Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

1. We don’t want insulting questions

Im ersten Beispiel aus dem Englischunterricht in der mädchendominanten Klasse im 8. Jahrgang1 nutzen SchülerInnen eine von der Lehrerin vorgegebene sprachliche Übung dazu, sich gegenseitig wegen ihrer Frisuren zu necken. Die Lehrerin stellte den SchülerInnen die Aufgabe, sich zur Unterscheidung der Begriffe „since“ und „for“ gegenseitig aufzurufen und Fragen zu stellen. Im ethnographischen Protokoll zur Unterrichtsstunde heißt es weiter:

Nun ist Marianne dran. Sie sagt: „Knut“. Sie erntet Gelächter. Sie fragt: “How long do you have …”. Zuerst fragt sie die Lehrerin, was schreckliche Frisur auf Englisch heißt. Lehrerin: „Horrible hairdress“. Sie stellt nun an Knut die Frage: “How long do you have this horrible hairdress?” Wieder großes Gelächter. Knut ironisch: „I have this horrible hairstyle …“. Er setzt an, seine Nachbarin kommt ihm noch zuvor und sagt: „Halbes Jahr“. Knut nickt zustimmend und sagt: „For three months“. Er sagt: „Marianne“. Die Kids lachen und neugierige Spannung entsteht, was seine Rückfrage ist.

Er sagt: „Ich weiß nicht ob das jetzt richtig ist: Since when do you have look like a horse?“ Marianne, die einen langen Pferdeschwanz trägt, zuckt mit den Achseln, bevor sie jedoch irgendwie weiter reagieren kann, interveniert die Lehrerin. Sie schaut wieder zu Knut und sagt: „We don’t want insulting questions!“ Knut sagt, leicht ironisch: „Sie hat mich hier vorgeführt, so dass ich mich morgen nicht mehr in die Schule traue, und …“. Die Lehrerin ironisch: “Yes, I know, because you are so shy!” Einige fragen, was „shy“ bedeutet, die Lehrerin übersetzt es mit schüchtern. (Be80928d)

Marianne und Knut nutzen die Aufgabenstellung, um sich über die Geschlechtergrenzen hinweg zu necken, sehr zur Unterhaltung der MitschülerInnen wie das Lachen deutlich zeigt. Die Lehrerin hilft Marianne bei der Suche nach der richtigen Vokabel, mit der sie Knut durch eine kritisierende Frage große Aufmerksamkeit entgegenbringen kann. Knut geht auf gleicher spielerischer Ebene bleibend darauf ein und kontert anschließend ebenso. Knuts Beitrag jedoch wird von der Lehrerin reglementiert und unterbunden, ebenso wie seine ironische Beschwerde darüber.

Bezüglich der Geschlechterinteraktionen ist in dieser Protokollstelle interessant, dass Knut wegen seiner Fragestellung von der Lehrerin zurechtgewiesen wird, Marianne jedoch nicht, obwohl auch sie eine bloßstellende Frage formuliert hatte. Ja noch mehr, sie hat die neckende Interaktion sogar begonnen. Während der Junge von der Lehrerin wegen seiner aggressiven Frage diszipliniert wird, wird das Mädchen in Schutz genommen und erfährt zudem Unterstützung in ihrem eigenen Angriff gegen den Jungen. Am Ende ironisiert die Lehrerin Knuts Protest und unterstellt ihm, dass er nicht schüchtern sein könne und greift damit auf Geschlechterstereotye zurück. Dahinter nämlich – so unsere Interpretation – steht das Stereotyp, Mädchen müssten vor Jungen beschützt werden, weil Jungen aggressiv und nicht schüchtern sind.

2. Dramatisierungen von Geschlecht beinhalten die Gefahr der Stereotypisierung

(Siehe auch dazugehöriger Fall)

Rekapituliert man die aufgezeigten Beispiele noch einmal, so machen sie deutlich, dass ein dramatisierendes Verhalten dazu beitragen kann, die Geschlechterstereotype zu verstärken statt sie abzubauen. So beinhalten die Reaktionen der Lehrerinnen vor allem Defizitzuschreibungen: Jungen werden von ihnen als dominierend wahrgenommen, Mädchen als vor Jungen zu Schützende. Ein solcher Protektionismus bedeutet gegenüber den Mädchen durchaus Unterstellungen, die diese keineswegs mittragen. Die meisten Mädchen sehen sich sehr wohl in der Lage, mit Jungen umgehen zu können und fordern dies auch selbstbewusst ein. Gegenüber den Jungen lassen die Zuschreibungen diesen kaum eine andere Verhaltensoption offen, als durch die Ausgrenzung und symbolische Verweiblichung eine männersolidarische Jungengruppe zu konstruieren.

Für die Jungen wirken diese Zuschreibungen männlichkeitsverstärkend durch die Etablierung von männersolidarischen Strukturen im Sinne des hegemonialen Männlichkeitsmodells. Zugleich ist sie grenzüberschreitend und hierarchisch und verlässt somit das akzeptable Verhältnis von Erwachsenen zu Jugendlichen. Strukturell allerdings bietet die Gestaltung von Interaktionen als Grenzüberschreitung wiederum Annäherungen an Männlichkeitskonstruktionen.

Dramatisierungen der Differenzen erschweren durch die klare Unterscheidung der Geschlechter zum einen die Wahrnehmung der Differenzierungen innerhalb der Gendergruppen. Zum anderen erzwingen sie mindestens teilweise ein stereotypes doing gender durch die Schülerinnen und Schüler. Für Schüler kann dies widersprüchliche Anforderungen bedeuten: grob vereinfacht gesagt können sie sich entweder schulangemessen und damit unmännlich verhalten, oder sie verhalten sich gemäß den Anforderungen hegemonialer Männlichkeit, die wiederum mit den in der Schule gestellten Erwartungen nicht kompatibel ist. Für Mädchen heißt das vereinfacht, dass sie weder Zicke noch Barbie sein sollen.

Die Forderung nach Entdramatisierungen kann nun allerdings nicht bedeuten, zur vermeintlichen Geschlechtsneutralität zurück zu gehen. Auch wenn wir behaupten, keine Geschlechterunterschiede zu machen, alle gleich zu behandeln, sind wir sehr wohl in die alltäglichen doing gender Prozesse involviert. Auch auf diese Weise werden durchaus die „normalen“ Geschlechterbilder reproduziert. Pädagogisches Handeln wäre deshalb rückzubinden an Selbstreflexionen des eigenen doing gender. Solche Selbstreflexionen sind ohne Genderkompetenz also ein Wissen um die strukturellen Ungleichheiten, um sie stützende Geschlechterstereotype, um die institutionellen Reflexivitäten, die sich immer wieder selbst bestätigen nicht zu leisten. Deswegen ist eine Feldreflexion ebenso notwendig: d.h. die Frage danach, wie die Bedingungen sind, wo zeigen sich konkrete Benachteiligungen, bei Noten, bei der Fächerwahl, bei der Aufmerksamkeit.

Notwendig ist dafür ein Dreischritt. Zuerst Dramatisieren der Differenz, um die Bedeutung von Geschlecht konkret zu analysieren, in einem zweiten Schritt ausdifferenzieren, dass es nicht nur DIE Jungen und DIE Mädchen gibt, sondern eine Bandbreite von Heterogenitäten. Und zum dritten in der konkreten Interaktion stärker auf entdramatisierende Aspekte zu setzen.

Für den pädagogischen Umgang mit Mädchen halten wir vor allem den Verzicht auf
Protektionismus für wichtig, da dieser in den Aporien bisheriger Mädchenparteilichkeit verstrickt bleibt. Für den pädagogischen Umgang mit Jungen wäre es wichtig, Schule derart zu gestalten, dass Jungen in ihrer individuellen Suche jenseits von Defizitorientierungen oder Remaskulinisierungen unterstützt werden.

Dieses wird allerdings nicht funktionieren, wenn die tradierten Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit nicht ebenso hinterfragt werden wie die stereotypen Zuschreibungen. Die Schule sollte ein Ort der Erweiterung von Genderkompetenz für Jungen wie für Mädchen sein und ebenfalls für die dort tätigen professionellen Pädagoginnen. Gegen die bisherigen dramatisierenden Maßnahmen plädieren wir für eine deutlich stärkere Entdramatisierung. D.h. mehr Dramatisierung von Gender in den Köpfen und weniger Dramatisierung von Gender in den konkreten Interaktionen oder bei der Planung pädagogischer Interventionen.

Fußnoten:

(1) Das Material der stammt aus ethnographischen, d.h. qualitativ beobachtenden Studien. In der einen Studie haben wir drei Gymnasialklassen über drei Schuljahre, nämlich das 7. bis 9. bzw. das 8. bis 10. im Unterricht begleitet. Zusätzlich wurden Interviews mit mehreren Lehrkräften geführt. Eine dieser Klassen war mit Zweidrittel Jungen und einem Drittel Mädchen jungendominant, eine zweite mit dem umgekehrten Verhältnis mädchendominant, die dritte ausgewogen zusammengesetzt. In der anderen Studie begleiten wir den 5. Jahrgang an einem sich selber als geschlechtergerecht verstehendem Gymnasium.

Wir werden uns im Folgenden auf die Sicht der Lehrkräfte konzentrieren. Die Lehrkräfte haben einen erheblichen Anteil an der Ausgestaltung des schulischen Alltags. Sie prägen die Geschlechterrelationen an ihrer jeweiligen Schule mit, indem sie einen wichtigen Anteil an dem haben, was Helsper u.a. mit dem Begriff der Schulkultur beschrieben. Die konkrete Schulkultur wird dabei als Aushandlungsprozess verstanden

1. von Allen an der Schule Beteiligten, d.h. Lehrkräften, SchülerInnen, Schulleitung und Eltern

2. zwischen institutioneller und individueller Ebene.

Bei den Lehrkräften existieren grob vereinfacht drei unterschiedliche Positionen: die einen, die ihren Unterricht für genderfrei halten, deswegen aber nicht weniger Anteil an der Konstruktion geschlechtlicher Stereotype haben, wie wir aus der Koedukationsdebatte wissen. Zum zweiten diejenigen, die eine klare Vorstellung von der Differenz zwischen Jungen und Mädchen haben und diese routiniert in ihren Unterricht einfließen lassen. Und zum dritten diejenigen, die sich für Geschlechtergerechtigkeit in der Schule engagieren und dies hauptsächlich durch Dramatisierungen der Differenz tun.

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