Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

1. F-Klasse: Regeln zwischen Wohlfühlen und Drohung

Das erste Protokoll einer Videoaufnahme1 stammt aus der dritten KoKoKo Stunde2 in der F-Klasse, in der Frau Nitz mit den Kindern bespricht, wofür Regeln wichtig sind.

„„Frau Nitz (N): ,Was machen wir, damit sich alle wohlfühlen, hier in der Klasse miteinander, wohlfühlen, da haben wir schon angefangen, so ein paar Regeln zu erstellen […]. Warum sind denn Regeln wichtig?’
Schülerin: ,Ich möchte noch was fragen.’
N: ,Gleich. Was, warum glaubt ihr sind Regeln wichtig?’
Pia: ,Hab eine Frage zum Vertrag. Und was ist, wenn einer, wenn einer den Vertrag bricht?’
N: ,Das besprechen wir dann noch.’
Schülerin: ,Man muss die Regeln ja nicht unterschreiben.’“

Für die Lehrerin steht der Aspekt des „Wohlfühlens“ im Mittelpunkt, wie sie gleich zu Beginn betont. Die Verwendung des Wortes „wir“ unterstreicht die Perspektive der Gemeinsamkeit und suggeriert einen emotional positiv besetzten und gemeinsam angestrebten Raum, der durch die abzumachenden Regeln entstehen soll. Einige Schülerinnen weisen dieses Ansinnen allerdings subtil zurück, indem beispielsweise Pia danach fragt, was passiert, wenn die Regeln nicht eingehalten werden, oder jemand anderes äußert, dass die Regeln ja nicht unterschrieben werden müssten und damit im Sinne eines Vertrags nicht wirksam sind. Beide sprechen formale Aspekte an und unterbrechen auf diese Weise die emotionale Orientierung. Die Perspektive der Lehrerin und der Kinder erweisen sich so als gegensätzlich, die eine möchte Partizipation und emotionale Anteilnahme ermöglichen, die anderen entziehen sich dem durch Orientierung an Vertraglichkeit und Haftbarkeiten. Offener Widerspruch allerdings findet nicht statt, da die Kinder in diesem Falle den gemeinsamen Horizont des Wohlfühlens aufkündigen müssten und so riskieren, gegen die Intention von KoKoKo und gegen schulische Regeln gleichermaßen zu verstoßen. Dann geht das Unterrichtsgespräch weiter:

„N: ,Für mich ist die Frage wichtig… warum glaubt ihr, dass man Regeln braucht?’
Johanna: ,Zur Sicherheit.’
N: ,Zur Sicherheit.’
Johanna: ,Ja.’
N: ,Zu wessen Sicherheit?’
Mehrere: ,Zu unsrer eigenen.’
N: Genau. Regeln können einen schützen, wenn man weiß, da sind Grenzen und da kann man nichts tun. Weil das ist wie in einem Spiel, in einem Fußballspiel.’
Svenja: ,Grenzen. Zum Beispiel braucht man da Grenzen.’
N: ,Ja, dass man weiß, da ist stopp, da wird der andere verletzt.’
Kira: ,Zum Beispiel, wenn es Vorschrift ist, dass man…’
N: (klatscht zustimmend)
Kira: ,…in die Richtung mit’m Auto fährt.’
N: ,Genau.’
Kira: ,und nicht einfach in die andere fährt, weil dann ist man vielleicht ja tot.’
N: ,So ist es. Ja, das kann im Straßenverkehr manchmal tödlich ausgehen, gell.’ Schülerin: ,Was kann tödlich ausgehen?’
N: ,Wenn sich jemand nicht an die Verkehrsregeln hält. Und in der Klasse kann’s auch unangenehm werden, weil… wenn die Straßenregeln nicht eingehalten werden… Könnt ihr euch das vorstellen?’
Zwei Schülerinnen: ,Ja.’
Schülerin: ,Nein.’
N: ,Kannst du dir nicht vorstellen? Die Regeln werden wir noch genauer erarbeiten, aber die wichtigsten kennt ihr schon.’“

Durch die Frage, wofür „man“ Regeln braucht, verlagert die Lehrerin im weiteren Verlauf des Gesprächs ihr eigenes Interesse, Regeln erstellen zu wollen, in ein angenommenes Interesse der Kinder. Eingebettet in ein schulisches Frage- und Antwort Spiel zwischen Frau Nitz und mehreren Schülerinnen, beginnen diese nun Antworten auf die Fragen nach Regeln zu nennen und interpretieren den Auftrag damit als einen schulischen. Eine erste Nennung ist, dass Regeln den Lernenden Sicherheit bieten. Das von Kira dann gewählte Beispiel aus dem Straßenverkehr hat zwar für den schulischen Alltag keine Bedeutung, betont jedoch drastische Konsequenzen des Regelverstoßes: „weil dann ist man vielleicht ja tot“. Dieses dramatische Resultat eines Regelübertritts wird von der Lehrerin durch die Wiederholung herausgestrichen und (wenn auch abgeschwächt) in Beziehung zu den Klassenregeln gesetzt, das eigentlich intendierte Wohlfühlen durch gemeinsame Regeln wird so mit einer Drohung verknüpft. Gleichzeitig signalisiert Kira, dass sie den nur scheinbar partizipativen Kontext der Regelaushandlung akzeptiert, denn sie benennt keine Regeln, sondern „Vorschriften“, deren Spezifikum gerade nicht die soziale Aushandlung ist. Kira spielt das ,doppelte Spiel’ der Lehrerin mit, indem sie sich an dem lehrkraftzentrierten Unterrichtsgespräch beteiligt ohne die suggerierte Mitbestimmung tatsächlich einzufordern.
Die Frage der Lehrerin, ob die Kinder ihre Gedanken nachvollziehen können, wird von zwei Schülerinnen bejaht, immerhin eine namentlich nicht genannte Schülerin antwortet jedoch, dass sie dies nicht könne. Frau Nitz wiederholt dies zwar als Feststellung, greift den Einwand dann aber nicht weiter auf und verdeutlicht auf diese Weise, dass ihre Frage lediglich rhetorisch gemeint war. Anmerkungen der Kinder, die nicht in ihre Vorstellungen passen, werden von ihr nicht aufgegriffen.

„Kira: ,Ich hab jetzt noch ne Frage.’
N: ,Na, die werden wir auch gemeinsam…, ein paar haben wir schon gemeinsam erarbeitet. Aufzeigen, nicht herausschreien und so weiter. Wie wir miteinander so umgehen, dass sich alle wohlfühlen. Das Wohlfühlen glaub ich müssen wir so als große Überschrift über die ganze Klasse…, Wohlfühlen in der Klasse. Ja, wie man sich (klatscht) wohlfühlt, wird sich die Bettina vielleicht auch überlegen, ja? Wie man sich wohlfühlt, was alles dazugehört, ja, was man alles beachten und einhalten muss’.“

Kira möchte nun eine Frage stellen, sie kommt allerdings mit ihrem Ansinnen nicht zum Zuge, da die Lehrerin gerade mit der Ergebnissicherung befasst ist, indem sie zwei konkrete Regeln noch einmal für alle wiederholt, die sich ausschließlich auf den Unterricht beziehen („Aufzeigen“ meint hier „Melden“/„Rausschreien“), andere soziale Situationen werden nicht in gleicher Weise angesprochen. Anschließend unterstreicht Frau Nitz noch einmal die Relevanz des Themas „Wohlfühlen in der Klasse“ und versucht so wiederholt, Gemeinsamkeit herzustellen („Das Wohlfühlen glaub ich müssen wir…“). Der Appell an Gemeinsamkeit fungiert als wichtiges Medium, um Eigenverantwortlichkeit herzustellen. Dann jedoch verwendet sie das „Wohlfühlen“ als Disziplinierung gegen Bettina, die bereits latent mitschwingende Drohung wird manifest: „Ja, wie man sich (klatscht) wohlfühlt, wird sich die Bettina vielleicht auch überlegen, ja?“ Die Drohung wird hier expliziert und anschließend noch einmal an alle Schüler und Schülerinnen gerichtet, indem Frau Nitz auf die einschränkenden Folgen der Regeln fokussiert („was man alles beachten und einhalten muss“). So wird die Doppelbödigkeit von Schülerinnen und Schülerpartizipation deutlich, denn einerseits strebt die Lehrerin ein gemeinsam vereinbartes Wohlfühlen an, andererseits wird dieses von ihr normativ bestimmt – es gilt ihre Vorstellung von Wohlfühlen, die vor allem Einschränkungen betont. Zwar sollen sich alle wohlfühlen, gleichzeitig dominiert der schulische Rahmen, in dem das Nachdenken über „Wohlfühlaspekte“ zu einer Unterrichtsaufgabe oder gar zu einer Disziplinierung wird.
Zur weiteren Erarbeitung der Klassenregeln sollen die Kinder dann fünf Punkte notieren, die in KoKoKo passieren sollen und fünf, die nicht passieren sollen.

„Frau Nitz (N): ,Was in KoKoKo passieren soll und darf, was du gern hättest für KoKoKo und fünf, was hier in KoKoKo nicht sein soll.’ [Nachfragen zur Aufgabenstellung]
Rafaela: ,Was ich mir wünsche…?’
(N): ,Was hier passieren soll und fünf was ist nicht. Was gehört nicht in ‘KoKoKo-Unterricht.’ [Weitere Nachfragen zur Aufgabenstellung]
Kira: ,Kann man jetzt schreiben zum Beispiel Kooperation, Kommunikation, Konfliktlösung?’
N: ,Ja, aber wie genau stellst…, zum B’… einfach ein paar Punkte, was du dir genau vorstellst.
Kira: ,Äh, zum Beispiel soll das heißen, wir sprechen…’
N: ,Ja, genau. Probleme, Problem besprechen, ja.’“

Die Aufgabe, aufzuschreiben, was in KoKoKo passieren soll und was nicht, scheint vielen Kindern nicht leicht zu fallen. Rafaela greift den Impuls der Lehrerin auf, indem sie nachfragt, ob es um das gehe, „was ich mir wünsche“. Frau Nitz möchte jedoch keine Wünsche, denn ihr Statement: „Was gehört nicht in den KoKoKo Unterricht“ bestätigt das schulische Denken richtiger und falscher Antworten, den die Kinder in Bezug auf die Vertraglichkeit von Regeln bereits vorwegnehmend eingefordert hatten. Da die Regeln in erster Linie dazu dienen, eine ruhige Unterrichtsatmosphäre zu etablieren, ist die Lehrerin selbst indirekt daran beteiligt, den unterrichtlichen Rahmen zu betonen und den Geltungsbereich der Regeln (und damit die Partizipationsmöglichkeit) einzuschränken.
Auch Kira, die die ganze Stunde über engagiert beteiligt ist, weiß nicht so recht, was sie auf ihren Zettel notieren soll und fragt, ob sie einfach die Definition von KoKoKo abschreiben kann. Im Sinne schulischer Leistungserwartung wäre die Aufgabe damit zwar formal erfüllt, aber der Charakter der Partizipation außer Kraft gesetzt. Deswegen drängt Frau Nitz darauf, dass sie genauer beschreiben soll, was sie meint. Kiras weitere Nachfrage wird von Frau Nitz unterbrochen, die bestätigend meint, dass es um „Probleme“ gehen sollte, damit wird von der Lehrerin das Thema definiert, welches den Gegenhorizont zum Wohlfühlen bilden.
Im weiteren Verlauf der Stunde zeigt sich, dass die Schülerinnen und Schüler entweder vage Formulierungen wählen oder sich eng am schulischen Bezugsrahmen orientieren. Später brüsten sich manche damit, dass sie die Aufgabe übererfüllt und zehn Begriffe gefunden hätten, während andere davon gestresst sind, dass ihnen nichts einfällt und dies im schulischen Bewertungssystem als Negativleistung erscheint. Auch die Aufforderung, genau fünf Zettel zu beschriften, verstärkt den schulischen Charakter und verleiht der Partizipation damit den Charakter eines abzuarbeitenden Auftrags, ähnlich beispielsweise der Aufforderung, eine bestimmte Anzahl von Mathematikaufgaben zu lösen oder eine bestimmte Seitenanzahl Vokabeln zu lernen.
Kira und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler bemühen sich in dieser Sequenz, den gestellten Auftrag zu erfüllen, indem sie Antworten auf die Lehrerfrage nach schulischen Regeln suchen. Ein Bruch zur üblichen schulischen Praxis wird in diesem reformpädagogischen Unterricht nicht deutlich, vielmehr versuchen viele Kinder, den KoKoKo-Unterricht möglichst nah an den üblichen unterrichtlichen Praktiken zu handhaben und arbeiten durch ihre Beteiligung mittels doing student aktiv daran mit, der Lehrerin die Illusion zu geben, dass die Regeln gemeinsam erstellt werden. Die Symmetrie- und Machtantinomie kann nicht aufgelöst werden, die schulischen Akteure verbleiben auf den gewohnten Plätzen.

2. Fazit (Das Fazit knüpft neben dieser Falldarstellung noch an eine weitere Interpretation an, zu lesen unter Verlinkung von Fall 2)

Das Aufstellen von Klassenregeln ist mit der pädagogischen Hoffnung verbunden, ein gemeinsames und verbindliches Wertesystem in der Klasse zu etablieren und Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen. Schaut man allerdings auf die soziale Praxis, wie die Regeln zustande kommen, lassen sich jene Schwierigkeiten exemplarisch zeigen, die zu Beginn des Beitrags angesprochen wurden. Lässt man die Beispielpassagen Revue passieren, zeigt sich als Grundmuster, dass die Lernenden auf die begrenzten Partizipationsmöglichkeiten seitens der Lehrkräfte mit verschiedensten Spielarten von doing student Praktiken antworten. Die durch lehrerliche Autorität legitimierte und zugleich geforderte kontrollierte Selbststeuerung lässt Partizipation als zu bewältigende Unterrichtsaufgabe erscheinen. Für die beteiligten Lehrkräfte ergibt sich der Widerspruch, zwar einerseits Offenheit anzubieten und zu riskieren, dass unliebsame Regelvorschläge und Moralvorstellungen entstehen können, andererseits aber faktisch vor allem ihre eigenen Regeln des sozialen Umgangs durchzusetzen.
Was sich hier abzeichnet, ist ein systemisches Problem. Zieht man zusätzlich die eingangs erwähnten Ergebnisse weiterer Studien heran, kann als Zwischenfazit für den Stand der schulischen Partizipationsforschung festgehalten werden, dass die Symmetrie- und Machtantinomie zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern maßgeblich dazu beiträgt, dass die verordnete Mitbestimmung regelmäßig Momente der Brechung beinhaltet. So verweisen die unterschiedlichen Blickwinkel von Lehrkräften und Lernenden auf die Grenzen von Partizipation. Die hierarchische Struktur relativiert die Chancen auf Mitbestimmung, z.B. eigene Vorstellungen von einem Regelwerk einzubringen, die sich nicht mit den Vorstellungen der Lehrkraft decken. Dementsprechend bestätigt sich, dass die Aushandlungen tatsächlich nicht ergebnisoffen sind, die Partizipationsmöglichkeiten sind von vornherein eingeschränkt. Zusätzlich folgt die Erstellung von Klassenregeln häufig dem herkömmlichen Schema des lehrkraftzentrierten Unterrichtsgesprächs, welches den Effekt, dass die Lernenden ein ähnliches Verhalten zeigen wie auch im Fachunterricht, noch verstärkt.
Und in der Tat, schaut man auf die Reaktionen der Schülerinnen und Schüler, dann wird deutlich, dass diese in unterschiedlicher Weise agieren: aktiv, im Sinne sozialer Erwünschtheit, ironisierend, oppositionell, ablenkend etc.; das Muster ist hier nicht einheitlich. Auffällig ist jedoch, dass in vielen Fällen die Schülerinnen und Schüler einen anderen Blickwinkel auf das soziale und demokratische Lernen haben als erstens die Lehrkräfte selber und zweitens auch einen anderen, als die Lehrkräfte sich für die Kinder erhoffen. Ihr doing student erweist sich als kompetente Praxis, mit der sie die widersprüchliche Erwartungshaltung der Lehrkräfte im KoKoKo-Unterricht erfüllen. Die Kinder fallen nicht aus der Rolle, sondern ermöglichen den Lehrkräften, den Glauben an ihre Partizipationsangebote aufrecht zu erhalten. Wenn auch dem Anspruch nach alternativ, bleibt KoKoKo von Anfang an dem üblichen Setting „Unterricht“ verhaftet. Unter einer gouvernementalitätskritischen Perspektive kann die Regelaushandlung auch als kontrollierte und kontrollierende Aufforderung zur Partizipation und in dieser Weise als Machtechnik verstanden werden, um die Kinder zu einer eigenen Mitarbeit an Regeln zu gewinnen, in denen sie nicht als Gleichberechtigte auftauchen, sondern gemäß ihrer schulischen Position als Lernende mit eingeschränktem Mitspracherecht. Die Regelaushandlungen als Bestandteil von Demokratie-Lernen übergibt den Schülerinnen und Schülern einen Teil der Verantwortung und damit die Aufforderung zur Selbststeuerung und wirkt somit als eine Regierungstechnik des Selbst (vgl. Bröckling/Lemke/Krasmann 2000). Geht es um soziale und demokratische Kompetenzen, verschiebt sich also der Widerspruch zwischen Heteronomie und Autonomie, denn die Heteronomie wird in den Verantwortlichkeitsbereich der Lernenden verlagert. Die problematischen Brechungen resultieren somit daraus, dass die Eigenverantwortlichkeit als Selbststeuerung von den Schülerinnen und Schülern eine hohe (Selbst)Disziplin erwartet. In diesem Sinne werden die gemeinsamen Regeln nachgerade zu einem Disziplinierungsinstrument, da widerspenstige Schülerinnen und Schüler nicht nur gegen die schulische Ordnung, sondern auch gegen die postulierte Gemeinsamkeit („Wir“) und ebenfalls gegen ihnen unterstellten eigenen Interessen („Wohlfühlen“) verstoßen.
Unter dieser Perspektive erweist sich weiter, dass sozialkompetenzorientierte und demokratiepädagogische Projekte und Maßnahmen nicht unbedingt das „positive“, ermöglichende und alternativ-reformpädagogische Gegenteil vom traditionellen und frontalen Fachunterricht sind (vgl. Rabenstein 2007). Die oft hochgehaltene Trennung, nach der sich soziale und fachliche Dimension in der Schule unterscheiden (vgl. z.B. Graumann 2002) wird in Zeiten zunehmender Selbststeuerung tendenziell obsolet. Denn auch unterrichtliche Elemente wie Portfolios, selbstreguliertes Lernen oder Projektunterricht zielen in ihrem Kern ja auf dasselbe Motiv, nämlich auf die Abgabe von Verantwortung an die Lernenden unter Beibehaltung von Kontrolle der Lehrkräfte (vgl. z.B. Häcker 2007; Münte-Goussar 2007). Da die Eigenverantwortlichkeit verordnet ist, besteht die Gefahr, dass der ihr innewohnende Subjektivitätsgrad gering ist. Die zunehmende verordnete Selbstverantwortung im sozialen und demokratischen Lernen sowie im Fachunterricht ist somit auch ein Spiegelbild des Wandels gesellschaftlicher Anforderungen. Nicht nur reformerische Vorstellungen eines selbstbestimmten Lernens, sondern auch das Leitbild des „Unternehmers des Selbst“ steht im Hintergrund Pate. Dadurch erklärt sich auch der hohe Stellenwert, den die gezeigten doing student Praktiken haben können. So wie der Grad zwischen „Dienst nach Vorschrift“ und „Bummelstreik“ ein schmaler ist, so loten einige Schülerinnen und Schüler mit ihren Praktiken den Freiraum aus, der ihnen angesichts der kontrollierten Abgabe von Eigenverantwortlichkeit bleibt, nämlich genau das Unterlaufen der erwarteten Partizipation.
Gerade die Engbindung von KoKoKo an den schulischen Rahmen wird zum Verhängnis, die begrüßenswerten Bemühungen um soziale Regeln von Frau Nitz und Frau Kollwitz könnten in einem anderen Kontext sicherlich effektiver sein. Perspektiven lägen darin, tatsächliche Partizipationsmöglichkeiten einzuräumen und soziales und demokratisches Lernen nicht überwiegend in Simulationen stattfinden zu lassen. Eine Abhilfe könnte hier darin liegen, Methoden aus dem sozialen Lernen konsequent und mit deutlich wahrnehmbarem Bruch zum traditionellen Unterricht einzusetzen, beispielsweise, in dem ein außerschulischer Lernort gewählt wird. Eine andere Möglichkeit ist, mit den Kindern dann Regeln zu erstellen, wenn sich im Alltag die Notwendigkeit ergibt (bspw. bei auftretenden Konflikten) und so den direkten Bezug zu sozialen Situationen zu nutzen. Aufgrund der institutionellen Erwartungen der Schule ist aber auch zu überlegen, inwieweit eine stärkere Forderung an die Lehrkräfte, auch Sozial- und Demokratiekompetenz zu vermitteln, nicht auch eine systemische Überforderung beinhalten kann und hier Kooperationen mit Trägern der außerschulischen Jugendarbeit, die nicht den institutionellen Zwängen der Schule unterliegen, für Kinder wie Lehrkräfte gleichermaßen gewinnbringender ist. Die Lehrkräfte könnten sich stärker darauf konzentrieren, Mitbestimmung dort zu realisieren, wo es naheliegt, nämlich bei der Gestaltung ihres Unterrichts an jenen Punkten, an denen es aus fachlicher und didaktischer Sicht sinnvoll ist; die Projektmethode ist dafür sicherlich eine sinnvolle Methode. Demokratie-Lernen wäre dann kein Extra-Angebot mehr, sondern elementarer Bestandteil der Schulkultur.

Fußnoten:

(1) In dem DFG-Forschungsprojekt „Chancen und Blockaden bei der Realisierung einer geschlechtergerechten Schule“ wurden vier fünfte Klassen in ihrem ersten Jahr an dem für sie neuen Gymnasium „Zimmerbreite“ in einer österreichischen Großstadt drei Monate lang mit ethnographischen Methoden begleitet (im September, im Januar und im Juni) (vgl. Lüders 2003). Alle Klassen wiesen einen höheren Mädchenanteil auf. Beobachtungen wurden vor allem in Deutsch, textilem und technischem Werken, dem schulspezifischen Fach KoKoKo sowie teilweise in Mathematik, Englisch, Sport und Religion durchgeführt.

(2) Engagement im Bereich Partizipation und Mitbestimmung ist ein wichtiger Teil der Schulkultur der „Zimmerbreite“. Dabei stellt der KoKoKo-Unterricht einen wesentlichen Baustein des sozialkompetenzorientierten und demokratiepädagogischen Konzepts dar. KoKoKo steht für Kooperation, Kommunikation und Konfliktlösung und ähnelt dem Klassenrat. Ein wichtiges Anliegen des KoKoKo-Unterrichts ist es, die Kinder an der Gestaltung der Schule zu beteiligen, indem mit ihnen gemeinsam Konflikte bearbeitet, Klassensprecher und -sprecherinnen gewählt oder Feedbackregeln geübt werden. KoKoKo wird jeweils von den Deutschlehrkräften unterrichtet und benotet, was von vielen Lehrkräften als positiv herausgestellt wird, da dies den ernsthaften Charakter unterstreiche.

(3) F050926KKVideoprotokoll (F gibt die Klasse an, aus der Protokoll stammt, die Zahlenkombination das Datum [hier 26.09.05], KK steht für KoKoKo, der letzte Zusatz bezeichnet Art des Protokolls, Videoprotokoll steht für Transkript eines Videomitschnittes.

Literatur:

Bröckling, U./Lemke, Th./Krasmann, S. (Hrsg.) (2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Graumann, O. (2002): Gemeinsamer Unterricht in heterogenen Gruppen. Von lernbehindert bis hochbegabt. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Häcker, T. (2007): Portfolio, ein Entwicklungsinstrument für selbstbestimmtes Lernen. Hohengehren: Schneider.

Münte-Goussar, S. (2007): eLearning 2.0. Selbststeuerung mit Social Software. In: kulturrevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie, 53, H. 2, S. 49-57.

Rabenstein, K. (2007): Das Leitbild des selbstständigen Schülers. Machtpraktiken und Subjektivierungsweisen in der pädagogischen Reformsemantik. In: Rabenstein, K./Reh, S. (Hrsg.): Kooperatives und selbstständiges Arbeiten von Schülern. Zur Qualitätsentwicklung von Unterricht. Wiesbaden: VS, S. 39-60.

 

Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift für Pädagogik.
http://www.beltz.de/de/nc/paedagogik/zeitschriften/zeitschrift-fuer-paedagogik.html

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