Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Feldnotiz

Eine Lehramtsstudentin im Praktikum stellt im Unterricht einer jahrgangsgemischten Eingangsstufe eine Frage. Fast alle Kinder melden sich. Zahlreiche Arme und Finger strecken sich ihr immer weiter entgegen. Einige Kinder beugen sich so weit nach vorn, dass sie halb über dem Tisch hängen.

Mit verschiedenen Mitteln versuchen sie zusätzlich auf sich aufmerksam zu machen. Einige rufen nur ein lang gezogenes „biiitte“, andere argumentieren „ich war noch gar nicht“, weitere fordern „ein Mädchen, ein Mädchen“, andere entgegnen „immer Mädchen, jetzt muss ein Junge“ oder „nimm den Jonas“. Die Lehramtsstudentin zögert eine Weile, entscheidet sich dann mit einer – eine Entschuldigung andeutenden –, Geste und ruft ein Kind auf. Alle Arme fallen nun fast gleichzeitig nach unten, mehrfach begleitet von Signalen der Enttäuschung wie „och“ oder „ich komme nie dran“ oder „Immer die!“. Die Lehrerin, die neben mir (der Praktikumsbetreuerin aus der Universität) steht, wendet sich mir zu und sagt in gedämpftem Ton: „Alles kleine Egoisten hier. Das müssen die noch lernen.“

Hier muss ein – für Lehrpersonen – alltägliches Handlungsproblem im Grundschulunterricht gelöst werden: die Wortvergabe. Die Lehrerin beobachtet die (ihr vermutlich vertrauten) Entscheidungsschwierigkeiten der Praktikantin und das Verhalten der Kinder. Ihre Bemerkung verweist darauf, dass sie die Situation entwicklungstheoretisch deutet. Sie greift auf die Vorstellung zurück, dass ein notwendiger Entwicklungsschritt für viele Kinder dieser Klasse noch aussteht, nämlich zu lernen, zwischen der eigenen Perspektive und der der anderen Kinder zu unterscheiden. Auch die Handlungen der Lehrerin könnten dann aus deren Sicht betrachtet und ihre Entscheidungen möglicherweise besser akzeptiert werden.

Aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler sieht diese Situation vermutlich anders aus. Jedes einzelne Kind – so jedenfalls legt es die Beobachtungsprotokollierung nahe – verhält sich hier so, als ob es ausgewählt werden und seine Leistungen zeigen möchte. Das ist im Rahmen der Schule, in der Leistungssituationen geschaffen und Leistungen bewertet werden, ein sinnvolles, an den schulischen Normen orientiertes Handeln. Wenn man das Verhalten der Kinder in dieser Form als ein angemessenes Verhalten versteht, ist es kaum noch als nur und einfach „egoistisch“ zu beschreiben.

Für die Kinder sind mit der Auswahl und Wortvergabe darüber hinaus häufig Statusfragen, Anerkennungsprobleme und Partizipationswünsche verbunden. Die von der Lehrperson getroffene Auswahl muss nicht nur akzeptiert, sondern zudem auf der Unterrichtsbühne bewältigt werden. Diese Sichtweise lässt auch das kollektive Handeln der Kinder dieser Schulklasse in der Situation der Wortvergabe durch die Lehrperson in einem anderen Licht erscheinen. Das kollektive peerkulturelle Handeln (Arme weit nach vorne stecken, „Och“ im Chor) kann als gemeinschaftliche Aufführung des Verlangens nach dem Wort und der kollektiven Enttäuschung darüber, es nicht erhalten zu haben, betrachtet werden.

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