da stört („Mädchen in der Pause“, 534; „Ja: die nerven uns die nehmen uns den Ball weg“, 547; „Wenn wir Mädchen fangen Buben spieln gehen alle auf mich“, 683). Selbst auf die Intervention des Interviewers hin (,Aber du hast gesagt dir gefällt BK (1) oder Markus?“, 819), mit der ein Gespräch über Unterricht angeregt werden sollte, entfaltet sich schnell eine Geschichte darüber, wie mit Hilfe von gebastelten Geistern Mädchen erschreckt („Wenn man die Mädchen zeigt die aaaaah:“, 837, „Die dann so iiiih:“, 839) (2) oder in Eigeninitiative Theaterstücke in der Gruppe inszeniert werden („Haben dann eh nee das waren wir beide und Felix und Daniel haben wir Theater ham Theater gemacht“, 849).
Auch wenn die Kinder über inhaltliche Aspekte von Schule sprechen (Strafarbeiten, Monotonie oder Schwierigkeit von Aufgaben), sind die sozialen Zusammenhänge und damit verbunden der Vergleich in der Gruppe ein durchgängiges Thema.
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen:
858 I: Sagt mal und in TW (3)
859 Tobias: Nein.
860 I: Das is doch auch noch das is doch auch noch interessant oder?
861 Markus: Da machen wir (Freundschafts)
862 Tobias: Na ja
863 Felix: Da ham wir des gemacht.
864 Markus: „Freundschaftsbänder“
865 Tobias: Freundschaftsbänder oder so genau
866 I: Freundschaftsbänder gell?
867 Markus: Ja das is schön das is schön leicht.
868 Tobias: Genau
869 Paul: Ja das is leicht
870 J: Ja
871 Paul: Ich hab mindestens schon hundert
872 Tobias: Ich hab na: du doch erst eins.
873 Paul: Jawohl ich erst zwei hab du auch [LACHT]
874 Markus: @Hundert@
875 Tobias: Ich schaff so n ganzes Bild voll gell?
876 Felix: Ok mach
877 Tobias: Ok.
878 Paul: Guck ein durchsichtiges
879 Tobias: Ja guck mal ich hab so ein großes uiah:
880 Paul: Die Leonie mit ihrem Gürtel.
881 Tobias: Ja gell
882 Felix: Häaa:
883 Paul: Dreißig Fäden
884 Markus: Dreißig Stück *3*
885 Tobias: Schafft sie nich mal morgen *2* die schafft das nicht in einern Jalu das schafft die nicht in ihrem Leben die aber die die
886 Felix: Die kann das doch überhaupt nicht
887 Tobias: Ja die schafft in ihrem Leben so n Stück vielleicht nh?
888 Felix: Sogar weniger.
889 Paul: Mehr nich.
890 Tobias: Ja so n Stück
891 Markus: Un die Leonie die *1* in Mädchen fangen Buben da reißt sie immer die: Pullover so oder so
(FR 01, 867-891; Dauer ca. 45 sec.)
Die Jungen inszenieren hier wieder das oben bereits angesprochene Spiel des „Übertrumpfens“ (leicht – ich hab hundert – ganzes Bild – durchsichtiges Bild). Pauls Einwurf „Die Leonie mit ihrem Gürtel“ (880) beendet diesen ins Phantastische getriebenen Wettbewerb. Während sich die Jungen zuvor untereinander spielerisch messen, verlagert sich nun das Gespräch auf ein Messen mit der Mitschülerin Leonie. Die Jungen entwerfen eine Hierarchie anhand der Fähigkeiten, Freundschaftsbänder zu knüpfen. Das gemeinsame Abgrenzen von Leonie beendet die Hierarchisierung untereinander und schafft Gemeinsamkeit: Sie sind sich einig, dass Leonie ihr Vorhaben niemals bewältigen kann. Leonie wird als negativer Gegenhorizont (4) zu den eigenen Fähigkeiten entworfen. Die Jungen explizieren auch dies wieder in Form von Steigerungen (schafft sie morgen nicht – nicht in einem Jahr – nicht in ihrem Leben). Der laut gerufene Einwurf von Felix („Die kann das doch überhaupt nicht“, 886), der diese Steigerung zu einem Höhepunkt führt, wird jedoch gleich relativiert: Es ist zumindest nicht so, dass Leonie gar nicht knüpfen kann (wenn auch ihr „Lebenswerk“ als sehr gering eingestuft wird). Am Ende dieser Sequenz haben sich damit die Jungen der Gesprächsrunde einer gemeinsamen hierarchisch höheren Position versichert.
Interessant hierbei ist, dass dies bei dem Gesprächsthema Textiles Werken geschieht – einem herkömmlich weiblich konnotierten Unterrichtsfach. Die Jungen betonen ihre Fähigkeiten auf einem traditionell weiblich eingeordneten handwerklichen Gebiet. Dies scheint ihrem Entwurf der eigenen Männlichkeit nicht im Wege zu stehen – in der Gruppe herrscht Konsens darüber, dass Freude an Handarbeit und Junge-Sein sich nicht widersprechen. Mit den demonstrierten Fähigkeiten vor dem Gegenhorizont „Leonie“ inszenieren die Jungen hier eine Facette einer „überlegenen Männlichkeit‘. (5)
Des Weiteren fällt auf, dass Geschlecht an dieser Stelle zunächst nicht generalisierend konstruiert wird. Die Jungen greifen nicht zurück auf die Dichotomisierung „Mädchen – Jungen“. Leonie bleibt als einzelne Person stehen, von der sich die Gruppenmitglieder gemeinsam abgrenzen. Dennoch schwingt der Bezug auf kollektive traditionelle Vorstellungen von Weiblichkeit mit: „Die Leonie mit ihrem Gürtel“ (880) verweist auf die Tradition „ornamentierter Weiblichkeit“. Weiblichkeit wird als (z.B. durch einen Gürtel) zu Schmückendes konstruiert. (6) Zugleich beschreiben die Jungen, dass sie Freundschaftsbändchen herstellen. Es ist anzunehmen, dass sie sich mit den selbst angefertigten Armbändern auch schmücken (863). Dies deutet über das traditionelle Geschlechterbild hinaus auf eine „ornamentierte Männlichkeit“ hin.
Das Stichwort „Leonie“ ist dann erst im Folgenden Anlass für weitere Erzählungen über soziale Kontakte in der Schule, in denen Geschlecht wiederum als Klassifikationskategorie aktualisiert wird („Mädchen fangen Buben“). (7)
Fußnoten
(1) Der Interviewer spricht hier vom Unterrichtsfach Bildende Kunst.
(2) Dies sind wiederum Beispiele dafür, wie Geschlecht als Strukturkategorie konstruiert wird: Mädchen werden als Gruppe mit kollektiven Eigenschaften beschrieben.
(3) Gemeint ist damit das Unterrichtsfach Textiles Werken.
(4) Zum Begriff „Gegenhorizont“ vgl. Bohnsack 1999.
(5) Vgl. Connells Konzept der Hegemonie in Connell 2000.
(6) Diese Tradition zeigt sich beispielsweise bei Rousseau: Er verweist in seiner Beschreibung von Sophie auf diesen Mythos von Weiblichkeit: Die Frau schmückt sich mit selbstgefertigten Textilien, um dem Mann zu gefallen. Sie liebt textile Arbeiten und entwickelt durch sie ihre „natürliche Grazie“ und Fingerfertigkeit weiter (1993, 738-741 u. 790f.).
(7) Ähnliche Situationen beschreiben auch Breidenstein/Kelle (1998): Geschlecht wird genutzt, um in der begrenzten Zeit der Pause schnell Mannschaften für ein gemeinsames Spiel zu bilden.
Literatur
Bohnsack, Ralf (1999): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung. Opladen 1999.
Connel, Robert W.: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Opladen 2000.
Rousseau, Jean-Jaques: Emile oder über die Erziehung. 1. Aufl. 1762. Stuttgart 1993.
Breidenstein, Georg/Kelle, Helga: Geschlechteralltag in der Schulklasse. Ethnographische Studien zur Gleichaltrigenkultur. Weinheim/München 1998.
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