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Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Jungen sprechen miteinander über Schule I

Jungen sprechen miteinander über Schule II

Jungen sprechen miteinander über Schule IV

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Geschlechterkonstruktionen

Die Erzählungen der Kinder, die vielen Geschichten über Erlebnisse mit Gleichaltrigen, bestätigen die große Bedeutung von peers.(1) Ihre dominante Stellung innerhalb der Gruppendiskussion könnte jedoch auch mit dem Setting (2) zusammenhängen: Die Jungen sprechen hier in einer sozialen Situation in der Schule miteinander. Es liegt nahe, gemeinsame Themen anzusprechen und so auch Schule als soziales Beziehungssystem zu artikulieren. Dennoch überrascht im Verlauf der Gruppendiskussion zunächst, dass die Jungen immer wieder auf Mädchen Bezug nehmen. Dies wird aber teilweise auch durch die interviewende Person forciert. Ebenso könnte eine Rolle spielen, dass Jungen für das Gespräch aus einem gemischten Klassenverband herausgeholt werden. Sie erhalten dadurch den Status des Besonderen – auch gegenüber ihren Mitschülerinnen. Vor diesem Hintergrund liegt eine Abgrenzung von Mädchen im Verlauf des Gesprächs nahe. Mädchen als Gegenhorizont spielen bei den Erzählungen zum Junge-Sein eine große Rolle. Die Schilderungen zeigen, wie von den Kindern in der Interaktion Zweigeschlechtlichkeit hergestellt wird. Die Jungen hatten zuvor geäußert, dass Mädchen nervten – der Interviewer fragt nach Beispielerzählungen:

562 I: Und bei und bei diesen äh: ähm bei den Mädchen wie nerven die?

563 J: Ja: gell

564 Markus: Ja in der ersten Klasse, da rennen die immer

565 Felix: Uns hinterher und so eh eh eh und so gemacht [GESCHWUNGENE FÄUSTE IN RICHTUNG MARKUS]

566 Tobias: Und dann

567 Markus: Dann ham wir uns gewehrt

568 Tobias: Mhm

569 Markus: Und dann

570 Paul: Und da im dann ham wir wieder den Ärger jetzt gekriegt

571 Felix: Ja gell

572 Paul: Und am Schluss hat’s hat’s unser Lehrer gemerkt, und dann haben die jeder ne schöne Strafarbeit gehabt

573 Felix: Strafarbeit gekriegt

574 Markus: Das war’s schönste

575 Tobias: Hä wegen denen hab ich schon drei Strafarbeiten gekriegt wegen den Mädchen.

576 J: Ja

(FR 01, 562-576, Dauer ca. 25 sec.)

An dieser, wie auch in anderen Passagen, in denen Mädchen im Gespräch thematisiert werden, kommen Jungen zunächst ’nicht gut weg‘: Sie „ham […] wieder den Ärger jetzt gekriegt“ (570). Die Jungen inszenieren die Geschichte als alltägliches Geschehen („immer“, 564; „wieder“, 570).
Es wird an dieser Stelle nicht ganz klar, welche Mädchen hier gemeint sind: die Mädchen der eigenen Klasse (dann wäre dies ein Geschehen, das bereits zwei Jahre zurückliegt) oder aber Mädchen aus einer derzeitigen ersten Klasse (dies erscheint wahrscheinlicher, da aktuelle Geschehnisse zu erzählen naheliegender ist). Mädchen werden hier wiederum kollektiv gefasst – Geschlecht als Strukturkategorie rekonstruiert.
Die Kinder entwickeln die Geschichte gemeinsam, alle sind am Gespräch beteiligt. Sie beenden gegenseitig ihre Sätze (z.B. Markus: „…da rennen die immer“ Felix: „Uns hinterher Lind …“, 564f.) und bestätigen die Aussagen anderer mit kurzen Anmerkungen („Mim“, 568; „Ja gell“, 571). Zweimal wird ein Beitrag zur Erzählung von einem Jungen mit „Und dann“ (566, 569) eingeleitet und ein zweiter führt diesen fort mit „dann ham“ (567, 570). Bei der dritten Stelle (572), an der diese Floskel vorkommt, spricht nur ein Junge. Er spricht hier auch ohne Dialekt („und dann haben die“, 572) und hebt so die Aussage hervor. Dies kennzeichnet zugleich den Höhepunkt der gemeinsam entwickelten Geschichte. Bis zu diesem Zeitpunkt sprechen alle nacheinander. Es geschieht sehr schnell, dennoch überlappen sich die Gesprächsbeiträge nicht. Am Höhepunkt der Erzählung sprechen nun jedoch alle gleichzeitig („Strafarbeit gehabt“, 570; „Strafarbeit gekriegt“, 571; „Das war’s Schönste“, 572).
Inhaltlich scheint allen von Beginn der Sequenz an die Geschichte, die erzählt werden soll, klar zu sein. Sie deuten das Geschehen bis zum Höhepunkt nur an. Es wird Außenstehenden auf den ersten Blick nicht wirklich klar, was Mädchen da eigentlich machen: Sie rennen hinterher. Dann wird es unscharf („und so eh eh eh und so gemacht“, 565). Unterstützt wird diese Aussage durch „geschwungene Fäuste“. Auch die Art und Weise, wie die Jungen sich gewehrt haben, bleibt vage. Für die am Gespräch beteiligten Jungen scheint jedoch genug angedeutet. Sie haben die Situation vor Augen. Alle scheinen zu wissen, worum es geht, da am Schluss alle die Geschichte im Chor beenden.
Hier kommt dann auch zum Vorschein, warum Mädchen „nerven“: Das Hinterherrennen und die damit verbundenen Verhaltensweisen scheinen nicht im Vordergrund zu stehen. Die Jungen schildern, dass sie sich wehren. Sie haben die Situation eigentlich unter Kontrolle: Auf der Interaktionsebene besitzen beide Seiten die Definitionsmacht – es ist ein wechselseitiges Handeln. Dies ändert sich in dem Moment, in dem der Lehrer in die Interaktion eintritt. Erst mit dem Eingreifen des Lehrers ist der Kern der Erzählung erreicht: Hier zeigt sich, was die Schüler wirklich ärgert. Sie werden vom Lehrer benachteiligt. Dieser scheint auf ein gängiges Täter-Opfer-Verhältnis zwischen den Geschlechtern zurückzugreifen: „Jungen üben Gewalt aus“ – „Mädchen sind Opfer und müssen beschützt werden.“ Die Jungen wehren sich gegen das aus ihrer Sicht belästigende Verhalten von Mädchen („Dann ham wir uns gewehrt“, 567). Seitens der Lehrperson wird jedoch nur ihre Gegenwehr wahrgenommen und als nicht akzeptabel sanktioniert. Diese Ungerechtigkeit, die als von den Mädchen provoziert geschildert wird, bildet den Fokus der Geschichte. Die Jungen entwickeln hier ein Orientierungsmuster bezüglich der Mädchen, das sich etwas provokativ mit „Mädchen verursachen Ungerechtigkeit“ titulieren lässt – wobei Mädchen als Verursacherinnen entworfen werden und der Lehrer als einer, der Ungerechtigkeit herstellt. Zugleich ist das geschilderte Geschehen ein Beispiel dafür, wie in der Interaktion der Kinder untereinander die Arbeit an der Geschlechtergrenze („borderline work“, Thorne 1993) aussehen kann. Dieser Akt der Abgrenzung von „den Mädchen“ macht das eigene Geschlecht erst bedeutsam.
Ein versöhnliches Ende findet die Erzählung schließlich als Paul feststellt, „Und am Schluss hat’s hat’s unser Lehrer gemerkt“ (570). Zugleich ist dies der Aufhänger für weitere Stellungnahmen und Geschichten darüber, wie die Jungen durch das Verhalten von Mädchen ungerecht sanktioniert werden. Solche Ungerechtigkeit entsteht in den Schilderungen der Jungen – wie im obigen Beispiel -.jeweils dann, wenn sich eine erwachsene Person (Lehrer/ Lehrerin) in die Interaktion der Kinder einschaltet.
In der Geschichte und im darauf folgenden Gespräch wird der Sinn einer Strafarbeit nicht in Frage gestellt. Wenn eine Regel verletzt wird, erfolgt eine Strafe. So ist Schule organisiert, man muss damit leben. Die Jungen sind in dieses System einsozialisiert und weisen darauf hin, dass diese Regeln auch für Lehrkräfte gelten. (3)

Fußnoten

(1) Vgl. „peer culture Forschung“ (Corsaro/Eder 1990).

(2) Die Aufzeichnungen fanden aus organisatorischen Gründen während der Unterrichtszeit in einem Raum der jeweiligen Schule statt.

(3) Hier entwickeln die Schüler den eingangs angesprochenen Bereich der schulischen Regelstruktur und der eigenen Stellring darin.

Literatur

Corsaro, William/Eder, Donna: Children’s Peer Cultures. In: Annual Review of Sociology 16/1990, 197-220.

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