Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Interviews mit Lehrerinnen – Fehleranalyse eines Schülertextes

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

In einem halbstandardisierten Interview wird der Frage nachgegangen, wie eine Grundschullehrerin orthographische Schreibungen begründet. Im gesamten Interview nimmt sie zu mehreren schriftsprachlichen Texten von Schülern Stellung.
Fehlschreibungen werden von der Lehrerin nicht linguistisch begründet, sondern sie argumentiert primär psychologisch, pädagogisch oder methodisch. Sie führt unter anderem an, dass Selbständigkeit und die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, mitentscheidend für die Rechtschreibleistung von Grundschülern sei. Darüber hinaus mache ein Kind ’seine Entwicklung‘ durch, eine individuelle, aber auch eine eher generelle, denn manche Regeln seien zu abstrakt für Kinder im Grundschulalter, und könnten deshalb noch nicht verstanden werden. Die (sprachwissenschaftliche) Fundierung einer Regel wird nicht erörtert.
Diese Konstrukte werden in diesem Artikel im Sinne einer Detailanalyse herausgearbeitet.

(…)

Berufsbiographie und Berufspraxis von Frau Braun

Frau Braun, die interviewte Lehrerin, hat von 1974 bis 1977 an einer Pädagogischen Hochschule in Baden-Württemberg das Lehramt für Grund- und Hauptschule studiert. Ihre Fächer waren Mathematik und Sport. 1978 begann Frau Braun ihr Referendariat.
Sie bekommt 1979 ihr erstes Kind und bleibt ein halbes Jahr zuhause. Danach arbeitet sie für ein halbes Jahr als Schwangerschaftsvertretung. Dann folgt das zweite Kind. Dann bleibt sie zwölf Jahre zuhause. Ihre Lehrerinnentätigkeit nimmt sie 1992 wieder auf. In dieser Zeit (1992 bis 2003) wird das dritte Kind geboren.
1994 hat Frau Braun erstmals eine erste Klasse als Klassenlehrerin unterrichtet. Seit dieser Zeit unterrichtet sie in ihren Klassen auch fachfremd Deutsch. Das Fach Deutsch hat sie übernommen, weil sie als Klassenlehrerin möglichst viele Stunden in ihrer Klasse sein wollte. Mittlerweile, so sagt sie, „mache ich es gerne“ – gemeint ist das Unterrichten im Anfangsunterricht Deutsch.
Zum Zeitpunkt des Interviews (2003) hat Frau Braun eine zweite Klasse einer Kollegin übernommen. Sie hat bereits zwei Mal eine erste Klasse unterrichtet und diese bis zum vierten Schuljahr geführt. Sie startet jetzt ihren dritten ‚Durchgang‘. Jedes Mal hat sie mit einer Fibel gearbeitet. Die Arbeit mit dem Sprachbuch impliziert, dass die Lehrerinnen in ihrem Unterricht ‚geübte Diktate’ schreiben. [1] Frau Braun unterrichtet 19 Stunden an der Schule. In der Klasse sind 23 Schülerinnen.

‚Fachfremd‘ unterrichten

In der folgenden Interviewpassage thematisiere ich eine weitere Schreibung des Schülertextes.

Hier ist die Tatsache bemerkenswert, dass, obwohl Frau Braun eine Erklärung auf meine Nachfrage anbietet, sie doch erneut anführt, dass sie sich das nicht erklären könne (463). Sie hat im Laufe des Interviews mehrfach darauf hingewiesen, dass sie keine ‚Fachfrau‘ sei. An anderer Stelle formuliert sie dieses Argumentationsmuster aus:

Frau Braun betont, dass sie sich ‚bemüht‘. Dieses Bemühen drückt sich unter anderem darin aus, im Duden und Lexikon nachzuschlagen und an Fortbildungen teilzunehmen. Fortbildungen sind an anderer Stelle Thema im Interview. Es handelte sich dabei um Fortbildungen zu folgenden Themenbereichen: Methoden für den Anfangsunterricht, Kinesiologie, ganzheitliches Unterrichten (Freiarbeit) und Lernschwierigkeiten (LRS). Wegen ihrer geringen Erfahrung setzt sie die Fibel ein:



Frau Braun begründet den Fibeleinsatz mit mangelnder Erfahrung. Zugleich wird aber mehrfach im Interview auf den großen Stellenwert der eigenen Erfahrung hingewiesen. Wenn sie etwas neu gelernt hat oder ihren Unterricht umgestellt hat, dann aufgrund ihrer eigenen Erfahrung. Im Folgenden dazu einige Textstellen aus dem Interview.


Von Frau Braun sind im Laufe des Interviews zwei Buchtitel genannt. Ein Buch zum Thema Wahrnehmungsstörung, das andere zu Legasthenie. Frau Braun gibt an, regelmäßig die Grundschulmagazine des Westermann Verlags sowie eine Reihe von Jürgen Reichen zum Werkstattunterricht zu lesen. Ich möchte nochmal den Zusammenhang in der Argumentation von Frau Braun zwischen der Erfahrung und der Aussage, keine Fachfrau zu sein, herausstellen. Sie expliziert, dass sie fast ausschließlich durch Erfahrung gelernt und so ihr Know-how im Fach Deutsch aufgebaut und erweitert hat. Erfahrung ist für Frau Braun die Art und Weise, sich neues Wissen anzueignen. Frau Braun stellt fest, dass die fachliche Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule in dieser Hinsicht nichts leistet:

Frau Braun spricht von sich selbst nicht als Fachfrau. Sie macht aber Aussagen darüber, wen sie als Fachfrau ansieht.

Die Ausbildung macht eine Fachfrau zu einer Fachfrau. Die Ausbildung hat aber zugleich wenig Nutzen für die Praxis, wie sie an anderer Stelle (siehe oben, 200) äußert. Hier wird ein Widerspruch deutlich, der von Frau Braun im Interview nicht aufgelöst wird.

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