Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

1. Mädchen wollen unter sich bleiben

Das zweite Beispiel stammt aus der jungendominanten Klasse1, die im 8. Jahrgang über einige Wochen eine Einführung in die Arbeit mit dem Computer erhielt. Der Unterricht sollte mit der Hälfte der Klasse durchgeführt werden, während die andere Hälfte zur gleichen Zeit Deutschunterricht erhielt. Kurz vor Beginn der Unterrichtseinheit entstand folgende Protokollaufzeichnung:

Die eine Gruppe soll für zwei Stunden in der Woche ein Vierteljahr lang informationstechnische Grundbildung haben und die andere Deutsch im Wechsel. Achmed fragt, wie die Gruppen eingeteilt werden. Nathalie wirft ein: „Nach Alphabet.“ Sven meint: „Jungen und Mädchen getrennt.“ Frau Böttcher geht nicht darauf ein und führt aus: „Das haben wir schon beschlossen“ (Sie meint, sie und die Klassenlehrerin Frau Storm hätten die Zusammensetzung schon festgelegt). Sie erläutert dann ausführlich den Wechselmodus etc., ohne auf die Gruppenzusammensetzung einzugehen. Sie sagt, es ginge um das Thema Sexualität. Siegfried signalisiert Begeisterung. Sie sagt: „Moment! Es geht um sexuellen Missbrauch.“ Eine Weile später fragt Achmed noch mal danach, wie die Gruppenaufteilung aussieht. Die Lehrerin sagt: „Die Mädchen wollen zusammenbleiben und das werden sie auch.“ Sven meint süffisant: „Die Jungen auch.“ Die Lehrerin sagt entschieden: „Nee“, und stützt sich wohl darauf, dass dies bei der hohen Anzahl der Jungen nicht möglich sei. Sören: „Veith und Joachim kommen noch zu den Mädchen“. Sven sagt schimpfend etwas vor sich hin, von dem ich „Männerfeindlichkeit“ und „Rassismus“ aufschnappen kann. (Ad80902d)

Die Schülerinnen und Schüler wissen bereits, dass der Unterricht in Gruppen statt-finden wird. Auf die Frage von Achmed, wie die Gruppen aussehen werden, schlägt
Nathalie vor, nach dem Alphabet zu gehen. Sven dagegen glaubt, Mädchen und Jungen würden getrennt. Da die Schule in einer Reihe von Projekten sich der Geschlechterfrage u.a. durch Geschlechtertrennung annimmt, kommt Svens Vermutung wahrscheinlich aus der Kenntnis dieser Praxis. Die Lehrerin beantwortet zunächst weder Achmeds Frage noch geht sie auf die Vorschläge und Mutmaßungen ein, erklärt aber, der Teilungsmodus sei bereits beschlossene Sache. Stattdessen gibt sie bekannt, dass in dem parallelen Deutschunterricht das Thema Sexualität behandelt würde. Siegfrieds Begeisterung darüber wird von ihr sofort gedämpft, in dem sie präzisiert, es ginge um sexuellen Missbrauch. Warum sie dies unter das Thema Sexualität subsumiert, bleibt unklar. In jedem Fall bedeutet sie Siegfried, dass seine Begeisterung unangemessen ist. (Klar ist jedoch auch, dass bei dem Thema eine Geschlechtertrennung sinnvoll sein kann, allerdings im Interesse beider Geschlechtergruppen.)

Nachdem Achmed nach einer Weile erneut darauf insistiert, zu wissen, wie die Gruppen aussehen werden, bestätigt die Lehrerin, was Sven vermutet hatte, nämlich dass es zu einer weitgehenden Geschlechtertrennung kommen würde, indem eine Jungengruppe und eine gemischte Gruppe entstehen sollten. Sie gibt an, dies sei der Wunsch der Mädchen „Die Mädchen wollen zusammenbleiben und das werden sie auch“. Angesichts von Nathalies Vorschlag, die Gruppen nach Alphabet aufzuteilen, kann es wohl nicht der artikulierte Wunsch der Mädchen gewesen sein, sondern gibt ein ihnen von den Lehrerinnen unterstelltes Bedürfnis wieder. Die Jungen reagieren auf diese Begründung mit Widerstand und fordern nun ebenfalls, zusammen bleiben zu wollen was angesichts ihrer Überzahl nicht möglich ist. In der Konsequenz grenzen sie zwei Außenseiter Veith und Joachim durch symbolische Verweiblichung aus, da sie nicht zu den Jungen gehören, sondern zu den Mädchen kommen. So etablieren die Schüler männersolidarische Strukturen und markieren das Ganze zugleich als „männerfeindlich“ bzw. „rassistisch“, wodurch sie ihren hegemonialen Anspruch aufrecht zu erhalten versuchen. Auch hier konstruiert die Lehrerin die Mädchen als zu beschützend und ruft dadurch die männersolidarische Reaktion bei den Schülern hervor.

2. Dramatisierungen von Geschlecht beinhalten die Gefahr der Stereotypisierung

(sie dazu auch diesen Fall)

Rekapituliert man die aufgezeigten Beispiele noch einmal, so machen sie deutlich, dass ein dramatisierendes Verhalten dazu beitragen kann, die Geschlechterstereotype zu verstärken statt sie abzubauen. So beinhalten die Reaktionen der Lehrerinnen vor allem Defizitzuschreibungen: Jungen werden von ihnen als dominierend wahrgenommen, Mädchen als vor Jungen zu Schützende. Ein solcher Protektionismus bedeutet gegenüber den Mädchen durchaus Unterstellungen, die diese keineswegs mittragen. Die meisten Mädchen sehen sich sehr wohl in der Lage, mit Jungen umgehen zu können und fordern dies auch selbstbewusst ein. Gegenüber den Jungen lassen die Zuschreibungen diesen kaum eine andere Verhaltensoption offen, als durch die Ausgrenzung und symbolische Verweiblichung eine männersolidarische Jungengruppe zu konstruieren.

Für die Jungen wirken diese Zuschreibungen männlichkeitsverstärkend durch die Etablierung von männersolidarischen Strukturen im Sinne des hegemonialen Männlichkeitsmodells. Zugleich ist sie grenzüberschreitend und hierarchisch und verlässt somit das akzeptable Verhältnis von Erwachsenen zu Jugendlichen. Strukturell allerdings bietet die Gestaltung von Interaktionen als Grenzüberschreitung wiederum Annäherungen an Männlichkeitskonstruktionen.

Dramatisierungen der Differenzen erschweren durch die klare Unterscheidung der Geschlechter zum einen die Wahrnehmung der Differenzierungen innerhalb der Gendergruppen. Zum anderen erzwingen sie mindestens teilweise ein stereotypes doing gender durch die Schülerinnen und Schüler. Für Schüler kann dies widersprüchliche Anforderungen bedeuten: grob vereinfacht gesagt können sie sich entweder schulangemessen und damit unmännlich verhalten, oder sie verhalten sich gemäß den Anforderungen hegemonialer Männlichkeit, die wiederum mit den in der Schule gestellten Erwartungen nicht kompatibel ist. Für Mädchen heißt das vereinfacht, dass sie weder Zicke noch Barbie sein sollen.

Die Forderung nach Entdramatisierungen kann nun allerdings nicht bedeuten, zur vermeintlichen Geschlechtsneutralität zurück zu gehen. Auch wenn wir behaupten, keine Geschlechterunterschiede zu machen, alle gleich zu behandeln, sind wir sehr wohl in die alltäglichen doing gender Prozesse involviert. Auch auf diese Weise werden durchaus die „normalen“ Geschlechterbilder reproduziert. Pädagogisches Handeln wäre deshalb rückzubinden an Selbstreflexionen des eigenen doing gender. Solche Selbstreflexionen sind ohne Genderkompetenz also ein Wissen um die strukturellen Ungleichheiten, um sie stützende Geschlechterstereotype, um die institutionellen Reflexivitäten, die sich immer wieder selbst bestätigen nicht zu leisten. Deswegen ist eine Feldreflexion ebenso notwendig: d.h. die Frage danach, wie die Bedingungen sind, wo zeigen sich konkrete Benachteiligungen, bei Noten, bei der Fächerwahl, bei der Aufmerksamkeit.

Notwendig ist dafür ein Dreischritt. Zuerst Dramatisieren der Differenz, um die Bedeutung von Geschlecht konkret zu analysieren, in einem zweiten Schritt ausdifferenzieren, dass es nicht nur DIE Jungen und DIE Mädchen gibt, sondern eine Bandbreite von Heterogenitäten. Und zum dritten in der konkreten Interaktion stärker auf entdramatisierende Aspekte zu setzen.

Für den pädagogischen Umgang mit Mädchen halten wir vor allem den Verzicht auf
Protektionismus für wichtig, da dieser in den Aporien bisheriger Mädchenparteilichkeit verstrickt bleibt. Für den pädagogischen Umgang mit Jungen wäre es wichtig, Schule derart zu gestalten, dass Jungen in ihrer individuellen Suche jenseits von Defizitorientierungen oder Remaskulinisierungen unterstützt werden.

Dieses wird allerdings nicht funktionieren, wenn die tradierten Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit nicht ebenso hinterfragt werden wie die stereotypen Zuschreibungen. Die Schule sollte ein Ort der Erweiterung von Genderkompetenz für Jungen wie für Mädchen sein und ebenfalls für die dort tätigen professionellen Pädagoginnen. Gegen die bisherigen dramatisierenden Maßnahmen plädieren wir für eine deutlich stärkere Entdramatisierung. D.h. mehr Dramatisierung von Gender in den Köpfen und weniger Dramatisierung von Gender in den konkreten Interaktionen oder bei der Planung pädagogischer Interventionen.

Fußnote:

(1) Das Material der stammt aus ethnographischen, d.h. qualitativ beobachtenden Studien. In der einen Studie haben wir drei Gymnasialklassen über drei Schuljahre, nämlich das 7. bis 9. bzw. das 8. bis 10. im Unterricht begleitet. Zusätzlich wurden Interviews mit mehreren Lehrkräften geführt. Eine dieser Klassen war mit Zweidrittel Jungen und einem Drittel Mädchen jungendominant, eine zweite mit dem umgekehrten Verhältnis mädchendominant, die dritte ausgewogen zusammengesetzt. In der anderen Studie begleiten wir den 5. Jahrgang an einem sich selber als geschlechtergerecht verstehendem Gymnasium.

Wir werden uns im Folgenden auf die Sicht der Lehrkräfte konzentrieren. Die Lehrkräfte haben einen erheblichen Anteil an der Ausgestaltung des schulischen Alltags. Sie prägen die Geschlechterrelationen an ihrer jeweiligen Schule mit, indem sie einen wichtigen Anteil an dem haben, was Helsper u.a. mit dem Begriff der Schulkultur beschrieben. Die konkrete Schulkultur wird dabei als Aushandlungsprozess verstanden

1. von Allen an der Schule Beteiligten, d.h. Lehrkräften, SchülerInnen, Schulleitung und Eltern

2. zwischen institutioneller und individueller Ebene.

Bei den Lehrkräften existieren grob vereinfacht drei unterschiedliche Positionen: die einen, die ihren Unterricht für genderfrei halten, deswegen aber nicht weniger Anteil an der Konstruktion geschlechtlicher Stereotype haben, wie wir aus der Koedukationsdebatte wissen. Zum zweiten diejenigen, die eine klare Vorstellung von der Differenz zwischen Jungen und Mädchen haben und diese routiniert in ihren Unterricht einfließen lassen. Und zum dritten diejenigen, die sich für Geschlechtergerechtigkeit in der Schule engagieren und dies hauptsächlich durch Dramatisierungen der Differenz tun.

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