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Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

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Zwei Studentinnen begannen sich im Seminar dafür zu interessieren, in welcher Weise sich die Beziehungen, die zwischen Lehrern und ihren guten Schülern bestehen, von jenen Beziehungen unterscheiden, die zwischen Lehrern und ihren schlechten Schülern auszumachen sind. Ihre Forschungsfrage präzisierten sie folgendermaßen:

Welchen Einfluss hat der Schulerfolg in einem konkreten Unterrichtsgegenstand auf die Beziehung zwischen Lehrerln und klassenbester bzw. klassenschlechtester Schülerln? Worauf könnte dieser Einfluss förderliche oder hemmende Wirkung zeigen?
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Obgleich die Studierenden auf ein bestimmtes Ergebnis ihrer Untersuchung keineswegs fixiert waren, gingen sie doch von der ebenso undifferenzierten wie umfassenden Erwartung aus, dass schlechter Schulerfolg die Entstehung oder Festigung einer wenig hilfreichen Lehrer-Schüler-Beziehung nach sich zieht. Dagegen, so nahmen sie an, würde guter Schulerfolg zur Entstehung oder Festigung einer generell förderlichen Lehrer-Schüler-Beziehung führen – förderlich für das Interesse der leistungsstarken Schüler am jeweiligen Unterrichtsgegenstand; förderlich für die Wertschätzung, die Lehrer und gute Schüler einander entgegenbringen; förderlich für beider Selbstwertgefühl und Selbstkonzept; und förderlich für die Wahrnehmung der jeweils anderen Person als jemandem, der global als angenehm erlebt wird. Ausgewählte Passagen aus den Beobachtungsprotokollen der Studentin, die ihre Aufmerksamkeit primär auf Johanna gelenkt hatte, lassen exemplarisch erkennen, in welcher Weise das Interaktionsgeschehen, das beobachtet werden konnte, Interpretationen und Einschätzungen nahe legte, die sich vor allem von den letztgenannten Erwartungen der Studentinnen unterschieden.
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Das Gymnasium, in dem die Beobachtungen durchgeführt wurden, befindet sich im ländlichen Raum. Die Studentinnen berichten, dass die Schüler und Schülerinnen dem Unterricht weitgehend konzentriert und ruhig folgten, besondere disziplinäre Schwierigkeiten waren weder auszumachen noch Gegenstand des Gesprächs mit der Lehrerin.
Die Lehrerin wird von beiden interviewten Schülern als engagiert und geduldig beschrieben, beide attestieren ihr, gut erklären zu können. Die Aussagen der Schüler deckten sich damit, dass die Studentinnen während des Beobachtens den Eindruck gewannen, dass die Lehrerin gut strukturiert vorträgt und von den Schülerinnen und Schülern der Klasse geschätzt wird. Die klassenbeste Schülerin Johanna wirkt mit ihren vierzehn Jahren – im Vergleich zu den anderen Schülerinnen – etwas lieblos gekleidet. Sie trägt eine rote Hose und ein grünes Sweatshirt, ihre dunklen Haare hat sie nachlässig hinter dem Kopf zusammengebunden.

(aus dem ersten Beobachtungsprotokoll)

Als die Studentin, die sich auf Johanna konzentriert, mit ihrer Beobachtung beginnt, wirkt Johanna angespannt. Die Studentin schreibt:

„In der großen Pause mache ich die erste Bekanntschaft mit Johanna. Sie läuft am Gang der Lehrerin nervös hinterher und fragt mit einer eher leisen aber sicheren Stimme: ‚Frau Professor, haben sie schon die Schularbeit angeschaut?’ Die Lehrerin entgegnet ihr mit einem Lächeln, gibt aber sonst keinen Kommentar. Johanna versucht weiter, etwas zu erfahren, und unruhig herumhüpfend sagt sie: ‚So viel ich weiß, hab’ ich eh alles richtig.’ Die Lehrerin beachtet sie aber nicht weiter. Die Stunde in der 4d beginnt.“

Als wir im Seminar nach der Lektüre des gesamten ersten Beobachtungsprotokolls diesen ersten Textausschnitt genauer besprachen, gewannen wir den Eindruck, dass Johanna noch vor dem Beginn des Unterrichts eine intime Situation mit der Lehrerin herzustellen versucht, um – unbeobachtet von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern – eine Information über die Benotung ihrer Schularbeit zu erhalten. Sie stellt eine präzise Frage, erhält aber nur ein Lächeln zur Antwort. Dies scheint die Anspannung und Nervosität Johannas zu steigern; doch verliert sie die Möglichkeit des Insistierens in einer intimen Zweier-Situation, als die Lehrerin ihre Position als Lehrerin in der Klasse einnimmt und mit dem Unterricht beginnt.

Zweierlei sticht ins Auge: (1.) Johanna erlebt sich in einer Position der Unterlegenheit und Abhängigkeit, während sie die lächelnde Lehrerin als ihr überlegen wahrnimmt, die Johanna im Ungewissen und somit zappeln lässt. (2.) Johanna hat ein starkes Verlangen danach, bestätigt zu bekommen, dass sie eine gute, ja sehr gute Schülerin ist. Als ihr die Lehrerin diese Bestätigung verwehrt, scheint sie ihr mit der Bemerkung “ So viel ich weiß, hab’ ich eh alles richtig.“ doch einen entsprechenden Hinweis entlocken, sich zugleich aber auch selbst bestätigen zu wollen, dass sie in Mathematik geradezu unüberbietbar gut ist.
Diese beiden Themenbereiche, so ist weiteren Beobachtungsausschnitten zu entnehmen, beschäftigen Johanna und ihre Lehrerin nicht nur zu Beginn dieser einen Unterrichtsstunde. Denn nachdem die Lehrerin kurz die beiden Studentinnen als angehende Pädagoginnen vorgestellt hat, die hier sind, um den schulischen Alltag besser kennenzulernen; und nachdem die Lehrerin Franz mitgeteilt hat, dass seine Schularbeitsleistung nicht genügend war, beginnt sie damit, die Schularbeitsbeispiele mit der Klasse durchzurechnen.

(Anm.: Die Beobachtungsprotokolle sind so deskriptiv wie möglich zu verfassen. Passagen, die einen deutlich interpretierenden Charakter haben, und Passagen, welche Eindrücke oder Kommentare der Beobachterinnen wiedergeben, werden kursiv gesetzt.)

„Als die Lehrerin dann mit der Schularbeitsverbesserung an der Tafel weitermacht, meldet sich Johanna sofort willig mit einem Handzeichen (sie zeigt auf), um die Beispiele an der Tafel vorrechnen zu können. Sie wird allerdings nicht drangenommen, was sie gelassen zur Kenntnis nimmt. Ihr Gesichtsausdruck wirkt sehr interessiert, doch verrät er weiters nicht allzu viel über etwaige Gefühlsregungen.
Obwohl ohnehin bereits ein Schüler bei der Tafel steht, zeigt Johanna nach wie vor auf (,ständig abrufbereit’). Nun hat sie die Hand heruntergenommen (anscheinend nur zur Entlastung, denn schon in der nächsten Minute ist die Hand wieder oben, obwohl noch immer der selbe Schüler am selben Beispiel rechnet). Sie sitzt gespannt hinten und schaut, was ihr Klassenkamerad an der Tafel rechnet. Sie interessiert sich zu diesem Zeitpunkt anscheinend überhaupt nicht für das restliche Geschehen (Tuscheleien, mich und meine Kollegin …) in der Klasse.
Noch bevor die Lehrerin zur Verbesserung des nächsten Beispiels an der Tafel aufruft, hat Johanna schon wieder die Hand oben und versucht, drangenommen zu werden. Die Schüler schreien: ,Johanna, du worst jo eh scho!’ [,Johanna, du warst ohnehin schon dran!’] Die Lehrerin wiederholt das von den Schülern Gesagte. Johanna zeigt wieder keine Gefühlsäußerung und greift geheim zu ihrer Semmel, um ein paar Bissen davon zu machen. Die Hand hat sie nun schon die ganze Zeit bei ihrem Mund und kaut an ihren Fingernägeln. Sie tritt nicht in Kontakt zu ihren Sitznachbarn.
Der Schüler, der gerade an der Tafel steht und verzweifelt versucht, das Beispiel zu lösen, dreht sich hilfesuchend um und Johanna gibt ihm ein Zeichen (mit nach oben gestelltem Daumen), verbunden mit einem freundlichen Lächeln, mit dem sie ihrem Kameraden anscheinend zu verstehen gibt, dass es schon richtig so ist, wie er das Beispiel rechnet.“

Auch in dieser Unterrichtssequenz wirkt Johanna angespannt und begierig danach, sich als ausgezeichnete Schülerin bestätigt zu finden. Doch die Lehrerin lässt wiederum keine Situation entstehen, in der Johannas Begierde gestillt werden könnte: Johanna, die offensichtlich schon in der Stunde zuvor an der Tafel gerechnet hatte, wird von der Lehrerin trotz Aufzeigens nicht aufgerufen. Stattdessen wird Johanna von den Mitschülern und Mitschülerinnen, aber auch von der Lehrerin zurechtgewiesen – und muss einmal mehr zur Kenntnis nehmen, wie abhängig sie von den Entscheidungen der Lehrerin ist, die ihr trotz Verlangens keine Möglichkeit einräumt, ihr Können unter Beweis zu stellen.
Es dürfte daher kein Zufall sein, dass sich Johanna just nach den Zurechtweisungen, die sie erfahren muss, selbst etwas Gutes tut, indem sie sich erlaubt, von ihrer Semmel abzubeißen. Ihre Anspannung lässt freilich erst nach, als sie gegen Ende der Sequenz doch eine Möglichkeit findet ihr Können zu zeigen: Indem sie dem Schüler an der Tafel öffentlich sichtbar bestätigt, dass er richtig gerechnet hat, kann sie sich nicht nur als hilfreich, sondern auch als kompetent erleben – und sich dergestalt auch vor der Klasse präsentieren. Damit schafft sie sich eine Situation, die es ihr erlaubt, sich als erstklassige Mathematikerin unabhängig davon zu erfahren, ob sie von der Lehrerin aufgerufen wird oder ob sie von der Lehrerin Auskunft über ihre Schularbeit erhält.
Das Erleben von Abhängigkeit und Hilflosigkeit, das sie ihrer Lehrerin gegenüber zunächst empfunden haben dürfte, scheint damit in den Hintergrund zu treten und vordergründigen Gefühlen der Stärke, Kompetenz und Überlegenheit Platz zu machen. Und Letzteres erfährt gleich darauf eine nochmalige Steigerung, als Johanna vernimmt, dass sie von einer Mitschülerin kritisiert wird:

„Die Lehrerin fragt nun bei dem, der an der Tafel steht, nach. Sie will wissen, wie ein Bruch gekürzt wird. Johanna lächelt still vor sich hin, was auch immer das bedeuten mag. Plötzlich flüstert ein sich nicht am Unterricht beteiligendes Mädchen von vorne: ‚Johanna, mach dir einen g’scheiten Zopf!’ Johanna verdreht die Augen und beginnt sich die Haare zu richten. Dann blickt sie wieder zu der anderen hin und schaut fragend, ob es passt. Obwohl sie anscheinend nicht die ganze Zeit über zugehört hat, macht sie die Lehrerin plötzlich auf einen Fehler auf der Tafel aufmerksam. Die Lehrerin bedankt sich höflich für den ‚wichtigen Hinweis’.
Johanna knabbert wieder an ihrer Semmel. Nun lehnt sie schräg am Tisch, den rechten Ellbogen aufgestützt, ihr Kinn haltend Dann gibt sie wieder ein Urteil über das, was an der Tafel gerechnet wird, ab: ‚So hob i’s a.’ [,So habe ich es auch.’]
Die Lehrerin sagt darauf nur: ‚So host as a?!’ [,So hast du es auch?’] Plötzlich schreit ein Mädchen, auf einen anderen Aspekt des Mathematikbeispiels Bezug nehmend, fragend nach hinten: ‚Johanna, host du des eh a so?’ [,Johanna, hast du das auch so?’] Und schon wird die nächste Frage an Johanna gerichtet. Die Schüler wenden sich auf einmal öfter an Johanna als an die Lehrerin.“

Es ist beachtlich, welche Dynamik dieser Situation inhärent ist: Johanna, die einen Zustand der Zufriedenheit erreicht hat, erfährt zunächst Kritik. Sie sieht sich gedrängt, der Aufforderung, ihr Haar zu richten, unwillig Folge zu leisten. Doch braucht sie sich nicht allzu lang in der Position der Unterlegenen zu erleben, an der etwas ausgesetzt wird; denn sie verkehrt die Situation blitzschnell in ihr Gegenteil: Sie wird zur Kritikerin und demonstriert, dass ihr schneller als der Lehrerin auffällt, wenn ein Fehler gemacht wird – und zwar selbst dann, wenn Johanna mit ihrer Frisur und somit mit anderem beschäftigt ist. Sie belehrt ihre Lehrerin, erhält dies von der Lehrerin als angemessen bestätigt und kann sich damit der Lehrerin überlegen fühlen.
Johanna entspannt sich und braucht nicht mehr viel zu tun, um zur Autorität und Auskunftsperson Nummer eins zu werden: Ein selbstsicher geäußertes „So hob i’s a.“ reicht, um von der Lehrerin eine Rückfrage zu vernehmen und damit eine Phase zu eröffnen, in der sich die Schülerinnen und Schüler bei Johanna die Bestätigung darüber holen, ob sie bei der Schularbeit richtig gerechnet haben oder nicht.

Wie anders ist die Situation nun im Vergleich zu jener am Stundenbeginn: War Johanna zunächst begierig, bestätigt zu bekommen, wie gut sie in Mathematik ist, so kann sie nun erfahren, dass ihr in geradezu demonstrativer Weise nicht nur von den Kolleginnen und Kollegen, sondern auch von der Lehrerin mathematische Kompetenz zugesprochen wird. Befand sich Johanna zunächst in einer Situation, in der sie der Lehrerin gegenüber Gefühle der Unterlegenheit und unbefriedigenden Abhängigkeit verspürte, so kann sie nun Überlegenheit und Stärke verspüren und erleben, dass sie auf das gewährende Wohlwollen der Lehrerin keineswegs angewiesen ist, um bestätigt zu erhalten, dass sie in Mathematik die Beste ist. Und war es zunächst Johanna, die von der Lehrerin wissen wollte, ob sie die Schularbeitsbeispiele richtig gerechnet hat, so kann sie erleben, dass es die Mitschülerinnen und Mitschüler sind, die sich nun mit analogen Fragen an Johanna wenden und ihr im Moment mehr fachliche Autorität zusprechen als der Lehrerin.

(aus dem zweiten Beobachtungsprotokoll)

Im Seminar waren die Studierenden beeindruckt von der Art und Weise, in der es Johanna gelang, sich aus der Situation zu befreien, die zu Stundenbeginn so schmerzlich für sie war. Die Studierenden waren aber auch mit der Frage beschäftigt, wie Johannas Lehrerin dies erlebt haben mag und ob es ihrem Wunsch entspricht, wenn Johanna im Verlauf einer Stunde in solch eine zentrale Position gerät. Die Besprechung des Protokolls der zweiten Beobachtung erlaubte es, dazu einige Überlegungen anzustellen und manche Eindrücke zu vertiefen, die im Zuge der Besprechung des ersten Protokolls gewonnen worden waren.
Um dies zu verdeutlichen, wähle ich einen ersten Protokollausschnitt aus, der mit einer bereits bekannten Situation beginnt. Johanna zeigt auf, wird aber nicht drangenommen:

„Die Lehrerin will etwas von der Schülerin an der Tafel wissen. Johanna zeigt auf und sagt zweimal hintereinander: ,I waß, i waß!!!’ [,Ich weiß es, ich weiß es!!!’] Sie bekommt keine Erwiderung, worauf sie die Hand herunter nimmt und beginnt, etwas in ihrem Mathematikbuch zu suchen. Dann hebt sie wieder die Hand. Zur selben Zeit dreht sie sich zu ihrer Hinterfrau um und beginnt mit ihr zu tratschen. Sie dreht sich dann wieder nach vorne und schaut gespannt, mit gehobenen Augenbrauen, zur Tafel. Johanna nimmt ihre Füße auf den Sessel und sitzt nun im ,Türkensitz’. Der Sitznachbar belästigt Johanna, sie sagt: ‚Loss mi!’ [Lass mich!’] Johanna dreht sich nach hinten, lacht ihre Hinterfrau kommentarlos an und kaut an ihren Fingernägeln. Sie dreht sich wieder nach vorne und schaut gespannt zur Tafel. Sie hat dabei immer den selben Gesichtsausdruck, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Augenbrauen etwas gehoben und die Oberlippe leicht über die Unterlippe gestülpt. Nun reibt sie sich die Augen und stützt ihr Kinn auf der Hand auf.
Die Schülerin an der Tafel hat ein Problem. Johanna redet mit sich selbst über das, was an der Tafel gerechnet wird. Sie zeigt auf, ohne dass die Lehrerin eine Frage an die Klasse gestellt hat. Dabei sagt sie halblaut: ‚Lisi! Lisi!’, als ob sie ihr etwas zuflüstern wollte! (Lisi ist die Schülerin an der Tafel.) Die Lehrerin stellt weitere Fragen an die Schülerin Lisi. Johanna zeigt wieder auf. Sie hat eine Füllfeder in ihrer Hand und spielt mit derselben, als sie ihren Blick auf die Tafel gerichtet hat. Plötzlich schreit Johanna nach vorne: ‚Nimm die untern zwei x und multiplizier’s mit dem Nenner!’ Die Lehrerin ermahnt Johanna: ,Johanna!’ Ein Bub ermahnt Johanna ebenfalls und schreit: ,Ruhe!’
Johanna nimmt beide Meldungen hin, ohne ihren Gesichtsausdruck zu verändern, und rechnet still weiter.“

Johanna ist abermals angespannt und bettelt die Lehrerin geradezu darum an, ihr die Möglichkeit zu geben, als kompetente, wissende Schülerin in Erscheinung treten zu dürfen. Als ihr die Lehrerin dazu wiederum keine Gelegenheit einräumt, beginnt Johanna bald darauf den Umstand zu nutzen, dass die Schülerin an der Tafel die Fragen der Lehrerin nicht beantworten kann. Dem Bild der „braven“ und „hilfreichen“ Schülerin zunächst treu bleibend, zeigt sie weiterhin auf und versucht die Aufmerksamkeit der Schülerin auf sich zu lenken, um sich einsagend als Wissende zeigen zu können. Doch als Johanna mit keiner dieser Strategien Erfolg hat, wird die Anspannung in ihr zu groß: Mit der Lehrerin und der Schülerin an der Tafel ungeduldig werdend, schreit sie eine Rechenanweisung nach vorne.
Es dürfte für Johanna befriedigend sein, in dieser Weise ihre innere Spannung gelindert, ihren Unmut geäußert zu haben und als Wissende in Erscheinung getreten zu sein; denn die Ermahnungen, die sie erhält, scheinen für Johanna in keinem Verhältnis zum Genuss zu stehen, den sie sich soeben verschafft hat.
Diese Ermahnungen bringen überdies zum Ausdruck, dass Johannas Verlangen, sich in der Klasse als wissend zu präsentieren, für Johannas Lehrerin mitunter auch ein Ärgernis darstellt – ein Umstand, der auf die aggressive Dimension hindeutet, die der Beziehung zwischen Johanna und ihrer Lehrerin innewohnt.
Diese aggressive Dimension war schon dem ersten Beobachtungsprotokoll zu entnehmen, als zum Ausdruck kam, wie sehr die Lehrerin gegen Ende der Stunde an die Seite gedrängt wurde, nachdem sie Johanna zu Beginn im Ungewissen und danach kommentarlos unbeachtet hatte lassen. Es ist interessant, dass solch eine „Verkehrung der Situation“ gegen Ende des zweiten Beobachtungsprotokolls ebenfalls auszumachen ist:

„Die Lehrerin verkündet das Stundenende, obwohl es noch nicht geläutet hat. Johannas Blick haftet immer noch an der Tafel. Dann rechnet sie in ihrem Heft weiter.
Die Lehrerin spricht von einer Überraschung, die sie in der kommenden Woche für ihre Schüler vorbereitet hätte. Johanna interessiert sich im Gegensatz zu ihren Kameraden überhaupt nicht für diese Überraschung. Sie rechnet und beteiligt sich nicht am Lehrer-Schüler-Gespräch. Nun scheint sie ihre Rechnung doch beendet zu haben, denn sie spielt jetzt mit einem Stück Papier und sitzt schräg auf ihrem Sessel.
Sie beginnt Zuckerl auszuteilen. Die Lehrerin sieht das und ermahnt Johanna: ‚In der Pause bitte!’ Alle schreien: ‚Johanna, ich bitte, gib mir wos!’ Johanna hat ein Zuckerl in der Hand und kaut an den Fingernägeln der anderen Hand. Im Gespräch zwischen der Lehrerin und dem Rest der Klasse geht es darum, dass Mathematik die ganze nächste Woche über ausfallen wird! Johanna sagt: Geh bitte, des foit jo immer aus!’ [Geh bitte, das fällt ja immer aus!]“

Als die Lehrerin mit dem Hinweis auf eine „Überraschung“ die Neugierde der Schülerinnen und Schüler wecken will, zeigt Johanna zunächst Desinteresse – um die Spannung, welche die Lehrerin erfolgreich aufgebaut hat, dann innerhalb weniger Sekunden zu zerstören. Ohne Erfolg versucht die Lehrerin dies zu unterbinden. Denn letztlich „siegt“ Johanna: Sie demonstriert der Lehrerin, der Klasse und sich selbst, dass sie auch im Bereiten von Überraschungen die Bessere ist; denn die von Johanna verteilten Zuckerln finden plötzlich mehr Interesse als die offiziellen Mitteilungen. Als die Lehrerin die Aufmerksamkeit einiger Schüler doch mit dem Hinweis darauf halten kann, dass der Mathematik-Unterricht in der nächsten Woche ausfallen wird, ruft dies bei Johanna laute Kritik hervor. Wie gegen Ende der letzten Stunde, so scheint sich auch nun das Lehrer-Schüler-Verhältnis für kurze Zeit umzukehren: Als wäre die Lehrerin Johannas Schülerin, wird sie mit den Worten gerügt: „Geh bitte, des foit jo immer aus!“

Interpretation (zusammenfassend)

Ein Teufelskreis?
Spätestens zu jenem Zeitpunkt, an dem im Seminar die eben erwähnten Protokollausschnitte besprochen wurden, dominierte im Seminar die Auffassung, dass die Ausgangserwartungen der Studierenden unzutreffend waren: Die Klassenbeste und die Lehrerin erleben einander keineswegs als umfassend angenehm; und die Art, in der sie einander begegnen, scheint auch dem Selbstwertgefühl beider nicht bloß zuträglich zu sein.
Denn der Beziehung, die zwischen Klassenbester und Lehrerin besteht, scheint auch ein klar ausmachbares Moment der Rivalität inhärent zu sein, das beide veranlasst, nach Situationen zu suchen, die es jeweils einer erlaubt, sich der anderen überlegen zu fühlen.
Dieses Ringen um Dominanz scheint – zumindest auf Seiten Johannas – in einem Selbst-Gefühl der Unsicherheit zu gründen, das Johanna bewusst nicht wahrzunehmen braucht, wenn sie immer wieder bestätigt bekommt, dass sie – zumindest in Mathematik – unüberbietbar gut, klug und erfolgreich ist (Adler1912). Eben diese Bestätigung kann Johanna aber oftmals nicht erhalten; denn die Lehrerin verwehrt ihr immer wieder die Möglichkeit, zu brillieren und Sicherheit gebende Bestätigung zu erfahren.
Letzteres dürfte zweierlei nach sich ziehen: Das Verhalten der Lehrerin trägt dazu bei, dass Johannas Gefühl der Unsicherheit nochmals eine Steigerung erfährt. Und es ist dazu angetan, auf Seiten Johannas auch das Gefühl zu intensivieren, von der Lehrerin in schmerzlicher Weise abhängig zu sein.
In solchen Situationen dürfte sich Johanna erst recht dazu gedrängt fühlen, sich in der Gruppensituation der Schulklasse (vgl. Finger-Trescher 1994) als ausgezeichnete Schülerin präsentieren und erleben zu können, die es überdies schafft, Situationen herbeizuführen, in denen sie den Eindruck gewinnen kann, sogar der Lehrerin überlegen zu sein. Dieses Erleben von Überlegenheit scheint dem Selbstwertgefühl, aber auch dem Verlangen Johannas zuträglich zu sein, an der Lehrerin gleichsam Rache dafür zu üben, dass ihr diese so wenig Gelegenheit gibt, sich als ausgezeichnete Schülerin bestätigt zu sehen.
Diesem Verlangen nach Rache entspricht durchaus der Umstand, dass vor allem gegen Ende der beobachteten Stunden Situationen entstehen, in denen sich die Lehrerin zur Seite gedrängt fühlt. Sie scheint in die konfliktreiche Beziehung zu Johanna selbst so verstrickt zu sein, dass es ihr kaum gelingt, Johannas Verlangen nach Bestätigung zu mildern oder ihren Drang zu lindern, sich überlegen zu fühlen. Im Gegenteil: Johannas Lehrerin scheint eher das ihre dazu beizutragen, dass die skizzierten Spannungen stabil bleiben; zumal sie sich dieser Spannungen auch kaum bewusst sein dürfte. Darauf weisen nicht zuletzt manche Passagen des Interviews hin, das mit der Lehrerin geführt wurde; denn in diesem zeichnete sie ein nahezu idealisiertes Bild von Johanna, während sie über Themen, die von Rivalität und Abwertung handelten, nur in Verbindung mit anderen Schülern und Lehrern zu sprechen vermochte.

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Gerade die Interviews mit Johanna und ihrer Lehrerin machten allerdings auch deutlich, dass die skizzierten Spannungen nicht überbewertet werden dürfen: Den Interviews ist zu entnehmen, dass beide einander viel Achtung und Wertschätzung entgegenbringen; und längere Interviewpassagen erwecken den nachhaltigen Eindruck, dass beide einander mögen. Dennoch eröffnet die genaue Besprechung der Beobachtungsprotokolle differenzierte Einblicke in die Dynamik schulischer Beziehungen, die einem im Regelfall verschlossen bleiben, wenn man sich bloß auf die Durchführung von Interviews beschränkt.

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