Falldarstellung
Seminarbericht einer Studentin zur Hospitation in einer Grundschulklasse:
In einem mit Gruppentischen und Arbeitsecken ausgestatteten Klassenraum einer privaten, dem Leitbild der Kindorientierung verpflichteten Grundschule, findet Freiarbeit statt. Aber ein Schüler, R., hat einen festen Platz. Auf Anweisung der Lehrerin, Frau Z., muss er mit dem Rücken zur Klasse allein an einem Tisch sitzen, so dass sein Blick sich zur Wand richtet. Die hospitierende Studentin hört Frau Z., an diesen Schüler gerichtet, sagen: „Du bist nur hier in unsere Schule gekommen, weil Dich Deine alte Schule nicht mehr haben wollte“. Sie erfährt, dass R. erst im Laufe des Schuljahres von der staatlichen Grundschule an die Privatschule gewechselt ist. Sie empfindet Frau Z.s Handeln der Klasse gegenüber insgesamt als freundlich, nur R. gegenüber als sehr abweisend und herabsetzend.
Theoriegeleitete Interpretation:
Auf der Suche nach diese Fallgeschichte erhellenden Theorien bieten sich anerkennungstheoretische und selbsttheoretische Ansätze an. Der Schüler R. befindet sich in einer Schulsituation, in der das Vorenthalten von Anerkennung verbunden mit entwertender Zuschreibung verbal und gestisch inszeniert wird. Damit befindet er sich in einer durch explizite Diskriminierung verursachten existentiellen Mangelsituation (Todorov). Die Lehrerin Frau Z. handelt gespalten zwischen widersprüchlichen Selbstanteilen dynamisch wechselnd, indem sie, während sie an einen Schüler ihre negativen, aggressiven Anteile adressiert, der restlichen Klasse gegenüber ihre Güte inszeniert (Hannover).
Literaturangaben:
Hannover, Bettina: Das dynamische Selbst. Die Kontextabhängigkeit selbstbezogenen Wissens. Bern, 1997.
Todorov, Tzvetan: Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie. Berlin, 1996.
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