Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten (Ausschnitt)
Beispiel 1: Unproblematische Hilfesequenz
Lennard (4. Schulbesuchsjahr: 4. SBJ) und Niklas: (3. SBJ) sitzen an einer Tischgruppe. Lennard bietet Niklas Hilfe an und fragt:
„Soll ich helfen? Was verstehst du noch nicht?“
Es geht um eine Sachaufgabe in Mathematik, in der das Gewicht der Katze Felix errechnet werden soll.
Lennard: „Überleg mal, er stellt sich auf die Waage. Was ist der Unterschied zwischen 32 und 35 kg?“
Niklas: „3 kg.“
Lennard: „Also, musst du rechnen 35 kg – 3 kg und 500 g.“
Niklas: „Ist 32 kg und 500 g.“
Lennard: „Kannst du hinschreiben. Felix wiegt 3 kg und 500 g. Aber es gibt keine Katzen, die so leicht sind. Vielleicht eher 6 kg.“
Niklas schreibt.
Lennard: „Wenn du mit Komma schreibst, dann 3,5 kg.“
Niklas: „3,5 kg?“
Lennard: „Ja. So, und jetzt kommst du alleine zurecht, wa? Sagst du mir, wenn du wieder Hilfe brauchst.“
(5. UH, PB, WA, Z 75-87)1
Diese Unterrichtssequenz betrachteten wir als unproblematisch, da sie gegenseitiges Einvernehmen vermittelt, indem sich Lennard auf Niklas Belange einlässt. Mit der Frage, was Niklas noch nicht könne, wird deutlich, dass sich Niklas in einem Lernprozess befindet. Lennard lässt Niklas selbst entscheiden, ob er seine Hilfe will. Niklas stimmt zu und Lennard nimmt sich Zeit, um Niklas die Aufgabe zu erklären. Er traut Niklas aber auch zu, selbstständig weiter arbeiten zu können. Gleichzeitig stellt er sich weiterhin als Helfer zur Verfügung. Demgegenüber betrachteten wir den nachstehenden Protokollausschnitt als eher problematisch, da Alia ihre Hilfe regelrecht aufdrängt und ein gegenseitiges Einvernehmen in diesem Moment nicht zu erkennen ist.
Beispiel 2: Problematische Hilfesequenz
Alia (3. SBJ) sitzt an einem Gruppentisch neben Hakan (LSBJ).
Hakan arbeitet an einem Arbeitsbogen in Mathematik, bei dem es darum geht, eine Zahlenreihe fortzuführen, indem die entsprechenden Ziffern in ein Kästchen einzutragen sind. Alia ist mit Malen beschäftigt.
Alia zu Hakan: „Zeig.“
Hakan: „Ah, geh mal. Ich muss nur noch die machen, die zwei.“
Alia: „Ein, eine 11.“
Hakan: „Ich kann das machen, aber du willst.“
Alia zählt mit den Fingern für Hakan vor.
Hakan: „Ich muss radieren.“
Alia: „Nein, das ist richtig!“
Sie zieht Hakan seinen Bleistift weg und trägt in die nächste Lücke die Zahl 13 ein. Hakan wollte die Zahl selbst schreiben, aber Alia hat ihm seinen Bleistift aus der Handgerissen,
Hakan: „Ich bin froh, dass ich das habe.“
Er bringt sein Heft zur Ablage.
Alia malt weiter.
(1. UH, NK, WA, Z 35-52)
Als problematisch interpretierten wir diese Hilfeszene. Alias Aufforderung an Hakan, ihr seine Aufgabe zu zeigen, lehnt er ab und verweist darauf, dass er nur noch zwei Aufgaben machen müsse. Alia sagt dennoch Hakan unaufgefordert das Ergebnis vor, wogegen sich Hakan wiederum versucht zu wehren. Alia setzt die unerwünschte Hilfestellung fort, indem sie Hakan vorzählt und seine Aufgabe kontrolliert. Die Hilfeszene spitzt sich zu, als Alia Hakan fast gewaltsam den Stift aus der Hand nimmt und seine Aufgabe erledigt. Erstaunlich könnte zunächst erscheinen, dass sich Hakan positiv darüber äußert, dass er fertig ist, obwohl er seine Aufgaben nicht selbst beenden durfte. Andererseits könnte seine Bemerkung auch in dem Sinne ausgelegt werden, dass Hakan froh darüber ist, nicht mehr bedrängt zu werden.
Beispiel 3: Verlauf: unproblematisch – problematisch – unproblematisch
Luise (3. SBJ) sitzt an einem Gruppentisch neben Laura (1. SBJ) und gegenüber von Timo (2. SBJ) und Sven (2. SBJ). Timo bearbeitet einen Arbeitsbogen in Deutsch. Es geht darum, Buchstaben verschiedenen Bildern zuzuordnen. Sven ist ebenfalls mit einem Arbeitsbogen beschäftigt, Luise bearbeitet ein Stickbild.
Timo: „Hier steht Ast.“
Sven schaut auf Timos Blatt und sagt: „Baum, nein, Ast.“
Luise: „Ey, das ist ein Ast.“
Sven: „Aber guck mal hier, ABCDEF…Z.“
Er sagt das Alphabet vollständig auf.
Luise: „Doof, das ist’n Ast.“
Timo: „Warum ist hier zweimal? Du bist doch dumm.“
(Was er konkret meint, wird in diesem Moment nicht deutlich.)
Sven: „Weil du Ast und nicht Äste schreiben sollst, da ist nämlich einer und
nicht viele. Von wegen ich bin dumm.“
Timo: „Laura, was machst du?“
Sven: „Komm, Timo, wir machen.“ Luise fädelt einen neuen Faden ein und stickt.
Timo: „Ich hab schon Auge gefunden. Ich mach.“
Sven schreibt weiter.
Timo: „Nein, viel zu groß.“
Luise stickt an ihrem Stickbild weiter.
Timo: „Wie weit bist du, was machst du, groß?“
Er meint ihr Stickbild.
Luise: „Ja.“
Diese Sequenz wurde zunächst als unproblematisch betrachtet, da Timo mit seiner Aussage Sven indirekt dazu auffordert, ihn zu bestätigen. Sven reagiert darauf und bestätigt ihn. Durch Luises ungebetenen Kommentar, der als eher abfällig bewertet werden kann, beginnt die Szene problematisch zu werden. Dies wird durch Luises „doof‘ verstärkt, worauf sich Timo abwertend gegenüber Sven verhält, indem er ihn als „dumm“ bezeichnet. Sven argumentiert und weist die Beschimpfung von sich. Daraufhin nimmt Timo Kontakt zu Laura auf, die sich nicht geäußert hat. Sven holt Timo sozusagen zurück, indem er ihn mit einem „wir machen“ ermuntert. Dadurch wird in dieser Hilfeszene das Problematische überwunden, da sich die Kinder wieder ohne Streitigkeiten miteinander austauschen.
Folgende Tabelle gibt eine Übersicht über das Verhältnis unproblematischer und problematischer Hilfeszenen sowie über Formen, in denen beides vorhanden ist. Die Auswertung ist nach den Beobachtungsjahren angeordnet. Im ersten Beobachtungsjahr wurden Kinder des dritten Schulbesuchsjahres in Interaktion mit anderen Kindern fokussiert, im zweiten Beobachtungsjahr befanden sich die Zielkinder im vierten Schulbesuchsjahr. Um die unterschiedliche Anzahl der ausgewerteten Hilfeszenen in beiden Jahren vergleichbar zu machen, wurden Prozentwerte ermittelt. Dabei handelt es sich nicht um verallgemeinerbare Daten, sondern um einen Beleg unserer Beobachtungen.
Tab. 1: Übersicht über das Verhältnis unproblematischer und problematischer Hilfeszenen
Die unproblematischen Hilfestellungen überwogen in einem hohen Maß. Sie kamen dadurch zustande, dass Hilfe angeboten wurde oder um Hilfe gebeten wurde. Hier entstanden kaum problematische Situationen und Hilfe wurde fast immer gewährt. Problematische Hilfestellungen fallen dagegen kaum ins Gewicht bzw. sind eher als Einzelfälle zu betrachten. Sie entwickelten sich mehrheitlich dann als problematisch, wenn Hilfe ungebeten erteilt wurde. Das bedeutet, dass es den Kindern wichtig zu sein scheint, selbst zu bekunden, ob sie Hilfe benötigen bzw. annehmen wollen.
Einen größeren Anteil als die problematischen Hilfeszenen nehmen Hilfesequenzen ein, die beides beinhalten. Das heißt, dass die Hilfen eher mit einzelnen Irritationen verlaufen, als gänzlich problematisch zu sein. Unser Ergebnis stimmt mit den Befunden von Kauke und Auhagen (1996) und Zomemann (1998) überein, denen zufolge Hilfen überwiegend selbstverständlich, bereitwillig und fürsorglich gegeben wurden, während Oswald und Krappmann (1988) in ihrer Untersuchung zu dem Schluss kamen, dass viele Hilfesequenzen problematisch verlaufen. Unsere Befunde könnten zum einen darauf zurückzuführen sein, dass unsere Studie während des Wochenplanunterrichts durchgeführt wurde, in dem gegenseitiges Helfen ausdrücklich erwünscht ist bzw. zur Unterrichtskultur gehört. Zum anderen sind die Ergebnisse im Zusammenhang mit den Studien Lagings zu betrachten, der die überwiegend konfliktfrei gestalteten Hilfeinteraktionen auf das altersbedingte Rollenverständnis der Kinder zurückführt, das weniger von Konkurrenz geprägt ist (vgl. Laging 1995).
Wie sich die verschiedenen Hilfestellungen auf die einzelnen Kindergruppen (altershomogen vs. altersgemischt, Mädchen vs. Jungen) verteilen, wird im folgenden Kapitel betrachtet.
Hilfeprozesse: Verteilung hinsichtlich des Alters und Geschlechts
Aufbauend auf die oben dargestellten Forschungsergebnisse ist von Interesse, in welchen Gruppierungen sich die Kinder hinsichtlich des Alters und Geschlechts helfen. Die Ergebnisse dazu werden in der folgenden Tabelle belegt.
Tab. 2: Übersicht über Hilfeszenen nach Personengruppen
Die Ergebnisse zeigen, dass in den beobachteten jahrgangsgemischten Gruppen beide Möglichkeiten des gegenseitigen Helfens – altersgemischt und altershomogen – ausgeschöpft werden. Das Helfen wird überwiegend von älteren Kindern übernommen. Diese Beobachtungen stimmen mit den Befunden von Matz und Knauf (2003) überein, die belegen, dass sich vor allem jüngere Kinder häufig an Älteren orientieren.
Zwischen dem Hilfeverhalten von Mädchen und Jungen können wir keine Unterschiede feststellen. Gleichwohl war zu beobachten, dass sich die Kinder eher in gleichgeschlechtlichen Konstellationen helfen als gemischtgeschlechtlich. Dies stimmt mit Untersuchungen überein, aus denen hervorgeht, dass Kinder in der Zeitspanne vom Schuleintrittsalter bis zur Pubertät überwiegend mit Kindern gleichen Geschlechts befreundet sind und geschlechtshomogene Interaktionszusammenhänge bevorzugen (vgl. Hibbard & Buhrmester 1998; Maccoby 1990).
Literatur:
Hibbard, D. R. & Buhrmester, D. (1998): The rote of peers in the socialization of gender-related social interaction styles. In: Sex Roles, 39, 185-202.
Kauke, M. & Auhagen, A. E. (1996): Wenn Kinder Kindern helfen – Eine Beobachtungsstudie prosozialen Verhaltens. In: Zeitschrift für Sozialpsychologie, 27, H.3, 224-241.
Maccoby, E. (1990): Gender and relationships: a developmemtal account. In: American Psychologist, 45, 513-520.
Zornemann, P. (1998): Hilfe und Unterstützung im Kinderalltag. Eine qualitative Untersuchung von Interaktionen unter Gleichaltrigen anhand von videographierten Beobachtungen in einer Grundschulklasse. Unter: http://www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISSthesis000000000113 [abgerufen am 12.05.06].
Fußnoten:
1) Das Kürzel unter dem Protokollausschnitt enthält folgende Angaben: Zeitpunkt der Unterrichtshospitation, Lage der Schule, Name der Unterrichtsbeobachterin und ausgewählte Zeilen des Unterrichtsprotokolls.
Mit freundlicher Genehmigung des Klinkhardt Verlages
http://www.klinkhardt.de/verlagsprogramm/5109.html
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