Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
Jungen sprechen miteinander über Schule I
Jungen sprechen miteinander über Schule II
Jungen sprechen miteinander über Schule III
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Interaktives Verhalten bei einem Konflikt
In einem letzten Beispiel möchte ich noch einmal auf das interaktive Verhalten der Jungen eingehen. Die folgende Textstelle folgt auf obige Diskussion über die Art und Weise, wie Mädchen „nerven“, und durch Mädchen provozierte Strafarbeiten.
An das Thema Strafarbeiten anknüpfend entsteht folgendes Gespräch:
583 Markus: Ja und dann einmal im Sport, da hat da hat unser Lehrer gesagt nicht hoch schießen und dann hab ich genommen den Ball genommen hoch geschossen, er hat mich gesehen und er hat gesagt ne Strafarbeit, ich so na toll.
584 [FELIX KICHERT]
585 Markus: Nein morgen fällt Sport aus dann hab ich (ges) dann haben oder n Strafarbeit oder morgen fällt Sport aus. Dann haben alle gesagt, [AB HIER GANZ HOHE STIMME] machsch die Strafarbeit
586 Felix: Strafarbeit
587 Markus: Und der hat am (mei) am meisten [ZEIGT AUF FELIX]
588 Felix: Hä:
589 Markus: Am meisten gemeckert
590 Felix: Ich:?
591 J [MEHRERE]: Ja:
592 Markus: Ja du. Auch beim Fußball meckerst du die ganze Zeit.
593 J: Ja, ja
594 Felix: Wenn du mich foulst gell wenn du mich foulst
595 Tobias: Ja und er meckert und
596 Markus: @Ja ja@
597 Tobias: Allein wenn die Gegner zwei Punkte Vorsprung haben. Dann weinst du.
598 Tobias: Hey dann gibt’s dann herrisch erst greifst du alle hoch und machst dann so kick
599 Markus: Weißt du wo ich ey komm du Blödian echt du foulst dich selber und
600 Felix: Und wenn du eigene Foul
601 Markus: Oah: ja gell so blöd
602 Felix: Dabei is gell beim eigenen Foul dann immer dich oder mich oder oder mich
603 Markus: Ja: ja du bist *2* du bist beim Fechten.
604 Paul: Ja genau
(FR 01, 583-604)
Markus erzählt hier ein Erlebnis zum Thema „Strafe“. Der vorhergehende Gesprächsverlauf lässt eine Situation entstehen, in der es beinahe schon prestigeträchtig ist, eine Strafarbeit bekommen zu haben. (,Paul: Und da un dann ham wir wieder den Ärger jetzt gekriegt“, 570; „Tobias: Hä wegen denen hab ich schon drei Strafarbeiten gekriegt wegen den Mädchen.“, 575; „Tobias: Dann hab ich die Strafarbeit gekriegt“, 581). Während es zuvor jedoch immer um ungerechtfertigt erhaltene Strafen geht, erzählt Markus eine Geschichte, in der er die Strafe provoziert hat. Er scheint mit dieser Begebenheit dennoch nicht ausgesöhnt, drückt die empfundene Ungerechtigkeit aber nicht explizit aus. Er gerät durch die vom Lehrer gestellten Alternativen unter Druck (Kollektivstrafe kein Sportunterricht oder Markus schreibt eine Strafarbeit). Das Verhalten von Felix in dieser Situation scheint ihm besonders in Erinnerung geblieben zu sein. Hier beginnt ein Konfliktgespräch unter den Jungen, dessen Ablauf ich genauer betrachten möchte.
Markus formuliert harte Kritik an Felix (,am meisten gemeckert“, 589; „auch beim Fußball meckerst du die ganze Zeit“, 592; „wo ich komm du Blödian echt du foulst dich selber“, 599; „oah: ja gell so blöd“, 601). Felix wird von Markus und Tobias ausgegrenzt: Sie werfen ihm vor zu foulen, zu heulen und sich dumm anzustellen. Dies sind vor dem Hintergrund des vorangegangenen Gesprächs, in dem die Jungen die Bedeutung von Sport für sich herausgestellt haben, schwerwiegende Vorwürfe. Dennoch läuft der Konflikt sehr moderat ab. Während Felix verbal ausgegrenzt wird, stellt Markus auf der nonverbalen Ebene Nähe her: Er beugt sich zu Felix hin. Felix wird zwar von Markus angegriffen, aber dieser ist es auch, der den Konflikt plötzlich beendet, indem er das Thema wechselt. Ruft er eben noch laut „Ja: ja du bist“ (603), so fährt er nach einer kleinen Pause an Paul gewandt fort „du bist beim Fechten“ (603). Im weiteren Gesprächsverlauf zeigt sich, dass Felix durch diese Gesprächssequenz keinesfalls dauerhaft aus der Gruppe ausgegrenzt wird. Er nimmt wie zuvor am Gespräch teil und bringt mit Bildender Kunst und Textilem Werken seine Stärken ein. Dies wird von den anderen Jungen akzeptiert. Der Umgang der Jungen miteinander in diesem Konfliktgespräch zeigt eine gegenseitige Wertschätzung. Das Image der Kontrahenten wird trotz Streit erhalten. Dies ist eine große soziale Leistung (vgl. Goffman 1971).
Der hier vorgestellte Konfliktverlauf wird in ähnlicher Weise auch von Goodwin (1990) beschrieben. Sie untersucht Alltagspraktiken von 7- bis 13-Jährigen aus ihrer Nachbarschaft mit Hilfe von Tonbandaufnahmen. Unter anderem beobachtet sie das Konfliktverhalten der Kinder und stellt fest, dass Konfrontationen plötzlich entstehen und kompromisslos ausgetragen werden. Sie enden aber auch so abrupt, wie sie begonnen haben, zwar selten mit einer Lösung, jedoch meist ohne Sieg und Niederlage. Das Ende wird häufig herbeigeführt, indem eines der am Gespräch teilnehmenden Kinder den Gesprächsgegenstand wechselt und damit den bestehenden Rahmen des Konfliktes verlässt.(1) Diese Beobachtungen bei amerikanischen Kindern lassen sich an der vorliegenden Textsequenz bestätigen.
Weiter beschreibt Goodwin Ambivalenzen, die ebenfalls den Beobachtungen zu unserer Textstelle entsprechen: Einerseits werden einzelne Kinder kompromisslos mit Schwächen, Fehlern oder Fehlverhalten konfrontiert, andererseits lässt sich niemand wirklich aus der Ruhe bringen.
Zwar wird scheinbar über Sachverhalte verhandelt. Dennoch entsteht der Eindruck, als stünde deren Klärung nicht im Vordergrund. Goffman (1971) bezeichnet diese Interaktionsform als „Charakterwettkampf“: Die Beteiligten des Konfliktes fordern sich zwar heraus, sie wollen jedoch nicht Sieger und Besiegte ermitteln. Es geht darum, in einer Situation der Bedrängung Haltung zu bewahren und so Charakter zu beweisen. Goffman vertritt die These, dass moderne Gesellschaften nur selten Gelegenheit für diese Form der Auseinandersetzung bieten.
Greift nun eine erwachsene Person in das Streitgespräch ein, so verändert dies den für Kinder natürlichen Konfliktverlauf und zwingt diesen eventuell sogar in die ’normalen erwachsenen‘ Strukturen. Eine Intervention läuft der eigentlichen Funktion des Konfliktes zuwider – es wird auf der falschen Interaktionsebene gehandelt.(2) Nach Goodwin empfinden Kinder daher ein Eingreifen von Erwachsenen häufig als unnötig. Sie hält für die „Maple Street Children“ fest: „Children state that the intervention of adults in their disputes is unnecessary“ (S. 156). Ein Kind äußert sich explizit zu dieser Frage:
„That stupid Mr. Dan gonna come up there and say (0.4) „Y’all better come on and shake hands.“ Don’t mean nothin’ cuz we be playin’ together next day anyway“ (156).
Die Interaktionen der Jungen sind somit – und damit möchte ich diese Ausführungen abschließen – wie folgt gekennzeichnet: Die Jungen gestalten die Gesprächsstruktur häufig hierarchisierend. Sie grenzen sich durch Vergleiche gegeneinander und als Gruppe gegenüber anderen (jüngeren Kindern, Mädchen) ab. Dennoch ist der Umgang der Jungen untereinander von gegenseitiger Wertschätzung geprägt: Sie sorgen für eine gleichberechtigte Gesprächsteilnahme und grenzen auch nach Konfliktsituationen keinen aus.
In der gemeinsamen Interaktion aktualisieren die Jungen Geschlecht als Klassifikations- und Strukturkategorie. Sie beschreiben in Erzählungen über den Schulalltag Aktivitäten der Grenzziehung zwischen den Geschlechtern. In einem Beispiel entwerfen sie ein Konzept überlegener Männlichkeit. Geschichten über erlebte Ungerechtigkeiten lassen auf ein Muster schließen, das Mädchen als Verursacherinnen von ungerechtfertigter Behandlung durch Lehrende entwirft.
Fußnoten
(1) Vgl. Goodwin 1990, 177.
(2) Für die Auswertung der Daten einer Gruppendiskussion bedeutet dies, dass den verschiedenen Funktionen einer Gesprächssequenz ein besonderes Augenmerk gelten muss. Es muss verhindert werden, vorschnell ‚gewohnte‘ Zuordnungen zu Sequenzen zu ermitteln.
Literatur
Goffman, Erving: Interaktionsrituale. Frankfurt a. M. 1971.
Goodwin, Marjorie: He-Said-She-Said: Talk as Social Organization among Black Children. Bloomington 1990.
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